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Auswanderung auf Zeit

Mit den Mitteln der Grenzsicherung wird den Problemen der illegalen Migration nicht beizukommen sein. Politische Lösungen und kreative Ansätze sind gefragt, um Migration zu steuern und den Schleuserbanden das Handwerk zu legen. Eine Möglichkeit ist es, ausländischen Bewerbern befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen auszustellen. Kanada geht diesen Weg – und die Migranten aus Guatemala berichten von positiven Erfahrungen.

Von Andreas Boueke |
    Juan Morales lebt mit seiner Frau und sechs Kindern in einer Hütte mit vier einfachen Holzwänden, durch deren Ritzen der Wind bläst. Vor der Hütte picken ein halbes dutzend Küken im Lehm. Seine Frau muss sich manchmal entscheiden, ob sie lieber den Hühnern ein bisschen Mais zu essen geben soll, oder den Kindern. Für beide reicht es oft nicht.

    Juan Morales: "Jeder Mensch denkt über die Zukunft nach. Was kann ich für meine Familie tun, damit es uns ein wenig besser geht? Leider sind die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte in unserem Land enorm gefallen. Wir Bauern müssen teure Düngemittel und Insektizide kaufen. Aber für die Produkte, die wir ernten, bekommen wir nur wenig Geld. Am Ende verdienen wir nichts. Aber wir wollen unseren Kindern eine Ausbildung geben und ein Dach über dem Kopf."

    Juan Morales ist einer von 65 Landarbeitern aus dem kleinen Dorf Tecpan im Hochland von Guatemala, die im vergangenen Jahr nach Kanada reisen durften. Dort haben sie im Bundesstaat Quebec sieben Monate lang auf Tomatenfeldern gearbeitet, völlig legal. Juan Morales hatte eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis. Er zahlte die in Kanada üblichen Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Zwar hatte er fast keine Freizeit, aber das war ihm recht. Gerne hat er an sechs Tagen der Woche jeweils elf Stunden lang gearbeitet, weil er für die vielen Überstunden einen Bonus bekam.

    Die anstrengende Zeit in Kanada hat das Leben seiner Familie deutlich verändert. Er konnte 40.000 Quetzales ansparen, rund 5000 Euro - ein kleines Vermögen, das ein Landarbeiter in Guatemala normalerweise selbst im Laufe eines Jahrzehnts nicht zusammenbekommen könnte.

    Juan Morales ist begeistert von seinem Aufenthalt in Kanada. Er hofft, bald wieder ausreisen zu dürfen. Auch sein Nachbarn Arturo Catú ist froh darüber, die Möglichkeit einer befristeten Anstellung in Kanada bekommen zu haben.:

    "Früher wollte ich in die USA gehen. Aber ich hätte über 4000 Euro an den Schlepper zahlen müssen, damit er mich über die Grenze bringt. Für mich war es unmöglich, eine solche Summe aufzubringen. Außerdem passiert es vielen Leuten, dass die Schlepper, die Coyotes, sie irgendwo in Mexiko zurücklassen. Dann bekam ich plötzlich diese Möglichkeit, nach Kanada zu gehen."

    Die Bedingungen für die Arbeitserlaubnis sind klar umrissen: Die guatemaltekischen Landarbeiter dürfen nur dann von den Besitzern der kanadischen Farmen angestellt werden, wenn diese nachweisen können, dass es in ihrem Umfeld keine einheimischen Arbeitslosen gibt, die die Arbeit übernehmen würden. Deshalb werden die temporären Migranten von ihren Arbeitgebern oft schon sehnlich erwartet und herzlich aufgenommen.

    In Guatemala wird das Pilotprojekt der temporären Migration seit drei Jahren von der Zweigstelle der Internationalen Organisation für Migration (IOM) betreut. Im vergangenen Jahr haben 675 guatemaltekische Landarbeiter teilgenommen.

    Der Missionschef der IOM in Guatemala-Stadt, Günther Müssig, ist Deutscher. Seiner Ansicht nach ist das Programm vielversprechend angelaufen:

    "Diese Migranten, die jetzt nach Kanada gehen und hoffentlich auch bald in die USA, haben eine völlig andere Situation. Erstens: Sie fliegen im Flugzeug. Sie müssen nicht diese ganzen Strapazen und Gefahren einer Reise, die über Coyotes hier organisiert wird, in Kauf nehmen - unbeschadet von der Situation, dass das auch sehr teuer ist. In dem kanadischen Modell wird der Flug von den Arbeitgebern bezahlt. Und sie fahren völlig legal, mit Pass, mit Visum, mit Arbeitserlaubnis für einen fest umrissenen Zeitraum nach Kanada. Sie haben völlig legale Mechanismen, Gelder zu überweisen, Geld anzusparen, zurückzubringen. Wenn sie sich gut verhalten haben oder wenn sie gut gearbeitet haben, können sie wieder nach Kanada für die nächste Saison fahren."

