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Austerlitz

Vielleicht ist man nie so allein wie auf Reisen. Herausgerissen aus seinem Lebenszusammenhang, oft mit viel Zeit zwischen dem Betreiben der Dinge, den eigentlichen Zwecken, die einen in die Fremde geführt haben und weg von den Seinen - oder wenigstens dem Seinen -, macht sich Einsamkeit breit, jedenfalls die mit dem erzwungenen Alleinsein einhergehende gesteigerte Offenheit und Empfänglichkeit für Menschen und Dinge ringsum und ihre Geschichte. Auch mag einen ein Hauch von Unruhe anwehen oder gar Panik angesichts des reibungslosen Funktionierens, des Weiterfunktionierens der fremden und unvertrauten Welt, in die man unversehens hineingeraten ist. Man sieht nur allzu deutlich, wie es wäre, wenn man nicht mehr wäre, wenn das eigene Dasein ein Fortsein ersetzt hätte. Mit anderen Worten: auf Reisen erhält man eine Vorschau auf den Tod:

Denis Scheck |
    "Als ich schließlich an Austerlitz herangetreten bin mit einer auf sein offenkundiges Interesse an dem Wartesaal beziehenden Frage, ist er auf sie, in keiner Weise verwundert über meine Direktheit, sogleich ohne das geringste Zögern eingegangen, wie ich ja oft seither erfahren habe, dass Alleinreisende in der Regel dankbar sind, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden. Verschiedentlich hat es sich bei solchen Gelegenheiten sogar gezeigt, dass sie dann bereit sind, solch einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. So aber ist es bei Austerlitz, der mir auch in der Folge kaum etwas von seiner Herkunft und seinem Lebensweg anvertraute, damals in der Salle des pas perdus nicht gewesen."

    Die Erzähler von W.G. Sebalds Büchern sind immer auf Reisen. Es sind Reisende sowohl im Raum als auch in der Zeit, sie legen geschwind, hellwach und scheinbar mühelos geographische wie auch temporale Distanzen zurück als trügen sie Siebenmeilenstiefel. Was sie von landläufigen Touristen unterscheidet, ist zum einen ihr Gepäck: Sebalds Erzähler sind stupend gebildet und breiten die Fundstücke ihrer Lektüre aus Architektur- und Sozialgeschichte, aus Naturhistorie, Botanik und Zoologie, Geologie und Kunstgeschichte genussvoll aus. Zum anderen sind diese Erzähler stets sehr nah an der Person des Autors angesiedelt, teilen jedenfalls die Rahmendaten der Biographie des 1944 in Wertach im Allgäu Geborenen, der in Freiburg und in der französischen Schweiz Germanistik studierte, Mitte der 60er Jahre als Lektor an die Universität von Manchester ging und kurz als Lehrer in St. Gallen arbeitete, ehe er 1970 nach England zurückkehrte, diesmal nach Norwich, wo er deutschsprachige Literatur lehrte, zunächst als Dozent, inzwischen als Professor an der University of East Anglia.

    Sebald begann erst spät mit dem Schreiben, war knapp Mitte vierzig, als 1988 sein erstes Buch erschien. Der doppeldeutige Titel war Programm: "Nach der Natur", und zudem versah der Autor die kuriose Form dieses Erstlings mit der Gattungsbezeichnung "ein Elementargedicht". Man findet in diesem gerade mal 99 Seiten zählenden Bändchen schon alle Elemente, die das spätere Prosawerk Sebalds charakterisieren, also die eindrucksvollen Bände "Schwindel. Gefühle", "Die Ausgewanderten" und "Die Ringe des Saturn": die Rekonstruktion von historischen Lebensläufen, die Meditation über geschichtsphilosophische Fragen, nicht zuletzt die sehr eigentümliche und faszinierende Art, die eigene Biographie immer wieder als Ausgangs- und Bezugspunkt des Schreibens einzubringen, ohne je in beliebige Nabelschau abzugleiten:

