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Ausverkauf der Werte?

Die die Scheidungsrate in Ägypten liegt mit 40 Prozent auf deutschem Niveau, doch die Statistik weist eine Besonderheit auf: Viele Ehen enden schon im ersten Jahr. Sich gründlich kennenzulernen scheint schwierig zu sein in einem Land, in dem sogar das Küssen in der Öffentlichkeit verboten ist.

Von Esther Saoub | 12.06.2010
    Die Hochzeit - ist der wichtigste, aber längst nicht immer der glücklichste Tag im Leben einer Ägypterin. Monate vorher häufen sich in der elterlichen Wohnung Kleider, Möbel, Küchengeräte und: Ängste. Zeit zum Nachdenken bleibt ihr kaum, denn die Gesellschaft schreibt vor, wie das große Ereignis abzulaufen hat, und vor allem wann. Hanan, Ökonomin und in Deutschland aufgewachsen, erinnert sich noch gut an die Zeit vor ihrer Hochzeit.

    Das ist jetzt neun Jahre her, inzwischen hat Hanan eine Tochter und ist geschieden. Die Enttäuschung setzte damals schon in den Flitterwochen ein. Kein seltenes Phänomen, sagt die Eheberaterin Georgette Savidis. Ihr Beruf ist im Kommen: Was früher ein Tabu war, wird langsam zur Mode. "Die Paare kommen zu mir, wenn sie kurz vor der Scheidung stehen" sagt Savidis. Und sucht nach Ursachen dafür, dass sich so viele schon im ersten Jahr wieder trennen; eine mögliche Erklärung ist der gesellschaftliche Druck:

    "Eine junge Frau trifft einen Mann, er ist sympathisch, führt sie aus, also denkt sie: Okay, den kann ich heiraten. Sie machen eine riesige Hochzeit, alle Freundinnen sind begeistert, sie ist ganz stolz auf ihren Ring - doch dann schließt sich die Tür hinter ihr und sie fragt sich: Wer ist das eigentlich?"

    Wer sich fest vornimmt, zu heiraten, schaut über vieles hinweg, was ihn am anderen stören könnte, sagt Savidis. Aber das funktioniert eben nur eine gewisse Zeit lang:

    "Das Problem beginnt da, wo der Alltag anfängt: Zwei Personen tragen Verantwortung, die wunderschöne Maske der Flitterwochen bröckelt und die Wirklichkeit scheint durch: Wer ruhig war, wird plötzlich nervös, der Geduldige wird ungeduldig. Gestern hatte ich ein Paar hier: Er regt sich auf, weil sie mit den Sicherheitsleuten in Hotels Streit anfängt, sie ärgert sich, dass er die Gabel in der Linken und nicht in der Rechten Hand hält."

    Die beiden großen Städte Kairo und Alexandria haben die höchsten Scheidungsraten in Ägypten und zwar quer durch alle Schichten.

    "Jeder macht dem anderen am Anfang was vor", sagt diese junge Frau in der Kairoer Innenstadt. "Du versuchst, perfekt auszusehen, aber nach der Hochzeit zeigt jeder sein wahres Gesicht. Entweder zu akzeptierst diese Wirklichkeit, und lebst mit ihr, versuchst sie vielleicht zu ändern, oder du stößt dich an ihr: Dann kommt es zur Trennung."

    Ein Paar kommt vorbei: sie stark geschminkt mit pinkem Kopftuch und engem Hosenanzug, er hält stolz ihre Hand. in der anderen trägt er ihre Handtasche.

    "Wenn zwei sich nicht aneinander gewöhnen, oder sehr verschieden sind, dann trennen sie sich eben wieder", sagt die junge Frau lapidar.

    "Vor der Ehe muss Liebe da sein", fügt er hinzu. "Man muss einander gut kennenlernen, sich verständigen, und: Jeder sollte zurückstecken. Wir sind seit drei Monaten verlobt und werden auch noch nicht so bald heiraten. Aber wir kennen uns schon gut."

