Der Fiat-Vorstandschef Giuseppe Morchio vor einem Monat in der Turiner Fiat-Zentrale Lingotto. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, Journalisten aus aller Welt wollen wissen, wie Morchio den Fiat-Konzern aus der schwersten Krise seiner über 100-ährigen Geschichte führen will.
Morchios Rezept ist einfach und plausibel: Mehr als 12.000 Mitarbeiter will Fiat bis zum Jahre 2006 weltweit entlassen – 12 Fabriken sollen dabei verschwinden. In der gleichen Zeit will der Konzern Milliardenbeträge in die Sanierung seiner Unternehmenssparten investieren. Wer von dem neuen Fiat-CEO – dem fünften Fiat-Vorstandschef innerhalb eines Jahres - Wunder erwartete, wurde enttäuscht. Morchio, der sich als Sanierer des Mailänder Reifen- und Kabelkonzerns Pirelli einen Namen gemacht hat, gibt sich auffallend zurückhaltend.
Ich glaube nicht, dass man einen Plan verkünden kann, und man damit einen sofortigen Wandel herbeiführt oder eine Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung. Dies schafft man nur durch die Vorlage besserer Monats- und Quartalsergebnisse. 13.04 Wie Sie wissen, arbeiten wir daran, Fiat Auto wieder ganz nach oben zu bringen. 1.01 Und dies ist ein Plan, der unsere Perspektiven sehr vorsichtig zum Ausdruck bringt. Ich arbeite seit dem 28. Februar um 14.30 Uhr bei Fiat, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.
Giuseppe Morchio hat in Turin ein schweres Erbe übernommen: Seit der Gründung des nach wie vor größten italienischen Arbeitgebers im Jahre 1899 hatte es in Turin immer wieder Krisen gegeben – doch nie haben sie den Konzern so in seiner Substanz bedroht wie diesmal. Im vergangenen Jahr musste der Konzern Verluste von mehr als vier Milliarden Euro melden – ein absoluter Rekord in der Firmengeschichte. Es seien lediglich "schwierige Übergangsjahre", meinte Konzernpräsident und Hauptaktionär Umberto Agnelli bei der Hauptversammlung der Fiat-Aktionäre im Frühjahr. Doch jeder weiß, dass diese "Übergangsjahre" durchaus auch die letzten Jahre des Fiat-Konzerns bedeuten könnten – nämlich dann, wenn man in den kommenden Jahren nicht mehr aus den roten Zahlen herauskommt.
Hauptverlustbringer des Konzerns: Die Autosparte. Experten warnen das Fiat-Management schon seit Jahren: Während der Konzern in immer neue Geschäftsfelder expandierte und hartnäckig seine Diversifizierungsstrategie verfolgte, knickte das traditionelle Kerngeschäft der Gruppe – das Auto - immer mehr ein. Fiat übernahm Italiens drittgrößte Versicherungsgesellschaft Toro, produzierte mit der Raumfahrttochter Avio für die internationale Luftfahrt, und leistete sich mit dem Dienstleister Fidis eine eigene Finanzierungstochter für die Automobil-Kundschaft. Noch vor drei Jahren hieß es stolz aus Turin, dass die Einnahmen durch Dienstleistungen für den Umsatz immer wichtiger werden würden. "Business Solutions" heißt eine Fiat-interne Konzerneinheit, die die Dienstleistungsaktivitäten der Gruppe bündelt. Fiats wohl größter Fehler: Man hielt auch dann noch an diesem Kurs fest, als es mit der Autotochter immer stärker bergab ging. Folge: Die Autosparte fuhr Fiat in 2002 einen historischen Betriebsverlust von 1,3 Milliarden Euro ein.
Experten und Manager ziehen nun Bilanz: Zum Beispiel der Turiner Autodesigner Andrea Pininfarina. Sein Familienunternehmen hat früher vor allem im Auftrag Fiats gearbeitet. Doch das ist lange her. Turins feine Design-Schmieden – die Pininfarinas, Giugiaros und Bertones – sie alle arbeiten längst für internationale Auftraggeber.
Wir haben es von Anfang an gesagt: Fiat muss sich auf etwas konzentrieren. Entweder man konzentriert sich ganz auf die Autosparte oder man verkauft sie und macht etwas Anderes. In diesem Geschäft gibt es keinen Zwischenweg – entweder oder. Eine Gruppe in der Größenordnung Fiats muss alle seine Ressourcen auf eine konkrete Linie hin ausrichten und konzentrieren. Das ist der einzige Weg zum Erfolg. Nur so kann man auch den Ansprüchen der Kunden genügen. Das hat man in der Vergangenheit vernachlässigt, während Neulinge wie die Koreaner genau das gemacht haben.
Früher hatte Fiat mit dem schlechten Ruf zu kämpfen, man produziere rost- und problemanfällige Billigautos. Das Problem Fiats in den vergangenen Jahren aber war ein anderes: Ein ganz und gar fehlendes Modellangebot, findet Italiens dienstältester und prominentester Wirtschaftsjournalist Giuseppe Turani von der großen italienischen Tageszeitung "Repubblica". Er erinnert sich noch an die goldenen 50er und 60er Jahre – als nicht nur die Turiner Fabrikhallen voller neuer Autos waren, sondern auch Italiens Straßen.