    "Als ich am Christi Himmelfahrtstag des Vierundvierzigerjahrs auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle an unserem Haus vorbei in die blühenden Maifelder hinaus. Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, dass der kalte Planet Saturn die Konstellation der Stunde regierte und dass über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Abgesehen von dem vielleicht verheerenden Eindruck, den dieses in der Dorfgeschichte unerhörte Ereignis zu Beginn meines Lebens auf mich gemacht haben mag, und abgesehen von dem tosenden Feuer, das eines Nachts, kurz vor meiner Einschulung ist es gewesen, ein unweit gelegenes Sägewerk verschlang und die ganze Talschaft erhellte, bin ich, dem anderwärts furchtbaren Zeitlauf zum Trotz, am Nordrand der Alpen, wie mir heut scheint, aufgewachsen ohne einen Begriff der Zerstörung."

    "Verheerend" - "unerhört" - "furchtbarer Zeitlauf" -"Zerstörung" - all dies sind Schlüsselbegriffe für die Poetik W.G. Sebalds. Hier schreibt einer von Katastrophen, schickt Kassiber aus finsteren Zeiten, Nachrichten aus einem brennenden Troia. Sehr verkürzt ausgedrückt lassen sich zwei Großmächte ausmachen in der Welt, wie Sebald sie sieht: der Tod mit seinen Agenten Zeit und Gegenwart, die unbarmherzig erodierend gegen alles Vergangene anbranden, es zu verkürzen, zu verderben und zu vernichten trachten - und auf der anderen Seite die Erinnerung, Mnemosyne, die erhalten, bewahren und schützen will und deren Agent natürlich die Literatur als kollektiver Erinnerungsspeicher der Menschheit ist, ein secret service, in dessen geheimem Dienst kein anderer steht als der Schriftsteller W. G. Sebald selbst. Schon allein aus diesem Grund ist die Nähe von Sebalds Erzählern zum Ich des Autors folgerichtig, ja zwingend.

    Genau besehen läuft diese Weltsicht auf eine poetische Fortschreibung der alten marxistischen 68er-Ideologie hinaus, nur haben die Stelle von Kapital, Ausbeutung und Imperialismus nun die Trinität von Zeit, Tod und Vergänglichkeit eingenommen. Würdige Feinde in der Tat - und vielleicht ist dies nun wahrhaft die Mutter aller Schlachten, Armageddon, der große und ultimative Showdown, den Sebald in seinen Büchern reportiert: wir gegen den Tod und seine Agenten, es kann am Ende nur einen geben, zuletzt triumphiert das Schweinesystem oder eben eine sehr brüchige Hoffnung, eine Hoffnung, die da heißt: alle oder keiner, die Toten inklusive. Und diese Toten sind sehr, sehr zahlreich. Es mag einige Milliardäre um die dreißig geben, die sich dank der unglaublichen Fortschritte der Medizin und Gentechnik eine winzigkleine Hoffnung auf eine wie auch immer geartete persönliche Unsterblichkeit ausrechnen können. Für uns Ärmere, für uns Arme, für den Rest gilt, dass wir sterben und bald vergessen sein werden nach einem Leben, das, wenn es köstlich war, Mühsal und Arbeit gewesen ist. Trost läßt sich daraus wenig ziehen. Aber wir Ärmere, wir Armen, wir haben nun einmal nichts anderes. Oder doch: wir haben W. G. Sebald:

    "Selbst jetzt, wo ich mich mühe, mich zu erinnern ... löst sich das Dunkel nicht auf, sondern verdichtet sich bei dem Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wieviel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden, "

