Doris Schäfer-Noske: "Du siehst aus wie gephotoshopt", sagt eine junge Frau, als sich ihr Verehrer das Hemd auszieht, eine Szene aus der Kinokomödie "Crazy stupid love". Fotografien haben eben heute längst ihre dokumentarische Unschuld verloren. Andererseits sagt auch keiner mehr, dass Fotografie keine Kunst sei, oder dass Fotografie der Malerei den Todesstoß versetzt habe. Der Fotografie des gesamten 20. Jahrhunderts und dem Wechselspiel zwischen Malerei und Fotografie hat das Sprengel Museum in Hannover im Jahr 2000 eine große Ausstellung gewidmet. "How you look at it" war damals der Titel. Nun steht die Fotografie ab den 60er-Jahren dort im Zentrum, und zwar schwerpunktmäßig die dokumentarische Fotografie. - Christiane Vielhaber, welche Motive sind denn da zu sehen? Also was wurde dokumentiert?
Christiane Vielhaber: Nehmen wir gleich zum Auftakt: in einem Raum sind sich immer Gruppen von diesen 31 Künstlern, die man ausgewählt hat, gegenübergestellt. Da haben wir zum Beispiel die Bechers mit frühen Aufnahmen von Fabrikhallen, also dieses ganze strenge frontale Schwarz-Weiß, und je länger sie da hingucken, haben aber diese Fabrikhallen dann auch irgendwie ein Gesicht, oder wirken wie Porträts. Und woran liegt das unter anderem? Auf der Seite gegenüber ist Rineke Dijkstra mit Fotos vertreten, die sie berühmt gemacht haben. Anfang der 90er-Jahre hat sie junge Frauen oder junge Mütter fotografiert, die soeben aus dem Kreissaal kamen. Teilweise sind die Kinder noch blutig, oder es läuft noch die Beine runter, und die stehen da, fast alle nackt, oder haben irgendwelche Gummihosen an, und haben dann dieses kleine Würmchen im Arm, von diesem Kind sehen sie gar nichts. Und die holländische Fotografin hat sich jetzt 17 Jahre später daran gemacht und hat geguckt, was ist aus diesen Würmchen geworden. Also insofern ist das auch ein Dokument. Und dann haben sie jeweils zu diesen großen Mutter-und-Kind-Fotos jetzt das Foto von den jungen Mädchen beziehungsweise jungen Männern, die eigentlich auch schon auf dem Sprung sind, wieder richtig erwachsen zu werden. Also das ist so ein Fall.
Aber die Ausstellung geht zurück auf eine Idee von Walker Evans, der 1971 gefragt wurde, wenige Jahre vor seinem Tod, ob denn das, was er mache, dokumentarische Fotografie sei. Und dann hat er gesagt, das was ich mache ist im dokumentarischen Stil, denn dokumentarisch im klassischen Sinne wäre das, was der Polizeifotograf macht. Also er verdoppelt das Motiv: da liegt der Handschuh, der blutige, und dann nimmt er den noch mal auf. Das ist bei diesen dokumentarischen Fotografen anders. Sie bringen sich schon subjektiv ein mit dem Blick auf ihre Welt.
Schäfer-Noske: Inwieweit sind denn die gezeigten Fotos auch inszeniert?
Vielhaber: Bei Jeff Wall weiß man, diese großen Fotos, da denken sie, es sind Schnappschüsse, und wenn sie genau hingucken, dann sehen sie, irgendwo in so einer Straßenecke liegt dann so ein Püngel [Anmerkung der Redaktion: Bündel], so weiß. Was könnte darin sein? Also alles ist geheimnisvoll. Das ist inszeniert und zum Beispiel so ein Fotograf - ja was ist er? - Thomas Demand. Sie haben das Foto und jeder von uns weiß sofort, das ist Duisburg, Love Parade, wo die roten Kerzen da sind, und dann sind Fotos dabei und dann sind Blumen dabei, wo man der Toten gedenkt. Und dann ist es aber irgendwie ganz komisch, irgendwas stimmt nicht. Und was macht Thomas Demand? Er nimmt diese Fotos, die wir alle kennen, baut die aus Papier und Pappe in seinem Atelier nach und fotografiert sie dann, und dann vernichtet er dieses Modell, was er gebaut hat, und dann ist natürlich ein Dokument letztlich von seinem Modell da und dieses Modell beruft sich ja auf ein Dokument, was wir vorher schon kannten. Also auch das sind Möglichkeiten, mit Fotografie dokumentarisch umzugehen.
