Karin Fischer: "Das geht jeden heute noch etwas an" ist der Leitsatz des NS-Dokumentationszentrums in München, das aufklärt über die Geschichte des Nationalsozialismus, seine historischen Wurzeln, seine gesellschaftlichen Bedingungen. Und wie das heute noch jeden etwas angeht, erfahren wir gerade in allen gesellschaftlichen Diskussionen, auch im Deutschlandfunk. Die Frage, ob der Rechtsruck in Europa, ob nationalistische Strömungen, ob rechtspopulistische Hetze oder fremdenfeindliche Aktionen, wie sie heute einen flüchtlingsfreundlichen NRW-Bürgermeister getroffen haben - die Frage, ob das alles der Anfang von etwas ist, das die Deutschen schon sehr gut gekannt haben, liegt nahe. In München wurde zum Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945 jetzt eine Sonderausstellung erarbeitet. "Nie wieder. Schon wieder. Immer noch" lautet ihr Titel. Winfried Nerdinger, den Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums, habe ich gefragt, ob das eine traurige Zustandsbeschreibung ist oder eine begründbare historische Einordnung?
Winfried Nerdinger: Ich glaube, das ist eine begründbare historische Einordnung. 1945 traten die ehemaligen KZ-Häftlinge mit dem Schwur von Buchenwald "Nie wieder" an. Schon mit Gründung der Bundesrepublik versammelten sich die alten Nazis und dann auch die jungen und man sprach davon, dass es "schon wieder" weitergeht, und heute müssen wir leider sagen "immer noch". Wenn wir zurückblicken, dann gibt es durch die gesamte Geschichte der Bundesrepublik hin rechtsextreme, zumindest rechtsradikale Bewegungen.
Fischer: Nun ist aber das "immer noch" ja auch nicht umstritten. Nimmt denn das rechtsextreme Gedankengut in unserer Gesellschaft tatsächlich zu, oder ist das nur eine Wahrnehmung, die zum Beispiel über die mediale Beachtung von Phänomenen wie Pegida oder der AfD zustande kommen?
Nerdinger: Da ist die Frage, wie man das Ganze misst. Wenn man sich an den Verfassungsschutz hält und die Zahl der rechtsextrem motivierten Gewalttaten und Übergriffe anschaut, dann kann man im Laufe der Jahrzehnte so eine Art Wellenbewegung sehen. Es gibt Jahrzehnte, in denen diese Übergriffe sehr stark zunehmen, dann wieder etwas zurückgehen. Momentan sind wir ganz sicher in einer Zeit mit sehr vielen Übergriffen. Der Verfassungsschutz hat allein für das Jahr 2016 3500 Übergriffe, die rechtsextremistisch motiviert waren, gegen Flüchtlinge registriert. Das sind zehn pro Tag, das ganze Jahr hindurch.
Rechtsextrem, rechtsradikal oder rechtspopulistisch?
Fischer: Rechtspopulistisch, rechtsextrem, rechts, das geht ja auch gern mal durcheinander. Wie wichtig ist Wortklauberei in diesem Feld und wie arbeiten Sie dieses Feld in der Ausstellung auf?
Nerdinger: Das ist schon sehr wichtig, weil juristisch ja auch ganz genau unterschieden wird. Rechtsextrem ist alles, was sich außerhalb unserer Verfassung befindet, was gegen unsere Demokratie gerichtet ist. Da kann der Staat auch sofort eingreifen. Mit rechtsradikal wird bezeichnet, was sich am rechten Rand befindet, aber noch innerhalb der Verfassung durch unsere Meinungsfreiheit gedeckt ist. Rechtspopulistisch, das sind die Gruppierungen, die vorgeben, die Meinung des Volkes oder der Mehrheit des Volkes gegen das Establishment auszusprechen und die sich häufig rechtsextremen oder rechtsradikalen Gedankenguts bedienen. Das steht am Anfang unserer Ausstellung, da differenzieren wir das.
Fischer: Wie kann man denn überhaupt dieses Thema anschaulich machen, ohne in ein merkwürdiges Fahrwasser zu geraten, indem man zum Beispiel auch Devotionalien ausstellt, oder auch die Falschen zu treffen? Viele Bürger beklagen sich ja inzwischen, dass sie rechtsextrem genannt werden, ohne dass sie es sind.