    Hier schreibt einer, der weiß, dass jedes Unglück immer wieder von neuem geschieht, dass es "Schmerzensspuren" gibt, "Schmerzensspuren, die sich ... durch die Geschichte ziehen", Spuren, die gelesen werden wollen. Und Sebald liest - in den offiziellen Archiven, aber auch in Fundstücken vom Flohmarkt, in Quellen zu Biographien von realen Personen, die er collagiert und samplet, in einer Art Briccolage-Technik umbaut und in der Manier eines Dr. Frankenstein der Literatur zu neuem, nun literarischemLeben erweckt. Sebald gibt nicht vor, Romane zu schreiben, sein Metier ist die semidokumentarische Prosa, ausgehend von "echtem" biographischen Material, das sich unter der Hand, jedenfalls unter Sebalds Händen in einem beeindruckenden Transsubstantiatonsprozeß natürlich wieder in angereicherten, quasi veredelten literarischen Stoff verwandelt.

    Dem Schreiben von W.G. Sebald fällt eine unverhoffte Aktualität zu, weil Sebald von Beginn seiner Autorentätigkeit an unablässig jene Frage stellte, die wir heute als ins Zentrum oder jedenfalls ins Mark vieler Diskurse treffend wahrnehmen, Diskurse, die Fragen aufwerfen wie: Wer erinnert sich an was warum? Wieviel Erinnerung brauchen wir überhaupt? Wie gehen wir mit Geschichte um, und wie geht diese Geschichte mit uns um?

    Niemandem, der sterben wird, lassen diese Fragen kalt. Fest steht: Geschichte wird gemacht. Und zwar hier und jetzt, just in dieser unserer Gegenwart. Es gibt keine absolute Geschichte, nur einen immer wieder neu und zwar gegenwärtig konstituierten Geschichtsbegriff, eine Auffassung von dem, wer und was war und wer und was hätte sein können. Mit anderen Worten: es gibt nichts zu entdecken in der Geschichte, nichts zu offenbaren oder zu enttarnen, es gibt lediglich eine unendlich fortschreibbare Reihe von Aktualisierungen, also Versuchen, Vergangenes gegenwärtig zu machen.

    "Austerlitz", das neue Buch von W.G. Sebald, ist ein solcher Versuch der Aktualisierung. Erzählt wird, was gemeinhin nicht erzählt wird. Eine Geschichte, die in der offiziellen Geschichte nicht vorkommt. Die Geschichte von einem, der sich selbst abhanden gekommmen ist, der sich dann wiederfand und der mit diesem Fund wenig anfangen konnte. Die Geschichte von Jacques Austerlitz, in dessen Namen selbst Historie mitschwingt, ein "ungutes", um eine Lieblingsvokabel Sebalds zu zitieren, Echo auf Auschwitz, das den Leser die ganze Lektüre über begleitet. Austerlitz und der Erähler begegnen sich zum ersten Mal als Reisende in der Centraal Station von Antwerpen:

    "Eine der in der Salle des pas perdus wartenden Personen war Austerlitz, ein damals, im siebenundsechziger Jahr, beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfrief in Langs Nibelungenfilm. Nicht anders als bei all unseren späteren Begegnungen trug Austerlitz damals in Antwerpen schwere Wanderstiefel, eine Art Arbeitshose aus verschossenem blauem Kattun, sowie ein maßgeschneidertes, aber längst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett, und er unterschied sich auch, abgesehen von diesem Äußeren, von den übrigen Reisenden dadurch, dass er als einziger nicht teilnahmslos vor sich hin starrte ..."

    ... und weil er der einzige der Reisenden ist, der nichts über sich weiß. Austerlitz ist aus einem Zuviel an Geschichte ein Mann ohne Geschichte, Sohn tschechischer Juden, der mit einem Kindertransport nach England kam und dort bei einem walisischen Predigerehepaar aufwuchs. Weil seine Zieheltern früh sterben und ohnehin ganz in sich und ihre calvinistische Glaubenswelt versponnen sind, wächst Austerlitz ohne einen Begriff von seiner eigenen Herkunft auf und verdrängt auch später jede Beschäftigung mit der eigenen Identität. Erst als er bereits auf die sechzig zugeht, hört er zufällig im Radio eine Sendung über die Kindertransporte während der Nazizeit und nimmt das Rätsel seiner wahren Abstammung an. Er reist nach Prag, trifft dort auf seine alte Kinderfrau und erfährt von ihr, wessen Kind er eigentlich war und was aus seinen wahren Eltern geworden ist, die in Frankreich und in Theresienstadt vermutlich ermordet wurden.