Wenn Sie mal genau nachdenken, stellen Sie fest, dass Fiat seit Ende der 80er Jahre kein wirkliches Erfolgsmodell mehr auf den Markt gebracht hat. Das ist der eigentliche Horror der Fiat-Führung: Es gibt keine Bestseller mehr. Das war lange Zeit die angesagte Strategie: Um einigermaßen gute Bilanzen zu haben, hat man kaum noch Geld investiert, vor allem nicht ins Autogeschäft. Ein klassischer Fehler. Bis man irgendwann festgestellt hat, dass man auch gute Modelle braucht, um Geld zu verdienen und schöne Bilanzen zu haben. Nur hat man das leider sehr spät erkannt: Fiat hat keine Autos mehr. Zum Glück ist endlich nach über 20 Jahren der Fiat Panda vom Markt genommen worden ein süßes kleines Auto, das wir alle sehr gerne haben. Aber ich bitte Sie: In einer Zeit, in der täglich überall auf der Welt neue Autos auf den Markt kommen, machte es nicht gerade Eindruck, immer noch ein 25 Jahre altes Auto im Programm zu haben.
Die fehlende Modellpolitik blieb nicht ohne Folgen: Vor allem in Italien, wo jahrzehntelang Fiat-Autos das Straßenbild bestimmten, verloren die Turiner an Terrain. Im Laufe eines Jahres sank der Marktanteil auf dem Heimatmarkt von 35 auf unter 30 Prozent, bei den Erstzulassungen brach Fiat um mehr als 20 Prozent ein. Die Fiat-Führung tat sich schwer, die Verluste in der Öffentlichkeit als Folge einer weltweiten Automobilkrise zu erklären. Denn im gleichen Zeitraum wiesen Konkurrenten wie Peugeot, Renault oder Volkswagen steigende Verkaufszahlen in Italien aus – für Fiat ein Desaster. Die Regierung unter Silvio Berlusconi versuchte im vergangenen Jahr, den Fiat-Absatz mit Steuererleichterungen und Verschrottungsprämien beim Neuwagenkauf anzukurbeln, jedoch vergeblich. Von den staatlichen Incentive-Maßnahmen profitierte vor allem die Konkurrenz, nicht aber Fiat.
Das Jahr 2003 begann für Fiat, wie das vergangene Jahr aufgehört hatte: mit großen Verlusten. Allein die Autosparte fuhr im ersten Quartal ein Minus von 334 Millionen Euro ein. Gerade das vergangene Jahr habe gezeigt, dass Fiat nicht mehr wettbewerbsfähig sei, meint Antonio Panzeri, bei der Großgewerkschaft CGIL zuständig für den Automobilbereich:
Ich bin der Meinung, dass Fiat an der Globalisierung der Autoindustrie gescheitert ist. Man hat zu wenig investiert, vor allem zu wenig in Qualität. Ich sage das bewusst, denn nicht alle Autokonzerne befinden sich in der Krise, und niemand leidet zurzeit so stark wie Fiat. Es gibt sogar Unternehmen, die wachsen, während Fiat von Monat zu Monat weiter verliert. Also müssen die Probleme hausgemacht sein, irgendetwas funktioniert hier nicht.
Dass irgendetwas nicht funktioniert, wissen die Turiner schon lange. Die frühere italienische Hauptstadt ist seit mehr als 100 Jahren das Zentrum der italienischen Automobilindustrie. Doch die Zeiten, als ganze süditalienische Dörfer nach Turin umzogen, um dort in der Autoindustrie Fiats Arbeit zu finden, sind längst vorbei. Noch im Jahre 1990 arbeiteten weltweit 300.000 Menschen für Fiat – heute sind es gerade noch 186.000. In der Millionenstadt Turin und seinem piemontesischen Hinterland, wo in den fetten 50er und 60er Jahren so gut wir jeder bei Fiat oder in der Zulieferindustrie beschäftigt war, arbeiten heute gerade noch 40.000 Menschen bei Fiat.
Kurzarbeit hatte es bei Fiat seit den 70er Jahren immer wieder mal gegeben, doch noch nie hatte die Krise so viele Arbeitsplätze vernichtet wie in den vergangenen Monaten. Ein erster großer Sanierungsplan wurde im vergangenen Herbst vorgelegt. Kern der Sanierung: 5.600 Arbeitsplätze wurden sofort in ganz Italien gestrichen, weitere 2.500 in den folgenden Monaten. Die Fiat-Spitze entschied, zwei Werke sofort zu schließen: Die Produktionsstätte Termini Imerese auf Sizilien und das Alfa-Romeo-Werk Arese nördlich von Mailand. Offiziell wurde in Italien niemand entlassen – die Arbeiter wechselten lediglich nur in die so genannte "Cassa Integrazione", eine italienische Form der staatlichen Lohnausgleichskasse. Gezahlt werden maximal rund 700 Euro pro Monat, und dies höchstens für ein Jahr. Ein in Italien sehr umstrittenes Modell: Kritiker werfen Fiat schon seit Jahrzehnten vor, seine wirtschaftlichen Probleme auf die Schultern der italienischen Steuerzahler abzuladen.
Nach der Bekanntgabe seiner Entlassungspläne hatte Fiat plötzlich noch mehr Feinde: Die Branchen-Analysten und Rating-Agenturen, weil Ihnen die Kürzungen nicht weit genug gingen. Die italienische Regierung unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi, weil sie befürchtete, die Entlassungen beim größten italienischen Arbeitgeber könnten auf sie selbst zurückfallen und als politische Schwäche Roms ausgelegt werden. Und die Gewerkschaften, die im ganzen Land Massendemonstrationen gegen die Personalpolitik bei Fiat organisierten. Vor dem Amtssitz Berlusconis in Rom veranstalteten rabiate Ehefrauen entlassener sizilianischer Fiat-Arbeiter tagelange Sit-Ins und hielte Plakate in die Luft, auf denen stand: "Ihr seid allesamt Schwindler, eine Schande." Die traditionelle Saisoneröffnung am Mailänder Opernhaus "La Scala" im Dezember wurde zu einer politischen Demonstrationsveranstaltung: Gewerkschaftsvertreter stürmten die Bühne und verlasen dort ihre Forderungskataloge. Einen Moment lang sah es so aus, als würde die Regierung selbst bei Fiat einsteigen und im Zuge einer Kapitalerhöhung rund 30 Prozent an dem maroden Konzern übernehmen. Teilverstaatlichungs-Pläne, die schnell wieder vom Tisch waren. Berlusconi und sein Schatzminister Giulio Tremonti hatten erkannt, dass ein solcher Schritt von der Europäischen Union blockiert worden wäre.