    Der Direktor der juristischen Abteilung der IOM in Genf, Richard Perruchoud, hofft, dass das Modell der temporären Migration bald in vielen Ländern der Welt Anwendung findet:

    "Der Kongress der USA diskutiert zur Zeit über ein neues Einwanderungsgesetz. Ein Element des gegenwärtigen Gesetzentwurfs ist ein umfassendes Programm der zeitlich befristeten Arbeitsmigration. Davon würden 400.000 vorwiegend mexikanische Arbeiter profitieren. Sie würden eine auf ein Jahr begrenzte Einreise- und Arbeitserlaubnis bekommen, ohne die Möglichkeit, ihre Familie nachzuholen, und mit der Verpflichtung, nach einem Jahr in ihre Heimat zurückzukehren."

    Die Debatte über legale und illegale Einwanderung wird auf dem ganzen amerikanischen Kontinent immer erbitterter geführt – sowohl in den Herkunftsländern der Migranten, als auch in den Zielländern, vor allem in den USA, dem klassischen Einwanderungsland der Migrationsgeschichte. In den letzten Jahren ist die Einwanderungspolitik der USA immer repressiver geworden - abzulesen ist das auch an der jüngsten Diskussion über die Verschärfung der Einwanderungsgesetze. Der Schweizer Richard Perruchoud sieht darin keinen angemessenen Lösungsweg.:

    "Ein Ansatz, der das Thema als Sicherheitsproblem behandelt, kann nur teilweise eine Antwort sein auf das Problem der Regulierung der Migration. Gleichzeitig müssen auch legale Mechanismen geschaffen werden, um den Migranten eine Alternative anzubieten. Denn selbst wenn die Grenzen verriegelt und verrammelt werden, kommen die Leute trotzdem irgendwie durch, durch Seiteneingänge oder Hintertüren. Deshalb muss eine Balance geschaffen werden, indem ein humanitärer Ansatz gegenüber dem Sicherheitsansatz gestärkt wird."

    Das Modell der temporären Migration bringt allen Beteiligten Vorteile. Trotzdem lässt sich das Problem der illegalen Migration damit nicht grundsätzlich lösen.

    Perruchoud: "Die eigentliche Antwort für Länder wie Mexiko muss es sein, Arbeitsmöglichkeiten im eigenen Land zu entwickeln. Migration sollte nicht mehr als eine zweite Wahl sein. Die erste Wahl ist immer, dass jeder Mensch, egal welcher Herkunft, seine Bedürfnisse in seinem eigenen Land erfüllen kann, mit einer Arbeit und einem würdevollen Leben, anstatt das Land auf Grund der Armut verlassen zu müssen."
    So lange die Länder Lateinamerikas dieses Ziel nicht erreicht haben, wird die illegale Migration zu ihrem Alltag gehören, denn dort wo das Gefälle zwischen arm und reich immer größer wird, wird der Überlebenskampf an den Grenzen immer erbitterter geführt. Schon der Weg durch Mexiko bis zur Grenze der USA fordert alljährlich viele Todesopfer.

    Die junge Guatemaltekin Rosina Velásquez hat die strapaziöse Reise in Begleitung ihrer siebenjährigen Tochter auf sich genommen:

    "Einmal sind wir in einem großen Lastwagen gefahren, in den ein zweiter Stock eingebaut war. Darin waren 275 Menschen untergebracht, aus verschiedenen Nationen. Fünf Frauen und meine Tochter durften um eine Luke im Boden des Lastwagens sitzen. Wir mussten die Luke alle zehn Minuten öffnen, damit etwas Sauerstoff reinkam. Die Luft tat uns gut, auch wenn sie mit Abgasen verschmutzt war. Viele andere Leute sind bewusstlos geworden, weil bis hinten in den Wagen überhaupt keine Luft kam."

    Das Leid der illegalen Migrantinnen wird durch das Modell der temporären Migration nicht beseitigt werden. Aber es stellt eine sinnvolle Alternative dar, durch die das Elend zumindest gelindert werden kann.