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Ausverkauf der Revolution?

Die Polizei geht weiter gegen Widerständler vor und die Regierung hat ein neues Arbeitsgesetz im Parlament eingebracht, das wesentliche Rechte der Arbeiter beschneiden soll - so geht Mexikos Präsident Caldéron mit den Errungenschaften der Revolution um.

Von Peter B. Schumann | 29.05.2010
    "Von hier gehen wir nicht mehr weg, bis der kollektive Arbeitsvertrag und unser Recht auf eine würdige Arbeit sowie auf eine würdige Altersversorgung wieder in Kraft gesetzt wurden. Diesen Platz verlassen wir erst, wenn die Rechte der Mexikanischen Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter wieder respektiert werden. Es lebe unsere Gewerkschaft!"

    Seit diesem Aufruf vor fünf Wochen stehen weiße Zelte auf dem Zócalo, dem riesigen Versammlungsplatz vor dem Präsidentenpalast. Darin liegen auf Pritschen 85 Männer und 12 Frauen: Sie befinden sich im Hungerstreik. Einige mussten inzwischen ins Krankenhaus eingeliefert werden, weil die betreuenden Ärzte eine Fortsetzung der Aktion für lebensbedrohlich hielten. Andere Kollegen haben ihren Platz eingenommen. Einer von ihnen ist Miguel García. Er hat bereits 10 kg an Gewicht verloren.
    "Von dieser verdammten Regierung können wir nichts erwarten. Sie hat uns von vorne bis hinten betrogen. Deshalb werden wir unseren Kampf fortsetzen – trotz der Kopf- und Magenschmerzen, der Nieren- und Kreislaufprobleme, unter denen wir alle leiden, und trotz des Lärms, des Regens, der Kälte und Hitze auf diesem Platz: Wir bleiben, wenn nötig bis zur letzten Konsequenz."

    Es war Samstag, der 10. Oktober 2009, spät am Abend. Viele Mexikaner verfolgten im Fernsehen das Fußballspiel ihrer Nationalmannschaft gegen El Salvador, bei dem es um die Teilnahme an der Weltmeisterschaft ging. Da besetzten Einheiten der Bundespolizei in Mexico-Stadt das Elektrizitätswerk Luz y Fuerza del Centro und riegelten es hermetisch ab. Es war bis dahin für die Stromversorgung der Metropole verantwortlich, also für eines der größten mexikanischen Wirtschaftszentren. Am nächsten Tag lieferte Präsident Calderón die etwas verklausulierte Begründung nach.

    "Die Körperschaft wies eine unerträgliche finanzielle Situation auf. Ihre Kosten beliefen sich quasi auf das Doppelte ihrer Einkünfte. Die wirtschaftlichen Verluste nahmen Jahr für Jahr zu und waren schließlich unbezahlbar. Auch wurde der größte Teil ihrer Mittel, den sie durch die Tarifzahlungen der Mexikaner erhielt, nicht für die Verbesserung von Dienstleistungen ausgegeben, sondern vor allem für die Bezahlung von Privilegien und zusätzlichen Aufwendungen, eine Situation, die sich jährlich verschärft hat."

    Darunter verstand der Präsident allerdings nicht die Millionenbeträge, die eine Gruppe von Spitzenmanagern – laut einer Untersuchung des mexikanischen Bundesrechnungshofs – veruntreut hat. Er zielte auf einen ganz anderen Verantwortlichen: die Mexikanische Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter, kurz SME, und behauptete:

    "Fast alle Entscheidungen der Unternehmensführung konnten nur mit Erlaubnis der Gewerkschaft getroffen werden. Das heißt, dass sie – weit über alle Notwendigkeiten hinweg und an den Bedürfnissen der Bürger vorbei – meist von den Interessen der Gewerkschaft abhingen."

    Deshalb liquidierte Präsident Calderón nicht nur das Unternehmen, sondern damit auch die Vertretung seiner Arbeiter. Am Montag, dem 12. Oktober, wurden 44.600 Gewerkschaftler arbeitslos – inmitten einer galoppierenden Wirtschaftskrise. Den Betrieb übernahmen zunächst nicht organisierte Mitarbeiter, später private Firmen, die Verwaltung wurde einer anderen Gesellschaft übertragen. Jedem, der seiner Entlassung schriftlich zustimmte, bot die Regierung eine Entschädigung an. Aber 17.000 misstrauten der Offerte und verlangen seither Arbeit: das heißt die Erfüllung der Verträge.