Dabei wäre den Gewerkschaften der Einstieg des Staates willkommen gewesen - ihnen geht es hierbei nicht um Wettbewerbsregeln, sondern um Arbeitsplätze. Direkt gegenüber des Turiner Fiat-Stammwerkes Mirafiori im Turiner Corso Unione Sovietica sitzen seit Monaten Vertreter der Gewerkschaft FIOM und entwerfen Planspiele – was bedeutet die Fiat-Krise für die Stadt Turin? Claudio Staccchini hat eine Langzeit-Studie zur Entwicklung Fiats verfasst, die von den schlimmsten Szenarien ausgeht:
Die Zahlen sprechen für sich: Die Produktionszahlen gehen immer weiter zurück. Von 600.000 produzierten Autos in 1997 sind wir in Turin und Umgebung auf 360.000 in 2001 zurückgegangen, in 2002 waren es noch 300.000, und in 2003 sind es noch weniger. Die Produktionen des Fiat Panda und des Fiat Marea laufen aus. Das Nachfolgemodell des Panda wird in Polen produziert, der Fiat-Marea wird in der Türkei weitergebaut. Im Laufe von sechs Jahren hat Turin einen Produktionsrückgang von 65 bis 70 Prozent hinnehmen müssen. Damit wird der Standort Turin ernsthaft in Frage gestellt – für den heimischen Arbeitsmarkt ist das eine Katastrophe. Die Autoproduktion und ihre Zulieferbetriebe machen im Großraum Turin 60 bis 70 Prozent aller Produktionsaktivitäten aus. Zu jedem Arbeitsplatz, der bei Fiat in Turin verloren geht, müssen wir weitere Arbeitsplätze hinzuzählen, die in den Zulieferbetrieben wegfallen. Wir nennen das, was passiert, eine "Strategie des Fallenlassens".
Turin fühlt sich von Fiat im Stich gelassen. Zwar versucht die Stadt seit einigen Jahren, sich als High-Tech- und Dienstleistungszentrum zu etablieren. Ein schwieriges Unterfangen, nachdem die Stadt mehr als 100 Jahre lang im Schatten Fiats gestanden hat. Zurzeit setzt die Kommune auf die olympischen Winterspiele im Jahre 2006, die in Turin und Umgebung ausgetragen werden. Hotels werden gebaut, Ski-Pisten erneuert – doch jeder weiß, dass die Olympiade keine langfristigen Arbeitsplätze schaffen wird. Der Turiner Giorgio Airaudo von der Gewerkschaft Fiom winkt daher ab: Die Lage Turins sei schlechter, als dies die Stadtpolitiker und Fiat-Manager zugeben würden:
Im Gegensatz zu Fiat ist Turin als Stadt nicht diversifiziert. Es gibt zu wenig Ideen, die die Stadt voranbringen. Die Stadt hat sich zu lange auf seine Mutter Fiat verlassen – mehr als eine Mutter ist Fiat jedoch eine Stiefmutter gewesen. Mit Hilfe der Diversifizierung wird es Fiat irgendwie schaffen, zu überleben und in einzelnen Bereichen wieder Gewinne zu erwirtschaften. Das Problem ist, dass Turin eine Industriestadt ist und eine Industriestadt bleiben wird. Es gibt keinen wirklich nennenswerten Strukturwandel. Wir müssen uns mit einem abfinden: Das Schicksal Fiats hat sich nach über 100 Jahren vom Schicksal Turins getrennt.
Der Fiat-Ehrenvorsitzende Giovanni Agnelli zum 100jährigen Bestehen Fiats 1999 in der Turiner Konzern-Zentrale Lingotto. Vor vier Jahren schienen die Schicksale Turins und Fiats noch eng verknüpft. Was jedoch schon damals auffiel: Giovanni Agnelli, der Anfang des Jahres verstorbene greise Enkel des Firmengründers, sprach viel über die glorreiche Vergangenheit des Konzerns. So viel, dass ihm kaum Zeit blieb, über die Zukunft Fiats zu referieren. Die war zu diesem Zeitpunkt schon klar umrissen: Fiat wusste, dass man allein kaum Chancen haben würde, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Der damalige Fiat-Präsident Paolo Fresco, früher Manager beim US-Riesen General Electric, sollte in den USA die Chancen für ein US-europäisches Auto-Joint-Venture sondieren. Fresco fand mit General Motors einen Partner, schnell war von milliardenschweren Synergien die Rede, die durch die Kooperation entstehen würden. Der wichtigste Teil der Vereinbarung zwischen Turin und Detroit: GM übernahm 20 Prozent der Aktien an der Fiat-Autosparte und wurde so zum zweitwichtigsten Aktionär der defizitären Fiat-Tochter.
Der zweite Teil der Vereinbarung sorgt bis heute für Aufsehen: Fiat und General Motors vereinbarten eine "Put-Option", die im Januar 2004 in Kraft tritt. Die Option gibt Fiat die Möglichkeit, die restlichen 80 Prozent seiner Autosparte ab Januar nächsten Jahres zum entsprechenden Marktpreis ebenfalls an die Amerikaner abzugeben. Eine Vereinbarung mit Tücken: Von den Amerikanern weiß man, dass sie ihre Entscheidung längst bereut haben, denn sie müssten die Autosparte übernehmen, wenn Fiat sie anbietet – ob sie es nun selbst wollen oder nicht. Wahrscheinlich würde GM in diesem Fall die meisten Produktionsorte in Italien schließen. Schwere Konflikte mit der italienischen Regierung wären hierbei nicht zu vermeiden. Welche Auswirkungen ein Totalverkauf an GM auf den heimischen Arbeitsmarkt hat, wagt sich bisher noch niemand wirklich vorzustellen.