Schäfer-Noske: Inwieweit ist das auch politische Kunst?
Vielhaber: Ganz am Schluss, das ist wirklich bemerkenswert. Boris Mikhailow, der Russe, von dem wir diese Fotos kennen, der sich auch mit wirklich in den Hinterhöfen und mit dem Abschaum in Moskau auseinandergesetzt hat, und er war jetzt in Braunschweig und da wurden 300 Leute für den Chor für die Perser gesucht. Und dann hat er sich da hinbegeben und hat gedacht, vielleicht ist das die deutsche Mitte, die ich da habe. Und was ihn so fasziniert an der deutschen Renaissance ist die Porträtkunst, und jetzt hat er eine Gruppe dieser Leute, wie das auch auf Münzen ist, in diesem Porträt seitlich mit ihren Nasen, und er spricht auch davon, er hatte eine jüdische Großmutter und wurde wegen seiner Nase gehänselt. Aber in diesem Braunschweig ist Hitler noch kurz vor seiner Wahl zum deutschen Staatsbürger geworden. Also insofern ist das wirklich auch eine sehr politische Arbeit.
Schäfer-Noske: Vielleicht noch kurz die Frage, inwieweit es der Ausstellung gelingt, an diese große Ausstellung anzuknüpfen.
Vielhaber: Ganz genial, denn diese Ausstellung damals vor elf Jahren war eigentlich der Beginn einer großen Sammlung, die von der Sparkassen-Stiftung in Hannover unterstützt wurde. Da hat man angekauft und jetzt sieht man, wie weit man gekommen ist und dass man ganz in der Gegenwart angekommen ist, aber auch gezielt, also nicht in die Breite, sondern wirklich gezielt thematisch, motivisch, technisch.
Schäfer-Noske: Christiane Vielhaber war das über die Ausstellung "Photography Calling", zu sehen im Sprengel Museum in Hannover.
Christiane Vielhaber: Nehmen wir gleich zum Auftakt: in einem Raum sind sich immer Gruppen von diesen 31 Künstlern, die man ausgewählt hat, gegenübergestellt. Da haben wir zum Beispiel die Bechers mit frühen Aufnahmen von Fabrikhallen, also dieses ganze strenge frontale Schwarz-Weiß, und je länger sie da hingucken, haben aber diese Fabrikhallen dann auch irgendwie ein Gesicht, oder wirken wie Porträts. Und woran liegt das unter anderem? Auf der Seite gegenüber ist Rineke Dijkstra mit Fotos vertreten, die sie berühmt gemacht haben. Anfang der 90er-Jahre hat sie junge Frauen oder junge Mütter fotografiert, die soeben aus dem Kreissaal kamen. Teilweise sind die Kinder noch blutig, oder es läuft noch die Beine runter, und die stehen da, fast alle nackt, oder haben irgendwelche Gummihosen an, und haben dann dieses kleine Würmchen im Arm, von diesem Kind sehen sie gar nichts. Und die holländische Fotografin hat sich jetzt 17 Jahre später daran gemacht und hat geguckt, was ist aus diesen Würmchen geworden. Also insofern ist das auch ein Dokument. Und dann haben sie jeweils zu diesen großen Mutter-und-Kind-Fotos jetzt das Foto von den jungen Mädchen beziehungsweise jungen Männern, die eigentlich auch schon auf dem Sprung sind, wieder richtig erwachsen zu werden. Also das ist so ein Fall.