Nerdinger: Wir definieren es und in unserer Ausstellung haben wir eigentlich ein zweigeteiltes Vorgehen. Wir haben auf der einen Seite einen sogenannten Zeitstrahl. Das heißt, wir beginnen 1945 und enden im Jahr 2017, also heute, und zeigen einfach auf, was ist hier Jahr für Jahr geschehen, welche Parteien haben sich gegründet, was haben die gemacht, was war deren Propaganda, was waren deren Zielsetzungen. Das wird von uns belegt und auch entsprechend kommentiert. Das ist das eine und dem stellen wir gegenüber oder das ist dann der zweite Teil, der das erläutert, die Ideologie: Was ist eigentlich das Verbindende, das Gedankengut von Rechtsextremen und von Rechtsradikalen. Da haben wir zehn zentrale Elemente herausgegriffen, aus denen sich diese Ideologie zusammensetzt. Das ist ja nichts, was man wissenschaftlich streng mit einem Begriff benennen könnte, sondern dieses Denken setzt sich zusammen aus Rassismus, Anti-Islamismus, Geschichtsrevision, Fremdenfeindlichkeit und einem übersteigerten Nationalismus. Das sind alles Facetten, die zusammenwirken und die dann gemeinsam sich auch zum Teil gegenseitig verstärken, die gemeinsam dieses Weltbild dann tragen. Das zeigen wir auf und wir verwenden schon einige Materialien aus der rechten Szene, Flugblätter und anderes, aber ganz bewusst wird das so präsentiert, dass das in seiner Erscheinung reduziert, also nicht auf Hochglanz daher kommt, sondern dass wirklich immer der dokumentierende und der kritisch analysierende Charakter im Vordergrund steht.
"Die Hardliner werden wir nicht erreichen"
Fischer: Mit der Frage, Herr Professor Nerdinger, nach den Gründen für die zunehmende rechtsextreme Einstellung heute rückt ja immer der Osten Deutschlands in den Fokus, und Sozialwissenschaftler ebenso wie Psychologen suchen nach Erklärungen für die dort grassierende Fremdenfeindlichkeit. Am Ende heißt es dann immer, aber es ist ja gar nicht nur der Osten. Haben Sie persönlich eine differenzierte Erklärung für dieses Phänomen?
Nerdinger: Wenn man es sich anschaut im Hinblick auf die Gewalttaten, dann können wir feststellen, dass in den 90er Jahren, also kurz nach der Wiedervereinigung, doch sich rechtsextremistische Übergriffe im Osten häufen. Wenn wir es heute anschauen, gerade angesichts der Flüchtlingsdiskussion, und wir schauen nicht nur auf die einzelnen Taten, sondern auf praktisch die Zahl der Bevölkerung, die dahinter steht in jedem einzelnen Bundesland, dann ist es zwar so, dass es immer noch über Deutschland ganz verteilt ist, aber doch Schwerpunkte im Osten zu sehen sind. Und ich kann Ihnen das auch nicht detailliert erklären. Es ist mit Sicherheit etwas, das hier nicht wirklich aufgearbeitet worden ist. Unser Haus sagt, man muss aus der Geschichte lernen. Wir sind ein Lernort. Und gerade in den Ostländern ist ja mehr oder weniger so ein Antifaschismus dekretiert worden. Das war die Staatsdoktrin: "Bei uns gibt es das nicht mehr". Das gibt es natürlich sehr wohl und das schwappte dann nach der Wiedervereinigung über.
Fischer: Können Sie mit so einer Ausstellung die, die es betreffen sollte, erreichen?
Nerdinger: Wir werden sicher nicht die extremen, wenn Sie so wollen, Hardliner damit erreichen, denn das ist ja etwas, was auch fast wie in Glaubensfragen dann nicht mehr rational erreichbar ist. Aber das Entscheidende ist: Die rechtsextremen Gedanken haben sich ja heute auch in der Mitte festgesetzt. Wenn man das Wahlverhalten anschaut, dann sind ein Drittel beispielsweise der AfD-Wähler aus den bürgerlichen Parteien gekommen, zwei Drittel aus den Nichtwählern. Insofern muss man genau diese Personen, die bislang ja hier durchaus demokratisch bürgerlich in der Mitte gewählt haben und sich nun abgewandt haben, die muss man aufklären und die, glaube ich, kann man auch erreichen.
Fischer: Winfried Nerdinger, der Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums in München, über die Ausstellung "Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945".
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