
Vier Stockwerke. Nicht schlecht, Herr Specht. Alles voll mit Zeichnungen. Wer soll das alles ansehen? Sieht ja schlimmer aus als die Zettelwirtschaft von James Joyce! Das soll schon was heißen. Na ja, alles kann, nix muss ...
Ungefähr so würde es klingen, wenn Raymond Pettibon einen Bericht über diese Ausstellung schreiben würde, die uns Europäer tatsächlich an wilde Zeiten erinnert, an die Zeiten Duchamps und der Dadaisten, vielleicht auch an Fluxus und Happening, als es darum ging, die Räume der klassisch-bürgerlichen Ausstellungskultur zu sprengen. Dabei ist Raymond Pettibon im Vergleich ein überaus kontrollierter Herr, der in seinem Werk nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlässt, auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag. Ja, gerade gegen Ende der Schau, also im obersten Stockwerk, verdichten sich seine Zeichnungen und Zeichenstile so sehr, dass man kaum mit dem Blick hinterherkommt. Denn neben der figürlichen Brillanz seiner comicartigen Szenerien, collagiert er alle möglichen Textbausteine, politischen, sexuellen und persönlichen Anspielungen mit hinein.
Sarkastische Porträts von US-Präsidenten
Das ist der Raymond Pettibon, wie man ihn in Europa auf der documenta 2002 oder fünf Jahre später auf der Biennale von Venedig gesehen hat. Auf einem Blatt, auf dem es vermutlich um die sexuelle Bigotterie Nordamerikas geht, sind die breiten Schenkel einer Frau zu sehen, auf deren Unterwäsche man unter ihrem hochgezogenen Rock sehen kann. Nolens volens ein frontal voyeuristischer Blick, während man zugleich zwischen den Beinen eine stillende Muttergottes erblickt, und rundherum um diese Szenerie Andeutungen der Kunst- und Kirchengeschichte: eine gotische Kathedrale, eine Büßerfigur, ein Torso Michelangelos und viele, viele Textzitate. Nebenan wird es noch wilder, finstere Szenen aus der Kino- und Alltagswelt, die sich scheinbar um Sex und Gewalt hinter der Fassade des bürgerlichen Milieus drehen. "Scheinbar" deshalb, weil man nie genau weiß, welche Botschaft genau gemeint ist, ob es überhaupt eine gibt. Eher selten geht es bei Pettibon so vermeintlich eindeutig zu wie auf seinen Folterszenen, die auf den letzten Irakkrieg und die Foltergefängnisse der US-Army bezugnehmen, oder die sarkastischen Porträts von US-Präsidenten von Johnson bis George W. Bush.
Die Anfänge Pettibons sind dagegen hierzulande vermutlich weit weniger bekannt, und hier leistet die Ausstellung Bedeutsames. Im faustdicken Katalog erscheint ein vollständiger Reprint von Pettibons ersten Zeitschriftenprojekt "Captive Chains" von 1978, als er als Wirtschaftsstudent an der University of California in Los Angeles eingeschrieben war. Schon hier ist genau das Prinzip zu beobachten, das die Stärke seines Werkes ausmacht. Während kommerzielle Comics oder Graphic Novels immer auf eine gegenseitige Unterstützung von Bild und Text abzielen, arbeitet Pettibon am exakten Gegenteil. Text und Bild stellen einander infrage, fallen gleichsam auseinander und öffnen sich dabei zugleich für lauter neue Einzelbeobachtungen. Sie überlassen es dem Betrachter, was er sich ansieht, und worauf er sich konzentriert. Die Anwendung von Beispielen aus der medialen Massenkultur ist nur eine Tarnung, ein Lockstoff, um gerade die kommerzielle Ästhetik zu demontieren, sie als das zu überführen, was sie ist: Entmündigung des Betrachters in wahrhaft mittelalterlicher Dimension.
Einblicke in seine beeindruckende Größe
Dieses so früh entwickelte Prinzip seines Werkes entwickelt Pettibon sukzessiv weiter. Die Ausstellung macht diesen Weg nachvollziehbar über seine verschiedenen Stationen: Pettibons Abwendung von der Punkmusik etwa, deren Szene er gemeinsam mit seinem Künstlerfreund Mike Kelley früh angehörte und von der er sich schließlich distanzierte, weil sie ebenfalls kommerziell geworden war: Weiter über die allmähliche Verdichtung seines Zeichenstils, die Einführung von Themen, Figuren und Sujets, die ihm nach und nach wichtig wurden: Die männliche Erektion als Machtsymbol, der Krieg, Eisenbahnen, fiktive Figuren, soziökonomisch marginalisierte, abnorme Charaktere, die das Leben im spätkapitalistischen Kultur-Elend repräsentieren. Auch wenn dieses Werk seinem Wesen nach labyrinthisch und undurchdringlich ist – dieser Versuch, es durch eine gewisse Ordnung für den europäischen Betrachter ein wenig aufzuschließen und vor allem Einblicke in seine beeindruckende Größe zu geben, war das Wagnis wert.