Aber die Ausstellung geht zurück auf eine Idee von Walker Evans, der 1971 gefragt wurde, wenige Jahre vor seinem Tod, ob denn das, was er mache, dokumentarische Fotografie sei. Und dann hat er gesagt, das was ich mache ist im dokumentarischen Stil, denn dokumentarisch im klassischen Sinne wäre das, was der Polizeifotograf macht. Also er verdoppelt das Motiv: da liegt der Handschuh, der blutige, und dann nimmt er den noch mal auf. Das ist bei diesen dokumentarischen Fotografen anders. Sie bringen sich schon subjektiv ein mit dem Blick auf ihre Welt.
Schäfer-Noske: Inwieweit sind denn die gezeigten Fotos auch inszeniert?
Vielhaber: Bei Jeff Wall weiß man, diese großen Fotos, da denken sie, es sind Schnappschüsse, und wenn sie genau hingucken, dann sehen sie, irgendwo in so einer Straßenecke liegt dann so ein Püngel [Anmerkung der Redaktion: Bündel], so weiß. Was könnte darin sein? Also alles ist geheimnisvoll. Das ist inszeniert und zum Beispiel so ein Fotograf - ja was ist er? - Thomas Demand. Sie haben das Foto und jeder von uns weiß sofort, das ist Duisburg, Love Parade, wo die roten Kerzen da sind, und dann sind Fotos dabei und dann sind Blumen dabei, wo man der Toten gedenkt. Und dann ist es aber irgendwie ganz komisch, irgendwas stimmt nicht. Und was macht Thomas Demand? Er nimmt diese Fotos, die wir alle kennen, baut die aus Papier und Pappe in seinem Atelier nach und fotografiert sie dann, und dann vernichtet er dieses Modell, was er gebaut hat, und dann ist natürlich ein Dokument letztlich von seinem Modell da und dieses Modell beruft sich ja auf ein Dokument, was wir vorher schon kannten. Also auch das sind Möglichkeiten, mit Fotografie dokumentarisch umzugehen.
Schäfer-Noske: Inwieweit ist das auch politische Kunst?
Vielhaber: Ganz am Schluss, das ist wirklich bemerkenswert. Boris Mikhailow, der Russe, von dem wir diese Fotos kennen, der sich auch mit wirklich in den Hinterhöfen und mit dem Abschaum in Moskau auseinandergesetzt hat, und er war jetzt in Braunschweig und da wurden 300 Leute für den Chor für die Perser gesucht. Und dann hat er sich da hinbegeben und hat gedacht, vielleicht ist das die deutsche Mitte, die ich da habe. Und was ihn so fasziniert an der deutschen Renaissance ist die Porträtkunst, und jetzt hat er eine Gruppe dieser Leute, wie das auch auf Münzen ist, in diesem Porträt seitlich mit ihren Nasen, und er spricht auch davon, er hatte eine jüdische Großmutter und wurde wegen seiner Nase gehänselt. Aber in diesem Braunschweig ist Hitler noch kurz vor seiner Wahl zum deutschen Staatsbürger geworden. Also insofern ist das wirklich auch eine sehr politische Arbeit.
Schäfer-Noske: Vielleicht noch kurz die Frage, inwieweit es der Ausstellung gelingt, an diese große Ausstellung anzuknüpfen.
Vielhaber: Ganz genial, denn diese Ausstellung damals vor elf Jahren war eigentlich der Beginn einer großen Sammlung, die von der Sparkassen-Stiftung in Hannover unterstützt wurde. Da hat man angekauft und jetzt sieht man, wie weit man gekommen ist und dass man ganz in der Gegenwart angekommen ist, aber auch gezielt, also nicht in die Breite, sondern wirklich gezielt thematisch, motivisch, technisch.
Schäfer-Noske: Christiane Vielhaber war das über die Ausstellung "Photography Calling", zu sehen im Sprengel Museum in Hannover.