Fest steht nur: Die Beziehungen zwischen Fiat und GM sind zurzeit alles andere als rosig. Zuletzt lud Fiat GM ein, sich an einer Kapitalerhöhung der Autosparte im Wert von fünf Milliarden Euro zu beteiligen – eine Milliarde dafür soll aus Detroit kommen. Doch General-Motors Chef Rick Wagoner hielt sich bedeckt – GM hat offenbar kein Interesse daran, zurzeit Geld nach Turin zu schicken, um dort die Autosparte zu sanieren. Bei der Vorstellung seines Rettungsplans vor vier Wochen wich der neue Fiat-Vorstandschef Giuseppe Morchio entsprechenden Fragen aus.
Die Zusammenarbeit mit GM verläuft hervorragend, auch auf persönlicher Ebene. Ein großes Lob für das großartige Management von GM, das sehr professionell arbeitet und mit dem ich beste Kontakte unterhalte. Das ist der erste Punkt. Der zweite: In Sachen Synergien läuft alles bestens, unser Joint-Venture läuft. Drittens: Was eine mögliche Beteiligung von GM an einer Kapitalerhöhung Fiats betrifft – da kann ich wirklich nichts zu sagen.
Egal wie sich GM entscheidet: Morchio ist dabei, seine Gruppe wieder zu dem machen, was sie einmal war: ein reiner Auto- und Motorenkonzern. Was man im Laufe von Jahren dazugekauft hatte, um Fiat zu diversifizieren, wurde in den vergangenen Monaten abgestoßen. Eine in Italien einmalige Verkaufsaktion, die Fiat rigoros durchgeführt hatte. Anfang Juli ging die Luft- und Raumfahrttochter Avio für 1,5 Milliarden Euro an den US-Fonds Carlyle und das italienische Rüstungsunternehmen Finmeccanica. Zuvor hatte Fiat seine Versicherungstochter Toro, Italiens drittgrößte Assekuranz, und den Autofinanzierer Fidis verkauft. Insgesamt sieben Milliarden Euro nahm Fiat mit seinen Verkäufen ein – Geld, das man dringend braucht, um die noch zu Fiat gehörenden Geschäftssparten zu sanieren. Viel ist heute nicht mehr übrig: Neben der Autosparte ist Fiat noch mit Iveco im Lastkraftwagen-Geschäft aktiv, mit Case New Holland produziert Fiat noch Erdbewegungs-Fahrzeuge. Zudem hält Fiat gemeinsam mit dem französischen EdF-Konzern noch das italienische Energieunternehmen Edison.
Insgesamt 19,5 Milliarden Euro will der Konzern nun aufbringen, um sich aus der Krise zu ziehen, mehr als die Hälfte davon soll in den kommenden drei Jahren in neue attraktive Automodelle investiert werden – nur die wenigsten davon werden jedoch in Italien gebaut. Nevio Di Giusto ist Chefentwickler bei Fiat in Turin, und damit zurzeit einer der wichtigsten Männer innerhalb des Konzerns. Von ihm hängt die Produktpolitik der kommenden Jahre ab.
Dieses Jahr ist für uns außerordentlich wichtig. Wir präsentieren eine ganze Reihe von neuen Automodellen. Es sind Innovationen, mit denen wir wieder zurück zum Erfolg wollen. Wir haben einen neuen, technisch vollkommen überarbeiteten Punto, den neuen Lancia Y, im Herbst dann wieder neue Modelle, unter anderem den Fiat Idea im Oktober. Für uns heißt das: Für die Marken Fiat und Lancia haben wir eine völlig neue Produktpalette im Programm.20.10 Wir haben die Vorgabe, bis 2005 jedes Jahr 2,6 Milliarden Euro in neue Automodelle zu investieren. Und das setzen wir jetzt um, die neuen Produkte sind deswegen zentral. 22.00 Wir müssen wieder schöne Autos bauen – denn Autos müssen in erster Linie schön sein, weil man sie zunächst mit den Augen kauft. Zweitens muss man ihnen vertrauen können, das ist wichtig. Und drittens, das gilt insbesondere für uns bei Fiat, müssen sie im Design und technisch innovativ sein.
Bei Fiat und auch in Turin weiß man genau, dass sich diese Investitionen lohnen müssen. Gerade jetzt, wo sich der Konzern zurückgezogen hat auf das alte Kerngeschäft und seine lukrativen Dienstleistungs-Töchter verkauft hat, darf die Autosparte nicht scheitern. Noch halten die Gläubigerbanken Fiat trotz seiner Milliardenverluste aufrecht – doch auch die Kreditinstitute wollen positive Ergebnisse sehen, bevor sie dem Konzern weitere Finanzspritzen geben. Im schlimmsten Fall müsste Fiat tatsächlich seine Autosparte an General Motors verkaufen, und dies würde die italienische Wirtschaft grundlegend verändern. Ein letztes Stück italienischen Familienkapitalismus wäre damit gestorben, meint Professor Valerio Castronovo, Turiner Wirtschaftshistoriker und Biograf der Fiat-Familie Agnelli.
Im Grunde ist Fiat ja heute noch eine Art konstitutioneller Monarchie. Es ist keine absolute Monarchie mehr, wie vor 100 Jahren in der Anfangszeit, aber es ist immer noch eine Monarchie – da es heute viele externe Manager gibt, können wir sie ruhig eine konstitutionelle Monarchie nennen. Der Hauptaktionär ist immer noch die Familie – und die wiegt schwer. Alles ist immer noch Familienpolitik, der Tresor Fiats, der steht noch im Wohnzimmer der Agnelli-Familie.
