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Ausstellung über japanische Fotografie
Motive in Zeiten des Umbruchs

Nur drei Ausgaben der japanischen Kunstzeitschrift "Provoke" gab es in den Jahren 1968/69 - umso ungewöhnlicher und dennoch berechtigt, dass ihr in Winterthur nun eine eigene Ausstellung gewidmet wird. Mit viel Kraft und Kunstsinn setzten die Fotografen des Magazins einst verschiedene Protestbewegungen Japans in Szene und zeigten ein Land, das unter neuem Einfluss der Massenmedien einen kolossalen Umbruch erfuhr.

Von Christian Gampert | 30.05.2016
    Ein Hand hält eine Fotokamera
    Die Ausstellung zeigt kraftvoll den politischen Anspruch der japanischen Fotografen, die ihre Arbeit als performativen Akt begriffen. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Auf diesen Bildern wird wirklich gekämpft, brutal und viehisch, mitten im Dreck: Bauern und Studenten rebellierten 1971 gegen den Bau des Narita-Flughafens; den Bauern ging es um ihr Land, das enteignet werden sollte, den Studenten auch um die Abhängigkeit von den USA, die ihre Luftwaffenstützpunkte für den Vietnamkrieg in Japan weiter beanspruchten. Der Fotograf und Filmemacher Shinsuke Ogawa hat die Demonstranten wochenlang begleitet, er lässt sie zu Wort kommen, aber oft wird in den Auseinandersetzungen nur noch geschrien und geheult, und er lässt die Schwarzweiß-Kamera über eine aufgewühlte, entstellte Landschaft schweifen, die den Seelenzustand der japanischen Gesellschaft zu spiegeln scheint.
    Ogawa war als Filmemacher eher eine Randfigur der Fotografenszene – aber sein Flughafen-Film, in Winterthur prominent inszeniert, zeigt wirklich schlagend den politischen Anspruch dieser japanischen Künstler, die ihre Arbeit als performativen Akt begriffen, egal, ob man die Kamera ins Rotlichtmilieu hielt, sich mitten in gewalttätigen Auseinandersetzungen bewegte, selber Happenings inszenierte oder mit grobkörnigen Schwarzweißbildern möglichst wirr gelayoutete Künstlerbücher konzipierte.
    Dass einer Kunstzeitschrift, die nur drei Ausgaben erlebt hat, eine Ausstellung gewidmet wird, ist ungewöhnlich – im Fall von "Provoke" aber völlig berechtigt: die japanischen Fotografen um die Herausgeber Takuma Nakahira, Yutaka Takanashi und Daido Moriyama bündelten mit ihrer Zeitung 1968/'69 den Protest gegen die Regierung, gegen das Sicherheitsabkommen mit den USA und die weitgehend amerikanisierte Warenästhetik des japanischen Alltags. Die Wunde Hiroshima war allgegenwärtig, das amerikanische Militär überall präsent.
    Depressive Nachtbilder, virtuos komponiert
    "Wir haben da diese sehr energische japanische Protestbewegung der 1960er-Jahre – als Antwort auf die amerikanische Besatzung Japans. Das brachte eine Fülle fotografischen Materials hervor, vor allem Protest-Bücher. Diese Bücher waren bis vor kurzem in Privatsammlungen versteckt, aber wir haben sie gefunden und zeigen sie nun zum ersten Mal", sagt Duncan Forbes, der Kurator der Ausstellung. Diese Fotos und Bücher sind Underground – sie sperren sich der Welt der Werbeanzeigen, sie kommen eher aus der Tradition japanischer Kampftechniken, die nun ins Fotografische übertragen werden.
    "Der Kontext, im dem Provoke operiert, ist die enorme Ausbreitung der Massenmedien im Japan der 1960er-Jahre. Japan durchläuft da einen beschleunigten Modernisierungsprozess; das betrifft die ganze visuelle Kultur - Fernsehen, Geschäfte, Massenmedien, die Kommerzialisierung des Visuellen. Die Herrschaft des Visuellen, wenn Sie so wollen. Und darauf reagieren die Provoke-Fotografen ... "
    Und wie! Man schaut kaum noch durch den Sucher, sondern hält die Kamera als teilnehmender Beobachter in eine Szene. Die Bilder sind grobkörnig, bewusst unscharf oder verwackelt, mit Chemikalien verfremdet, auf schlechtem Papier abgezogen. Es gibt diese traurig machenden Straßenszenen: ein besetztes Land. Und es gibt die Vermessung des Körpers: der Widerstand ist ganz physisch zu denken.
    Gleichzeitig sind die "Provoke"-Fotografen aber Theoretiker und Dichter: sie verschränken Text und Bild und befragen die Möglichkeiten dieses Mediums – sie unterlaufen, poverisieren die Fotografie. Es gibt einige Künstler aus dem Provoke-Umkreis, die immer noch einer fotografischen Ästhetik anhängen – Shomei Tomatsu mit seinen Bordell-Szenen und Portraits. Auch die fast schwarzen, depressiven Nachtbilder des Provoke-Gründers Takuma Nakahira sind virtuos komponiert. Man sieht hier auch das erste, noch fotokopierte Buch des Erotikers Nobuyoshi Araki; dagegen stehen die vielen verwischten Wutbilder junger Fotografen, die nicht nur gegen die Konvention, sondern gegen das falsche Leben im besetzten Japan anrannten. Irgendwie tut das auch diese Ausstellung: sie ist gut strukturiert, aber als Zuschauer wird man auch vom inneren Chaos ergriffen, das damals in Japan geherrscht haben mag.