
Mascha Drost: Englische Titel haben an deutschen Kulturinstitutionen momentan anscheinend Hochkonjunktur und auch die Themen ähneln sich: Kunst zwischen Konflikt und Krieg. In Berlin heißt die aktuelle Veranstaltung dazu "Uncertain States" - kann man übersetzen mit unsichere Staaten und ihre Zustände - um Kunst in Ausnahmezuständen, um Erinnerungen von Künstlern an Kriegsgeschehen, Emigration aus heutiger Perspektive und der Zeit zwischen 1933 und 1945. Ein groß angelegtes Projekt aus Ausstellungen, Filmvorführungen, Vorträgen, Konzerten ist das. Angestoßen wurde es von der Präsidentin der Akademie der Künste, der Filmemacherin Jeanine Meerapfel, und mit ihr habe ich vor der Sendung gesprochen. Es soll in diesem Projekt um die Bedeutung des Erinnerns, um die Bedeutung des Erzählens gehen für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Wie können Erinnerungen und Erzählen den Zustand der Welt beeinflussen?
Jeanine Meerapfel: Ohne dass wir eine Erinnerungskultur behalten, werden wir auch die Zukunft nicht meistern können. Das ist unsere Überzeugung. Deshalb haben wir mit dem Archiv zusammen daran gedacht, eine Art Museum der kleinen Dinge, einen emotionalen Ausgang für die Themen unserer Zeit zu finden. Und das heißt: Wir haben Objekte, Ausschnitte, Fotos, Pässe von Bertolt Brecht, von Tucholski, von Heinrich Mann, von vielen Menschen, die zwischen 33 und 45 auswandern mussten aus Nazi-Deutschland, in Vitrinen getan und diese Geschichten erzählt. Von da aus gehen wir in zeitgenössische Kunst. Die zeitgenössische Kunst antwortet auf die Vergangenheit mit gegenwärtigen Fragen und Fragestellungen insbesondere.
"Das ist eine Kontinuität, die vielleicht dazu hilft, aufzuklären."
Drost: Und was soll dann aus dieser Gegenüberstellung heraus entstehen, Spannung, Gemeinsamkeit, die Möglichkeit auch von Wiederholung von Geschichte?
Meerapfel: Es soll entstehen einerseits eine Empathie, eine starke emotionale Bindung an das, was wir sehen. Ich beschreibe Ihnen ein kleines Objekt: ein mini kleines Notizbuch von Heinrich Mann. Da steht an einem Samstagabend im Februar 33: "Heute Abend Konzert." Zwei Tage später steht: "Abgereist." Unterstrichen. Das ist alles. - Sie sehen diese kleine Zettel und es ist extrem bedeutend zu wissen, das bedeutet die ganze Emigration einer enormen Menge von Menschen, Künstler, die auch dieses Land verlassen mussten. Und dann sehen Sie dem gegenüber Objekte, die syrische oder irakische oder deutsche Künstler gemacht haben, reagierend auf die Umbrüche unserer Zeit, und nun stellen Sie die Zusammenhänge her, wenn Sie möchten. Auf jeden Fall ist das eine Kontinuität, die vielleicht dazu hilft, aufzuklären.
Drost: In Ihrem Programmheft, da ist zu lesen, Künstler übernähmen die Verantwortung für die Geschichte der anderen, also derjenigen, die nicht zu Wort kommen, die der Schwächsten. Auf welche Weise tun sie es und ist das nicht vielleicht sogar ein wenig anmaßend, die Geschichte der anderen erzählen zu wollen?
Meerapfel: In dieser Knappheit dargestellt sicherlich wäre das anmaßend. Es geht uns vielmehr darum zu lernen, dem anderen zuzuhören und dem anderen, da er oft keine Stimme hat, eine Stimme zu geben. Ich glaube, dass wir nicht in eine Art Selbstdarstellung verfallen, denn diese Künstler sind zum Teil aus den Ländern, die im Umbruch stehen und die versuchen, diese Geschichten zu erzählen, in einer mitteilenden, mitempathischen Art weiterzugeben und nicht in einer von oben nach unten Haltung.
"Zeiten des Umbruchs sind Zeiten hoher künstlerischer Herausforderung"
Drost: Jetzt muss ich zum Schluss noch mal eine vielleicht etwas ketzerische Frage stellen. Aber gibt es für einen Künstler überhaupt eine bessere Zeit als die des Ausnahmezustands? Entstehen so nicht die besseren Kunstwerke als zu Zeiten der gepflegten Langeweile? Ich spreche jetzt wirklich nur für den Künstler, nicht für den "einfachen Bürger".
Meerapfel: Selbstverständlich sind Zeiten des Umbruchs Zeiten der hohen künstlerischen Herausforderung und wir werden heute Abend die Ausstellung eröffnen mit einem Text von Norman Manea, der große rumänische Schriftsteller, der selbst im Exil war, und der hat seinen Text genannt "Exil und Kreativität". Also Exil und Auseinandersetzung mit Umbrüchen und mit schweren Zeiten führen zu einer größeren Kreativität womöglich und zu einer extremen Infragestellung dessen, was leben wir, wie leben wir und wie leben die anderen.
Drost: Ab morgen ist das Großprojekt in Berlin zu sehen - das war Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Berliner Akademie der Künste.
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