Morchios Rezept ist einfach und plausibel: Mehr als 12.000 Mitarbeiter will Fiat bis zum Jahre 2006 weltweit entlassen – 12 Fabriken sollen dabei verschwinden. In der gleichen Zeit will der Konzern Milliardenbeträge in die Sanierung seiner Unternehmenssparten investieren. Wer von dem neuen Fiat-CEO – dem fünften Fiat-Vorstandschef innerhalb eines Jahres - Wunder erwartete, wurde enttäuscht. Morchio, der sich als Sanierer des Mailänder Reifen- und Kabelkonzerns Pirelli einen Namen gemacht hat, gibt sich auffallend zurückhaltend.
Ich glaube nicht, dass man einen Plan verkünden kann, und man damit einen sofortigen Wandel herbeiführt oder eine Änderung in der öffentlichen Wahrnehmung. Dies schafft man nur durch die Vorlage besserer Monats- und Quartalsergebnisse. 13.04 Wie Sie wissen, arbeiten wir daran, Fiat Auto wieder ganz nach oben zu bringen. 1.01 Und dies ist ein Plan, der unsere Perspektiven sehr vorsichtig zum Ausdruck bringt. Ich arbeite seit dem 28. Februar um 14.30 Uhr bei Fiat, und Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut.
Giuseppe Morchio hat in Turin ein schweres Erbe übernommen: Seit der Gründung des nach wie vor größten italienischen Arbeitgebers im Jahre 1899 hatte es in Turin immer wieder Krisen gegeben – doch nie haben sie den Konzern so in seiner Substanz bedroht wie diesmal. Im vergangenen Jahr musste der Konzern Verluste von mehr als vier Milliarden Euro melden – ein absoluter Rekord in der Firmengeschichte. Es seien lediglich "schwierige Übergangsjahre", meinte Konzernpräsident und Hauptaktionär Umberto Agnelli bei der Hauptversammlung der Fiat-Aktionäre im Frühjahr. Doch jeder weiß, dass diese "Übergangsjahre" durchaus auch die letzten Jahre des Fiat-Konzerns bedeuten könnten – nämlich dann, wenn man in den kommenden Jahren nicht mehr aus den roten Zahlen herauskommt.
Hauptverlustbringer des Konzerns: Die Autosparte. Experten warnen das Fiat-Management schon seit Jahren: Während der Konzern in immer neue Geschäftsfelder expandierte und hartnäckig seine Diversifizierungsstrategie verfolgte, knickte das traditionelle Kerngeschäft der Gruppe – das Auto - immer mehr ein. Fiat übernahm Italiens drittgrößte Versicherungsgesellschaft Toro, produzierte mit der Raumfahrttochter Avio für die internationale Luftfahrt, und leistete sich mit dem Dienstleister Fidis eine eigene Finanzierungstochter für die Automobil-Kundschaft. Noch vor drei Jahren hieß es stolz aus Turin, dass die Einnahmen durch Dienstleistungen für den Umsatz immer wichtiger werden würden. "Business Solutions" heißt eine Fiat-interne Konzerneinheit, die die Dienstleistungsaktivitäten der Gruppe bündelt. Fiats wohl größter Fehler: Man hielt auch dann noch an diesem Kurs fest, als es mit der Autotochter immer stärker bergab ging. Folge: Die Autosparte fuhr Fiat in 2002 einen historischen Betriebsverlust von 1,3 Milliarden Euro ein.
Experten und Manager ziehen nun Bilanz: Zum Beispiel der Turiner Autodesigner Andrea Pininfarina. Sein Familienunternehmen hat früher vor allem im Auftrag Fiats gearbeitet. Doch das ist lange her. Turins feine Design-Schmieden – die Pininfarinas, Giugiaros und Bertones – sie alle arbeiten längst für internationale Auftraggeber.
Wir haben es von Anfang an gesagt: Fiat muss sich auf etwas konzentrieren. Entweder man konzentriert sich ganz auf die Autosparte oder man verkauft sie und macht etwas Anderes. In diesem Geschäft gibt es keinen Zwischenweg – entweder oder. Eine Gruppe in der Größenordnung Fiats muss alle seine Ressourcen auf eine konkrete Linie hin ausrichten und konzentrieren. Das ist der einzige Weg zum Erfolg. Nur so kann man auch den Ansprüchen der Kunden genügen. Das hat man in der Vergangenheit vernachlässigt, während Neulinge wie die Koreaner genau das gemacht haben.
Früher hatte Fiat mit dem schlechten Ruf zu kämpfen, man produziere rost- und problemanfällige Billigautos. Das Problem Fiats in den vergangenen Jahren aber war ein anderes: Ein ganz und gar fehlendes Modellangebot, findet Italiens dienstältester und prominentester Wirtschaftsjournalist Giuseppe Turani von der großen italienischen Tageszeitung "Repubblica". Er erinnert sich noch an die goldenen 50er und 60er Jahre – als nicht nur die Turiner Fabrikhallen voller neuer Autos waren, sondern auch Italiens Straßen.
Wenn Sie mal genau nachdenken, stellen Sie fest, dass Fiat seit Ende der 80er Jahre kein wirkliches Erfolgsmodell mehr auf den Markt gebracht hat. Das ist der eigentliche Horror der Fiat-Führung: Es gibt keine Bestseller mehr. Das war lange Zeit die angesagte Strategie: Um einigermaßen gute Bilanzen zu haben, hat man kaum noch Geld investiert, vor allem nicht ins Autogeschäft. Ein klassischer Fehler. Bis man irgendwann festgestellt hat, dass man auch gute Modelle braucht, um Geld zu verdienen und schöne Bilanzen zu haben. Nur hat man das leider sehr spät erkannt: Fiat hat keine Autos mehr. Zum Glück ist endlich nach über 20 Jahren der Fiat Panda vom Markt genommen worden ein süßes kleines Auto, das wir alle sehr gerne haben. Aber ich bitte Sie: In einer Zeit, in der täglich überall auf der Welt neue Autos auf den Markt kommen, machte es nicht gerade Eindruck, immer noch ein 25 Jahre altes Auto im Programm zu haben.