    Nur: Was heißt gut in einer Gesellschaft, in der sogar das Küssen in der Öffentlichkeit verboten ist? Selbst in der westlich orientierten, wohlhabenden Oberschicht sind nur wenige Paare wirklich einmal ungestört, bevor sie heiraten. Jeder wohnt bei seinen Eltern, man trifft sich im Café, reisen geht höchstens in einer Gruppe. Alles andere kommt dann schlagartig an dem einen großen Tag.

    Georgette Savidis: "Die meisten Paare haben sexuelle Probleme. Viele haben vor der Ehe keine Möglichkeit gehabt, eine intime Beziehung zu leben. Wenn sie dann heiraten entdeckt zum Beispiel die Braut, dass er ein Problem hat, dass er nicht ehrlich war. Oder sie harmonieren nicht, können die Art des anderen einfach nicht akzeptieren."

    Früher haben die Frauen sich gefügt, sie waren abhängig von ihrem Mann und wollten die Familie nicht zerstören. Heute sind viele unabhängig, emotional und auch finanziell. Immer öfter bitten Frauen ihren Mann, die Scheidung auszusprechen. Scheidung ist normal geworden - allerdings nur statistisch.

    Hanan: "Die Frauen haben meistens Angst, Sie ist nicht sehr beliebt, die geschiedene Frau in dieser Gesellschaft."

    In diesem Moment kommt Mariam, Hanans Nachbarin. Auch sie ist geschieden und finanziell unabhängig von ihrem Mann, der als Professor in Saudi-Arabien arbeitet. Mariam bereut ihren Schritt nicht. Obwohl die selbstständige Buchhalterin nicht nur privat ausgegrenzt wird: Da war zum Beispiel dieses Gespräch mit dem Geschäftsführer einer Firma, für die sie die Abrechnung machen sollte:

    "Er hat genau 20 Minuten über das Geschäft gesprochen, dann ist er auf das Leben an sich gekommen und hat direkt gefragt, ob ich geschieden bin. Ich fand das sehr seltsam, habe aber ja gesagt. Er redete weiter über den Alltag und so weiter und plötzlich fragt er mich, ob ich ihn heiraten will - inoffiziell natürlich."

    Die inoffizielle, sogenannte Urfi-Ehe ist eine Verbindung auf Zeit, die nur vor dem Scheich geschlossen und nicht staatlich registriert wird. Sie kann problemlos wieder geschieden werden und bringt keine Rechte oder Pflichten mit sich. Manche Männer sehen in ihr offensichtlich eine Legalisierung des Seitensprungs:

    "Jeder Mann, der bei einer Geschiedenen landen will, erzählt ihr: er sei unglücklich in seiner Ehe, habe keine sexuelle Beziehung zu seiner Frau, und suche deshalb eine andere Beziehung außerhalb. Warum bringt er nicht erst die Dinge zuhause in Ordnung?"

    Hanan und Mariam treffen sich oft, Geschiedene suchen meistens den Kontakt zu ihresgleichen, sagen sie. Denn während die vom Ehemann verlassene, verstoßene Frau noch auf Mitleid hoffen konnte, stößt die, die sich nicht alles gefallen lässt, sondern irgendwann selbst die Scheidung verlangt, auf Unverständnis, vor allem in der eigenen Familie. Deine Probleme interessieren keinen, sagt Hanan, die Scheidung ist einfach eine Schande. Ein Neuanfang ist gar nicht so einfach:

    Hanan: "Ich denke oft nach und denke: Einen richtigen Partner zu finden wäre schön. Es sagen mir zwar viele: und deine Tochter? Warum holst du ihr einen fremden Mann ins Haus? Der wird doch nie gut mit ihr sein. Also die Familie will das natürlich nicht, dass du wieder heiratest. Aber ich wünsche es mir schon, eine Beziehung zu haben, die auch funktioniert. Das wär doch schön!"