    Dies alles erzählt W.G. Sebald jedoch durch einen Kunstgriff nicht etwa geradlinig aus Sicht des Jacques Austerlitz, sondern kunstvoll vermittelt - alles, was wir lesen, sind die Aufzeichnungen des Erzählers aus langen Gesprächen mit Austerlitz, die in dem Antwerpener Wartesaal in den 60er Jahren begannen, in der Mehrzahl jedoch in der zweiten Hälfte der 90er Jahre in London und Paris geführt wurden. Austerlitz ist mit der Niederschrift von Aufzeichnungen beschäftigt, als der Erzähler den jungen Mann in Antwerpen anspricht, und am Ende des Buchs ist diese Rollenverteilung genau umgekehrt - der Erzähler wird niederschreiben, was Austerlitz ihm anvertraute, er wird zum Chronisten dieses über so viele Jahrzehnte eigentlich ungelebten Lebens. Ständig erinnert uns ein diskretes "sagte Austerlitz" daran, dass wir es mit bearbeitetem und gestalteten Material zu tun haben, und wenn, was sehr häufig vorkommt, Austerlitz Gespräche mit anderen referiert, dann steigert Sebald diesen Hinweis zu Wendungen wie 'sagte Austerlitz, sagte das Kindermächen'.

    Verblüffenderweise gelingt diese überaus vertrackte, an Thomas Bernhard und seine großen Romane wie etwa "Holzufällen" erinnernde Erzählhaltung ganz und gar.

    Diese Perspektive von Beginn an sauber zu etablieren und den ganzen Roman über souverän durchzuhalten, zählt zu den nicht geringen Leistungen dieses bemerkenswerten Buches, das sehr viel mehr verhandelt als nur die Rekonstruktion eines Lebenslaufs. Die ersten Gespräche zwischen dem Erzähler und Austerlitz drehen sich hauptsächlich um Architekturgeschichte, Austerlitz' Fachgebiet. Immer wieder jedoch, zu Anfang noch sehr beiläufig, dann jedoch insistierender und schließlich zu einer triumphalen Coda führend, der Schilderung der neuen, nach Francois Mitterand benannnten Bibliotheque Nationale in Paris, verquickt Sebald diesen Fundus merkwürdiger und erstaunlicher Details aus der Geschichte menschlicher Bautätigtkeit mit Betrachtungen über die Zeit selbst, ein Thema, das bereits ganz zu Beginn von Austerlitz eingeführt wird.

    "Unsere Antwerpener Konversationen, wie er sie später bisweilen genannt hat, drehten sich, seinem erstaunlichen Fachwisen entsprechend, in erster Linie um baugeschichtliche Dinge, auch schon an jedem Abend, an dem wir miteinander bis gegen Mitternacht in der dem Wartesaal auf der anderen Seite der großen Kuppelhalle genau gegenüberliegenden Restauration gesessen sind. Die wenigen Gäste, die sich zu später Stunde dort aufhielten, verliefen sich nach und nach, bis wir in dem Buffetraum, der dem Wartesaal in seiner ganzen Anlage wie ein Spiegelbild glich, allein waren mit einem einsamen Fernet-Trinker und der Buffetdame, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Barhocker hinter dem Ausschank thronte und sich mit vollkommener Hingebung und Konzentration die Fingernägel feilte. Von dieser Dame, deren wasserstoffblondes Haar zu einem vogelnestartigen Gebilde aufgetürmt war, behauptete Austerlitz beiläufig, sie sei die Göttin der vergangenen Zeit. Tatsächlich befand sich an der Wand hinter ihr, unter dem Löwenwappen des Belgischen Königreichs, als Hauptstück des Buffetsaals eine mächtige Uhr, an deren einst vergoldetem, jetzt aber von Eisenbahnruß und Tabaksqualm eingeschwärztem Zifferblatt der zirka sechs Fuß messende Zeiger in seiner Runde ging. Während der beim Reden eintretenden Pausen merkten wir beide, wie unendlich lang es dauerte, bis wieder eine Minute verstrichen war, und wie schrecklich uns jedesmal, trotzdem wir es doch erwarteten, das Vorrücken dieses, einem Richtschwert gleichenden Zeigers schien, wenn er das nächste Sechzigstel einer Stunde von der Zukunft abtrennte mit einem derart bedrohlichen Nachzittern, dass einem beinahe das Herz aussetzte dabei."