Die fehlende Modellpolitik blieb nicht ohne Folgen: Vor allem in Italien, wo jahrzehntelang Fiat-Autos das Straßenbild bestimmten, verloren die Turiner an Terrain. Im Laufe eines Jahres sank der Marktanteil auf dem Heimatmarkt von 35 auf unter 30 Prozent, bei den Erstzulassungen brach Fiat um mehr als 20 Prozent ein. Die Fiat-Führung tat sich schwer, die Verluste in der Öffentlichkeit als Folge einer weltweiten Automobilkrise zu erklären. Denn im gleichen Zeitraum wiesen Konkurrenten wie Peugeot, Renault oder Volkswagen steigende Verkaufszahlen in Italien aus – für Fiat ein Desaster. Die Regierung unter Silvio Berlusconi versuchte im vergangenen Jahr, den Fiat-Absatz mit Steuererleichterungen und Verschrottungsprämien beim Neuwagenkauf anzukurbeln, jedoch vergeblich. Von den staatlichen Incentive-Maßnahmen profitierte vor allem die Konkurrenz, nicht aber Fiat.
Das Jahr 2003 begann für Fiat, wie das vergangene Jahr aufgehört hatte: mit großen Verlusten. Allein die Autosparte fuhr im ersten Quartal ein Minus von 334 Millionen Euro ein. Gerade das vergangene Jahr habe gezeigt, dass Fiat nicht mehr wettbewerbsfähig sei, meint Antonio Panzeri, bei der Großgewerkschaft CGIL zuständig für den Automobilbereich:
Ich bin der Meinung, dass Fiat an der Globalisierung der Autoindustrie gescheitert ist. Man hat zu wenig investiert, vor allem zu wenig in Qualität. Ich sage das bewusst, denn nicht alle Autokonzerne befinden sich in der Krise, und niemand leidet zurzeit so stark wie Fiat. Es gibt sogar Unternehmen, die wachsen, während Fiat von Monat zu Monat weiter verliert. Also müssen die Probleme hausgemacht sein, irgendetwas funktioniert hier nicht.
Dass irgendetwas nicht funktioniert, wissen die Turiner schon lange. Die frühere italienische Hauptstadt ist seit mehr als 100 Jahren das Zentrum der italienischen Automobilindustrie. Doch die Zeiten, als ganze süditalienische Dörfer nach Turin umzogen, um dort in der Autoindustrie Fiats Arbeit zu finden, sind längst vorbei. Noch im Jahre 1990 arbeiteten weltweit 300.000 Menschen für Fiat – heute sind es gerade noch 186.000. In der Millionenstadt Turin und seinem piemontesischen Hinterland, wo in den fetten 50er und 60er Jahren so gut wir jeder bei Fiat oder in der Zulieferindustrie beschäftigt war, arbeiten heute gerade noch 40.000 Menschen bei Fiat.
Kurzarbeit hatte es bei Fiat seit den 70er Jahren immer wieder mal gegeben, doch noch nie hatte die Krise so viele Arbeitsplätze vernichtet wie in den vergangenen Monaten. Ein erster großer Sanierungsplan wurde im vergangenen Herbst vorgelegt. Kern der Sanierung: 5.600 Arbeitsplätze wurden sofort in ganz Italien gestrichen, weitere 2.500 in den folgenden Monaten. Die Fiat-Spitze entschied, zwei Werke sofort zu schließen: Die Produktionsstätte Termini Imerese auf Sizilien und das Alfa-Romeo-Werk Arese nördlich von Mailand. Offiziell wurde in Italien niemand entlassen – die Arbeiter wechselten lediglich nur in die so genannte "Cassa Integrazione", eine italienische Form der staatlichen Lohnausgleichskasse. Gezahlt werden maximal rund 700 Euro pro Monat, und dies höchstens für ein Jahr. Ein in Italien sehr umstrittenes Modell: Kritiker werfen Fiat schon seit Jahrzehnten vor, seine wirtschaftlichen Probleme auf die Schultern der italienischen Steuerzahler abzuladen.
Nach der Bekanntgabe seiner Entlassungspläne hatte Fiat plötzlich noch mehr Feinde: Die Branchen-Analysten und Rating-Agenturen, weil Ihnen die Kürzungen nicht weit genug gingen. Die italienische Regierung unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi, weil sie befürchtete, die Entlassungen beim größten italienischen Arbeitgeber könnten auf sie selbst zurückfallen und als politische Schwäche Roms ausgelegt werden. Und die Gewerkschaften, die im ganzen Land Massendemonstrationen gegen die Personalpolitik bei Fiat organisierten. Vor dem Amtssitz Berlusconis in Rom veranstalteten rabiate Ehefrauen entlassener sizilianischer Fiat-Arbeiter tagelange Sit-Ins und hielte Plakate in die Luft, auf denen stand: "Ihr seid allesamt Schwindler, eine Schande." Die traditionelle Saisoneröffnung am Mailänder Opernhaus "La Scala" im Dezember wurde zu einer politischen Demonstrationsveranstaltung: Gewerkschaftsvertreter stürmten die Bühne und verlasen dort ihre Forderungskataloge. Einen Moment lang sah es so aus, als würde die Regierung selbst bei Fiat einsteigen und im Zuge einer Kapitalerhöhung rund 30 Prozent an dem maroden Konzern übernehmen. Teilverstaatlichungs-Pläne, die schnell wieder vom Tisch waren. Berlusconi und sein Schatzminister Giulio Tremonti hatten erkannt, dass ein solcher Schritt von der Europäischen Union blockiert worden wäre.
