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Ausstellung in Mailand
Die Mutter in der Kunst

Unter dem Titel "Die große Mutter" werden in Mailand künstlerische Darstellungen weiblicher Genitalien, erdrosselter Kinder und Foltermaschinen gezeigt. Die Ausstellung beschäftigt sich mit der Mutterschaft in der Kunst – und lohnt sich.

Von Henning Klüver | 29.08.2015
    Porträt von Sigmund Freud (1856 - 1939)
    Der Psychologe Sigmund Freud (1856-1939): Er beschäftigte sich intensiv mit der Rolle der Kinder zur Mutter - und spielt auch in der Ausstellung in Mailand eine Rolle. (imago)
    Die Ausstellung beginnt mit einer riesigen, kreisförmigen Arbeit. Ein zusammengeflicktes Tuch, drei Meter im Durchmesser, aus roten Stoffen, Fasern und Fetzen, das an der Decke aufgehängt ist. Das Werk der Polin Magdalena Abakanowicz aus dem Jahr 1973 will die weiblichen Genitalien symbolisieren. "La Grande Madre – Die große Mutter", das wird bereits im Zugang deutlich, ist keine Ausstellung, die sich dem Bild einer fröhlichen Mutterschaft im 20. Jahrhundert widmet. Etwas weiter stößt man auf ein Aquarell von Meret Oppenheim. Eine frühe Arbeit von 1931 unter dem Titel "Votivbild – Würgeengel". Es zeigt eine blonde Frau, die ein erdrosseltes Kind in ihren Armen hält. Und ein eigener Raum ist Louise Bourgeois gewidmet, die sich die Ermordung ihres Vaters erträumte und zugleich in ihren Stoff-Skulpturen die Geschlechter androgyn mischte. Massimiliano Gioni, der in New York lebt und vor zwei Jahren die Kunstbiennale in Venedig ausgerichtet hatte, hat diese Mailänder Ausstellung kuratiert. Er konnte aus familiären Gründen nicht rechtzeitig zur Eröffnung kommen und war nur telefonisch zu erreichen:
    "Die Ausstellung erzählt den Zusammenstoß zwischen der Emanzipation der Frau und ihrer traditionellen Rolle. Sie legt die Beziehung offen zwischen der Macht der Frauen, Leben zu schenken, und der gesellschaftlichen Macht, die den Frauen verweigert wurde. Bis sich einige von ihnen in den feministischen Kämpfen des 20. Jahrhunderts diese Macht erobern konnten."
    Diese Wechselbeziehungen reichen von der Bewegung der Mütter der Plaza de Majo bis zum männlich geprägten Bild der Frau als ewiges Kind oder auch femme fatale etwa bei Surrealisten wie Dalì oder Max Ernst. Von der Vergöttlichung als Venus zum Beispiel bei Jeff Koons bis zu Frauenrechtlerinnen wie Barbara Kruger oder Yoko Ono. Und zu den sogenannten "Junggesellenmaschinen", das sind erotisch aufgeladene Foltergeräte wie sie auch in Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie" auftauchen. Die Maschine schreibt mit den Nadeln den Strafbestand des Verurteilten immer tiefer in seinen Rücken bis dieser elendig stirbt. Zu sehen ist eine Nachbildung, die für eine Ausstellung von Harald Szeemann 1970 hergestellt wurde. Und man wird sofort an den Film des ermordeten niederländischen Regisseurs Theo van Gogh erinnert, der vom Islam unterdrückte Frauen zeigte, denen Verse des Korans in den Rücken tätowiert wurden.
    Vielfalt als Problem der Ausstellung
    "In einem gewissen Sinne habe ich bei dem Aufbau der Ausstellung entdeckt, dass die Darstellung der Mutterschaft im 20. Jahrhundert sich mit der Geschichte des Jahrhunderts überschneidet. Das heißt, wenn man von Mutterschaft redet, muss man auch von den Vätern reden, von den Herren und von den Staaten. Von der Propaganda der totalitären Staaten etwa, die eine geburtenfreudige Ideologie verbreiten und das Bild der heilen Familie zeichnen."
    Das Problem dieser Ausstellung ist vielleicht ihr Reichtum. Sie birgt in 29 Sälen eine Fülle von Themen, von persönlichen Geschichten, Schicksalen, aber ebenso von Formen, von Stilen und von künstlerischen Materialien – eine Fülle auch von Namen, die verwirren kann. Niki de Saint Phalle oder Katharina Fritsch, Pawel Althamer oder Thomas Schütte, Virginia Woolf oder Dora Maar. Ausgehend von den psychotherapeutischen Studien Sigmund Freuds oder Carl Gustav Jungs geht es auch um die femininen Gestaltungen des Unterbewusstseins. Und die Jung-Schülerin Olga Fröbe-Kapteyn hatte bereits in den 1930er Jahren ein ikonographisches Archiv mit Abbildungen von weiblichen Schöpfergottheiten angelegt und Teile daraus unter dem Titel "Die große Mutter" ausgestellt.
    Am Ende steht die Fotoarbeit der britischen Künstlerin Gillian Wearing aus dem Jahr 2003. Sie hat sich mit einer Maske aus Wachs und entsprechenden Kleidungsstücken in ein frühes Abbild ihrer Mutter verwandelt. Dieses "Selbstporträt wie meine Mutter" steht für Suche nach Identität und zugleich für den uralten Traum, sich gleichsam in der Schöpferin allen Lebens aufzulösen. Auch das ist ein Thema, das in der Kunst des 20. Jahrhunderts immer wieder auftaucht. Wearings anrührendes Foto haben die Kuratoren zur Ikone ihrer Mailänder Schau "La Grande Madre" gewählt, die zu den spannendsten Ausstellungen gehört, die man in diesem Spätsommer in Italien sehen kann.