    Wann immer von W.G. Sebald die Rede ist, dann fallen Begriffe wie "Melancholie" und "Schwermut". In Sebalds eigentümlichen langen Satzkaskaden, dieser durch und durch manierierten, wie mit historischem Firnis überzogenen und buchstäblich gebundenen Sprache, die sich mitunter liest wie eine perfekte Übersetzung aus dem Lateinischen, in dieser Sprache selbst scheint eine melancholische Grundstimmung eingeschrieben zu sein, sie fungiert als eine Art Generalbass, der an die Vergänglichkeit alles Beschriebenen mahnt und daher vom Leser ein gesteigertes Maß an Sorgfalt und Aufmerksamkeit einfordert. Dieser Sprache zur Seiten treten die Fotos und Zeichnungen, mit denen Sebald seine Texte illustriert und die nicht wenig zu ihrem dokumentarischen Anstrich beitragen - ein Verfahren, das man etwa aus Büchern von Alexander Kluge oder Klaus Theweleit kennt und dem Sebald großen Reiz abgewinnt. Ein wenig fühlt man sich in Sebalds Erzählkosmos wie auf Nabokovs Antiterra, es ist eine Welt voller Überraschungen, meist voll Entsetzen und Grauen, aber auch voll unvermuteter Schönheiten und Beseeligungsmomenten wie in dieser eindrücklichen Beschreibung einer Idylle, der einzigen, die der junge Austerlitz mit seinem Jugendfreund Gerald und dessen Onkel Alphonso erlebt:

    "Die meisten von uns, sagte Austerlitz, wissen ja von den Motten nichts, als dass sie Teppiche und Kleider zerfressen und darum vertrieben werden müssen mit Kampfer und Naphtalin, während sie doch in Wahrheit eines der ältesten und bewundernswertesten Geschlechter sind in der ganzen Geschichte der Natur. Bald nach dem Einbruch der Dunkelheit saßen wir weit droben ... auf einem Vorgebirge, hinter uns die höheren Hänge und vor uns die immense Finsternis draußen über dem Meer, und kaum dass Alphonso die Glühstrumpflampe in einer flachen, an den Rändern mit Erikastauden bewachsenen Mulde aufgestellt und entzündet hatte, begannen die Nachtfalter ... wie aus dem Nichts heraus einzuschwärmen in tausenderlei Bogen und Schraubenbahnen und Schleifen, bis sie, schneeflockengleich, um das Licht ein stilles Gestöber bildeten, während andere schon flügelschwirrend über das unter der Lampe ausgebreitete Leintuch liefen oder, erschöpft von dem wilden Kreisen, sich nederlließen in den grauen Vertiefungen der .... zu ihrem Schutz in einer Kiste ineinander verschachtelten Eierkartons ... ich weiß heute nicht mehr, welche Sorten von Faltern bei uns gelandet sind, Porzellan- und Pergamentspinner vielleicht und spanische Fahnen und schwarze Ordensbänder, Messing un dYpsiloneulen, Wolfsmilch und Fledermausschwärmer, Jungfernkinder und alte Damen, Totenköpfe und Geistermotten; jedenfalls viele Dutzende sind es gewesen, deren so verschiedene Gestalt und Erscheinung weder Gerald noch ich zu fassen vermochten."