Dabei wäre den Gewerkschaften der Einstieg des Staates willkommen gewesen - ihnen geht es hierbei nicht um Wettbewerbsregeln, sondern um Arbeitsplätze. Direkt gegenüber des Turiner Fiat-Stammwerkes Mirafiori im Turiner Corso Unione Sovietica sitzen seit Monaten Vertreter der Gewerkschaft FIOM und entwerfen Planspiele – was bedeutet die Fiat-Krise für die Stadt Turin? Claudio Staccchini hat eine Langzeit-Studie zur Entwicklung Fiats verfasst, die von den schlimmsten Szenarien ausgeht:
Die Zahlen sprechen für sich: Die Produktionszahlen gehen immer weiter zurück. Von 600.000 produzierten Autos in 1997 sind wir in Turin und Umgebung auf 360.000 in 2001 zurückgegangen, in 2002 waren es noch 300.000, und in 2003 sind es noch weniger. Die Produktionen des Fiat Panda und des Fiat Marea laufen aus. Das Nachfolgemodell des Panda wird in Polen produziert, der Fiat-Marea wird in der Türkei weitergebaut. Im Laufe von sechs Jahren hat Turin einen Produktionsrückgang von 65 bis 70 Prozent hinnehmen müssen. Damit wird der Standort Turin ernsthaft in Frage gestellt – für den heimischen Arbeitsmarkt ist das eine Katastrophe. Die Autoproduktion und ihre Zulieferbetriebe machen im Großraum Turin 60 bis 70 Prozent aller Produktionsaktivitäten aus. Zu jedem Arbeitsplatz, der bei Fiat in Turin verloren geht, müssen wir weitere Arbeitsplätze hinzuzählen, die in den Zulieferbetrieben wegfallen. Wir nennen das, was passiert, eine "Strategie des Fallenlassens".
Turin fühlt sich von Fiat im Stich gelassen. Zwar versucht die Stadt seit einigen Jahren, sich als High-Tech- und Dienstleistungszentrum zu etablieren. Ein schwieriges Unterfangen, nachdem die Stadt mehr als 100 Jahre lang im Schatten Fiats gestanden hat. Zurzeit setzt die Kommune auf die olympischen Winterspiele im Jahre 2006, die in Turin und Umgebung ausgetragen werden. Hotels werden gebaut, Ski-Pisten erneuert – doch jeder weiß, dass die Olympiade keine langfristigen Arbeitsplätze schaffen wird. Der Turiner Giorgio Airaudo von der Gewerkschaft Fiom winkt daher ab: Die Lage Turins sei schlechter, als dies die Stadtpolitiker und Fiat-Manager zugeben würden:
Im Gegensatz zu Fiat ist Turin als Stadt nicht diversifiziert. Es gibt zu wenig Ideen, die die Stadt voranbringen. Die Stadt hat sich zu lange auf seine Mutter Fiat verlassen – mehr als eine Mutter ist Fiat jedoch eine Stiefmutter gewesen. Mit Hilfe der Diversifizierung wird es Fiat irgendwie schaffen, zu überleben und in einzelnen Bereichen wieder Gewinne zu erwirtschaften. Das Problem ist, dass Turin eine Industriestadt ist und eine Industriestadt bleiben wird. Es gibt keinen wirklich nennenswerten Strukturwandel. Wir müssen uns mit einem abfinden: Das Schicksal Fiats hat sich nach über 100 Jahren vom Schicksal Turins getrennt.
Der Fiat-Ehrenvorsitzende Giovanni Agnelli zum 100jährigen Bestehen Fiats 1999 in der Turiner Konzern-Zentrale Lingotto. Vor vier Jahren schienen die Schicksale Turins und Fiats noch eng verknüpft. Was jedoch schon damals auffiel: Giovanni Agnelli, der Anfang des Jahres verstorbene greise Enkel des Firmengründers, sprach viel über die glorreiche Vergangenheit des Konzerns. So viel, dass ihm kaum Zeit blieb, über die Zukunft Fiats zu referieren. Die war zu diesem Zeitpunkt schon klar umrissen: Fiat wusste, dass man allein kaum Chancen haben würde, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Der damalige Fiat-Präsident Paolo Fresco, früher Manager beim US-Riesen General Electric, sollte in den USA die Chancen für ein US-europäisches Auto-Joint-Venture sondieren. Fresco fand mit General Motors einen Partner, schnell war von milliardenschweren Synergien die Rede, die durch die Kooperation entstehen würden. Der wichtigste Teil der Vereinbarung zwischen Turin und Detroit: GM übernahm 20 Prozent der Aktien an der Fiat-Autosparte und wurde so zum zweitwichtigsten Aktionär der defizitären Fiat-Tochter.
Der zweite Teil der Vereinbarung sorgt bis heute für Aufsehen: Fiat und General Motors vereinbarten eine "Put-Option", die im Januar 2004 in Kraft tritt. Die Option gibt Fiat die Möglichkeit, die restlichen 80 Prozent seiner Autosparte ab Januar nächsten Jahres zum entsprechenden Marktpreis ebenfalls an die Amerikaner abzugeben. Eine Vereinbarung mit Tücken: Von den Amerikanern weiß man, dass sie ihre Entscheidung längst bereut haben, denn sie müssten die Autosparte übernehmen, wenn Fiat sie anbietet – ob sie es nun selbst wollen oder nicht. Wahrscheinlich würde GM in diesem Fall die meisten Produktionsorte in Italien schließen. Schwere Konflikte mit der italienischen Regierung wären hierbei nicht zu vermeiden. Welche Auswirkungen ein Totalverkauf an GM auf den heimischen Arbeitsmarkt hat, wagt sich bisher noch niemand wirklich vorzustellen.