    Sitz der Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter in der Insurgentes-Sur. Ein schlichtes Bürogebäude, das früher ein Krankenhaus war. In der Eingangshalle treffen sich jeden Mittag zahlreiche Mitglieder, um Neuigkeiten zu erfahren und vielleicht ein paar Peso zu erhalten von den Spenden, die überall gesammelt werden. Ein offizielles Streikgeld der Gewerkschaft existiert nicht.

    Einen Stock höher beginnen die Büroetagen. Hier geht es etwas ruhiger zu. Jessica, 29 Jahre, ist mit heraufgekommen, um ihre Situation zu erklären. Sie hat früher in der Verwaltung des Werks gearbeitet und gehört heute zu denen, die ihre Entlassung nicht akzeptieren wollen.

    Im Fernsehen wird ständig gelogen und behauptet, die Regierung würde uns gut behandeln, aber das ist ganz und gar nicht so. Ich habe zum Beispiel neun Jahre lang bei Luz y Fuerza gearbeitet. Und nun bot mir die Regierung freundlicherweise als Entschädigung, inclusive aller Zusatzleistungen, ganze 150.000 Peso an, das heißt noch nicht einmal 10.000 Euro für neun Jahre. Ich will auch arbeiten, aber ich finde nicht einmal eine neue Stelle, weil wir alle auf einer schwarzen Liste stehen. So wie man uns als ehemalige Mitarbeiter von Luz y Fuerza ausmacht, behandelt man uns wie Verbrecher. Wir können lediglich als Straßenhändler irgendwelchen Kram verkaufen. Keiner von uns, ganz gleich ob er die Abfindung akzeptiert hat oder nicht, hat eine feste Arbeit gefunden."

    Jorge Luis Vargas, Facharbeiter für Verkabelung, hat 28 Jahre für das Werk gearbeitet und muss nun um seine Altersversorgung bangen.

    "Im Dekret des Präsidenten wurde erklärt, dass man alle unsere Rechte erfüllen werde, aber dem ist nicht so. Wir wissen bis heute nicht, was aus unserer Gewerkschaftsversicherung für den Fall unseres Ablebens wird, wo das Geld überhaupt geblieben ist, die 2,5 Prozent, die sie dafür von unserem Lohn abgezogen haben. Oder was aus unseren Häuschen wird, aus den Bankkrediten, die wir durch den Kollektivertrag mit dem Unternehmen zu günstigeren Bedingungen erhalten haben. Man hat uns auf die Straße gesetzt und in 8 Monaten hat es nicht die geringste Möglichkeit gegeben, unsere Anliegen vorzubringen, was in jedem zivilisierten Land möglich ist. Das ist eine Verletzung der Menschenrechte."

    Die Mexikanische Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter wurde bereits 1914 gegründet, als eine Errungenschaft der Revolution. Die SME war zwar lange Zeit Teil des korporativen, politischen Machtsystems. Aber sie vertrat kämpferischer als andere Gewerkschaften die Rechte der Arbeiter und wehrte sich heftig gegen alle Bestrebungen, den Energiesektor zu privatisieren. Für die rechtskonservative Regierung der PAN war sie deshalb eine oppositionelle Kraft, die auf diese Weise beseitigt werden konnte. Dabei geht es der Regierung Calderón zurzeit weniger um den Strom als um das Stromnetz. Fernando Amezcua, Sprecher der Gewerkschaft:

    "Durch die neuen Technologien können jährlich bis zu sechs Milliarden Dollar Gewinn erzielt werden mit Hilfe der Glasfaserkabel, die wir von Steuermitteln verlegt haben. Das soll nun an private nationale und transnationale Telekommunikations-Gesellschaften verkauft werden. Sie haben wohl immensen Druck auf die Regierung ausgeübt, denn sie hatten ihr geholfen, an die Macht zu kommen, und bei diesem Geschäft stand die Gewerkschaft im Weg."

    Die Elektrizitätsarbeiter auf dem Zócalo werden weiterstreiken für ihre Rechte und gegen die Privatisierung des Stromsektors – für zwei Errungenschaften der Mexikanischen Revolution, die vor 100 Jahren begann.