    Sebald schreibe gewissermaßen "im Frack", bemerkte einmal ein Kritiker treffend. Aber Sebald benötigt diese leichte sprachliche Überhöhung, um eine reizvolle Fallhöhe zu konstruieren zwischen seinem nicht unangestrengten Stil und seinen Sujets von Tod, Vertreibung, Exil und Untergang. Schon in dem Langgedicht "Nach der Natur" charakterisierte Sebald seine Geburtsstunde als vom "kalte(n) Planet(en) Saturn regiert", und diese melancholische Grundkonstellation regiert auch das Buch "Austerlitz". Allerdings ist für Sebald Melancholie ein "Überdenkenken des sich vollziehenden Unglücks", das nichts "mit Todessucht ... gemein" hat, sondern vielmehr "eine Form des Widerstands ...". So gelesen hebt dieses Buch nicht nur eine Biographie, die des Jacques Austerlitz, in des Wortes wahrster Bedeutung auf, sondern ist selbst ein Akt des Widerstands gegen die Zeit.

    "Tatsächlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator, noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht. Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund auf Verlogenes, vielleicht weil ich mich, aus einem mir selber nie verständlichen inneren Antrieb, gegen die Macht der Zeit stets gesträubt und von dem sogenannten Zeitgeschehen mich ausgeschlossen habe, in der Hoffnung, wie ich heute denke, sagte Austerlitz, dass die Zeit nicht verginge, nicht vergangen sei, dass ich hinter sie zurücklaufen könne, dass dort alles so wäre wie vordem oder, genauer gesagt, dass sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten, beziehungsweise dass nichts von dem, was die Geschichte erzählt, wahr wäre, das Geschehene noch gar nicht geschehen ist, sondern eben erst geschieht, in dem Augenblick, in dem wir an es denken, was natürlich andererseits den trostlosen Prospekt eröffne eines immerwährenden Elends und einer niemals zu Ende gehenden Pein. (...) Und wäre es nicht denkbar, fuhr Austerlitz fort, dass wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?"

    W. G. Sebald hat in "Austerlitz" seine Verabredung mit der Vergangenheit eingehalten. Heraus kam dabei ein Meisterwerk in dem ganz unpathetischen und unprätentiösen Sinn, dass der Schriftsteller Sebald heute ganz sicher auf der Höhe seiner Schaffenskraft angelangt ist und mit der beeindruckenden Selbstverständlichkeit des reifen Nabokov ein makelloses Buch geschrieben hat. Was jedoch als poetologisches Programm fasziniert - das Entgegenstemmen gegen den Lauf der Zeit selbst, das Aufbewahren und Aufheben in der Literatur -, muß als individuelles Lebensprogramm gelesen, und erst recht kollektiv, als politisches Ziel einer Gesellschaft, jedoch fatal genannt werden. Wer könnte behaupten, wir litten am Angriff der Gegenwart auf Vergangenheit, wo doch unsere Zeit bestimmt ist von einem nie dagewesen Ansturm der Vergangenheit auf die Gegenwart? Mehr Geschichte war nie, nahezu das gesamte geistige Leben in Deutschland scheint in einem Historismus gefangen und vergißt über den Miniaturdioramen mit den nachgestellten Schlachten von 1914, 1933, 1945, 1968 und 1989 die Forderungen des Tages. Man wünscht sich als begeisterter Leser von "Austerlitz", dass sich der glänzende Essayist W.G. Sebald nach seinem großen Roman mit dieser logischen Fortschreibung seines Themas beschäftigte. Bis dahin aber gilt: Wenn Sie nur Geld für ein Buch in diesem Frühjahr haben, kaufen Sie "Austerlitz" von W.G. Sebald. Wenn sie gar kein Geld haben, versuchen Sie es zu stehlen.