Fest steht nur: Die Beziehungen zwischen Fiat und GM sind zurzeit alles andere als rosig. Zuletzt lud Fiat GM ein, sich an einer Kapitalerhöhung der Autosparte im Wert von fünf Milliarden Euro zu beteiligen – eine Milliarde dafür soll aus Detroit kommen. Doch General-Motors Chef Rick Wagoner hielt sich bedeckt – GM hat offenbar kein Interesse daran, zurzeit Geld nach Turin zu schicken, um dort die Autosparte zu sanieren. Bei der Vorstellung seines Rettungsplans vor vier Wochen wich der neue Fiat-Vorstandschef Giuseppe Morchio entsprechenden Fragen aus.
Die Zusammenarbeit mit GM verläuft hervorragend, auch auf persönlicher Ebene. Ein großes Lob für das großartige Management von GM, das sehr professionell arbeitet und mit dem ich beste Kontakte unterhalte. Das ist der erste Punkt. Der zweite: In Sachen Synergien läuft alles bestens, unser Joint-Venture läuft. Drittens: Was eine mögliche Beteiligung von GM an einer Kapitalerhöhung Fiats betrifft – da kann ich wirklich nichts zu sagen.
Egal wie sich GM entscheidet: Morchio ist dabei, seine Gruppe wieder zu dem machen, was sie einmal war: ein reiner Auto- und Motorenkonzern. Was man im Laufe von Jahren dazugekauft hatte, um Fiat zu diversifizieren, wurde in den vergangenen Monaten abgestoßen. Eine in Italien einmalige Verkaufsaktion, die Fiat rigoros durchgeführt hatte. Anfang Juli ging die Luft- und Raumfahrttochter Avio für 1,5 Milliarden Euro an den US-Fonds Carlyle und das italienische Rüstungsunternehmen Finmeccanica. Zuvor hatte Fiat seine Versicherungstochter Toro, Italiens drittgrößte Assekuranz, und den Autofinanzierer Fidis verkauft. Insgesamt sieben Milliarden Euro nahm Fiat mit seinen Verkäufen ein – Geld, das man dringend braucht, um die noch zu Fiat gehörenden Geschäftssparten zu sanieren. Viel ist heute nicht mehr übrig: Neben der Autosparte ist Fiat noch mit Iveco im Lastkraftwagen-Geschäft aktiv, mit Case New Holland produziert Fiat noch Erdbewegungs-Fahrzeuge. Zudem hält Fiat gemeinsam mit dem französischen EdF-Konzern noch das italienische Energieunternehmen Edison.
Insgesamt 19,5 Milliarden Euro will der Konzern nun aufbringen, um sich aus der Krise zu ziehen, mehr als die Hälfte davon soll in den kommenden drei Jahren in neue attraktive Automodelle investiert werden – nur die wenigsten davon werden jedoch in Italien gebaut. Nevio Di Giusto ist Chefentwickler bei Fiat in Turin, und damit zurzeit einer der wichtigsten Männer innerhalb des Konzerns. Von ihm hängt die Produktpolitik der kommenden Jahre ab.
Dieses Jahr ist für uns außerordentlich wichtig. Wir präsentieren eine ganze Reihe von neuen Automodellen. Es sind Innovationen, mit denen wir wieder zurück zum Erfolg wollen. Wir haben einen neuen, technisch vollkommen überarbeiteten Punto, den neuen Lancia Y, im Herbst dann wieder neue Modelle, unter anderem den Fiat Idea im Oktober. Für uns heißt das: Für die Marken Fiat und Lancia haben wir eine völlig neue Produktpalette im Programm.20.10 Wir haben die Vorgabe, bis 2005 jedes Jahr 2,6 Milliarden Euro in neue Automodelle zu investieren. Und das setzen wir jetzt um, die neuen Produkte sind deswegen zentral. 22.00 Wir müssen wieder schöne Autos bauen – denn Autos müssen in erster Linie schön sein, weil man sie zunächst mit den Augen kauft. Zweitens muss man ihnen vertrauen können, das ist wichtig. Und drittens, das gilt insbesondere für uns bei Fiat, müssen sie im Design und technisch innovativ sein.
Bei Fiat und auch in Turin weiß man genau, dass sich diese Investitionen lohnen müssen. Gerade jetzt, wo sich der Konzern zurückgezogen hat auf das alte Kerngeschäft und seine lukrativen Dienstleistungs-Töchter verkauft hat, darf die Autosparte nicht scheitern. Noch halten die Gläubigerbanken Fiat trotz seiner Milliardenverluste aufrecht – doch auch die Kreditinstitute wollen positive Ergebnisse sehen, bevor sie dem Konzern weitere Finanzspritzen geben. Im schlimmsten Fall müsste Fiat tatsächlich seine Autosparte an General Motors verkaufen, und dies würde die italienische Wirtschaft grundlegend verändern. Ein letztes Stück italienischen Familienkapitalismus wäre damit gestorben, meint Professor Valerio Castronovo, Turiner Wirtschaftshistoriker und Biograf der Fiat-Familie Agnelli.
Im Grunde ist Fiat ja heute noch eine Art konstitutioneller Monarchie. Es ist keine absolute Monarchie mehr, wie vor 100 Jahren in der Anfangszeit, aber es ist immer noch eine Monarchie – da es heute viele externe Manager gibt, können wir sie ruhig eine konstitutionelle Monarchie nennen. Der Hauptaktionär ist immer noch die Familie – und die wiegt schwer. Alles ist immer noch Familienpolitik, der Tresor Fiats, der steht noch im Wohnzimmer der Agnelli-Familie.