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Auszeit von der Schule

Der Pädagoge Hartmut von Hentig unterbreitet in seinem Buch "Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein" einen Aufsehen erregenden Vorschlag: In der Zeit der Pubertät sollen Jugendliche ein bis zwei Jahre fern der Familie gemeinschaftlich zusammenleben, gemeinsam den Alltag bewältigen. Reinhard Backes hat sich mit dem Vorschlag genauer befasst.

    Seit den späten 1960er Jahren ist Schul- und Bildungspolitik ein hart umkämpftes Terrain, eine Zeit des Aufbruchs und mutiger Experimente. Doch was haben sie erbracht? Die hohen Erwartungen haben sich jedenfalls nicht erfüllt. Alles sollte besser werden - doch die Wirklichkeit zeigt etwas ganz anderes. Weder die Konzepte der Pädagogen noch die Maßnahmen der Politiker überzeugen noch. Einer der angesehensten Reformer der letzten 40 Jahre, Hartmut von Hentig, hat sich angesichts der Misere nun zu Wort gemeldet. In Bewährung – Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein" bezieht der in Posen geborene Begründer der "Bielefelder Laborschule" Stellung. Der heute in Berlin lebende Pädagoge sucht auf 112 Seiten Antworten gegen die fortschreitende soziale Erosion. "Gemeinsinn" und "Gemeinwohl" sind Schlüsselbegriffe seines Entwurfs. Hentigs Manifest ist nicht besonders originell - dennoch sind seine Vorstellungen bemerkens- und lesenswert. Hentig schreibt:

    "Wenn wir nicht einen neuen Blick auf beides nehmen: auf das Lernen mit und ohne Schule, also 'Bildung' weiter fassen, als das in den Studien der OECD (wohlgemerkt: eine 'Organisation für ökonomische und kulturelle Entwicklung'!) geschieht, und auf die Beteiligung der jungen Generation an Aufgaben und Versprechungen der Gesellschaft, also ihr so etwas wie 'Bewährung' in der Gemeinschaft ermöglichen, werden wir die hässlichen Nachrichten weiter hören müssen."

    Um den Missständen zu begegnen, fordert der Pädagoge eine "Entschulung" der Mittelstufe: Die Schulzeit müsse unterbrochen werden. Schülerinnen und Schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren sollen nicht in, sondern außerhalb der Schule Gemeinschaft erfahren, erfassen, was sie gibt, aber auch, was sie vom einzelnen fordert. In der Zeit der Pubertät, des Erwachsenwerdens, sollen Jugendlichen ein bis zwei Jahre an einem gesonderten Ort, fern der Familie, gemeinschaftlich zusammenleben, gemeinsam etwas schaffen, leisten, wirtschaften, den Alltag bewältigen. Des Weiteren wünscht der 81-Jährige, dass jede und jeder nach Abschluss der schulischen Laufbahn, vor dem Berufseintritt, einen Dienst an der Gemeinschaft leistet.

    Hartmut von Hentig versteht seine Forderungen als Abwehr eines überzogenen Individualismus, den er als die Ursache zunehmender gesellschaftlicher Entsolidarisierung begreift. Man reibt sich verwundert die Augen: Hat der Pädagoge nicht jahrelang genau das Gegenteil gefordert? Die Stärkung des Individuums, die Befähigung zur Selbstbestimmung, die Erziehung des Einzelnen zu einem mündigen, selbstständigen Bürger? Der Widerspruch ist nur scheinbar. Von Hentig hat die Schule immer als "Gemeinschaft von Verantwortlichen" begriffen, die er in Anlehnung an die antike Demokratie "Polis" nannte. Dennoch spürt der Pädagoge, geprägt durch Nachkriegszeit, frühe Bundesrepublik und Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus, den Argwohn seiner Generation. Fast beschwörend erklärt er:

    "'"Ich sehe vorher, dass die gewünschte 'Erfahrung mit der Gemeinschaft', das Einfordern von 'Pflichten gegen das Gemeinwesen', die Berufung auf dessen heilsame 'Ordnungen' mich in die Nähe brauner Ideologie bringen - und vollends wird dies die Tatsache tun, dass die Wörter 'Technik' und 'Zivilisation' in der Liste der Gefahren für unsere Zivilität auftauchen. Ich bitte genau zu lesen: Mein Einstehen für die Ersteren hat ihren ausdrücklichen Grund in ihrer fast unrettbaren Schwäche. Es macht einen Unterschied, ob man etwas vor dem Untergang rettet oder ob man es inthronisiert. Mein Vorbehalt hinsichtlich der Letzteren gilt nicht der Technik und dem Fortschritt selbst - ein solcher wäre sehr töricht -, sondern ihrer Führungslosigkeit.""

    Über von Hentigs Konzept, das er als Experiment versteht, mag man trefflich streiten; ob es sich - wie von ihm angeregt - selbst nur im Versuch wird umsetzen lassen können, wird sich zeigen. Sicher ist eins: So richtig von Hentigs Analyse ist, sein Manifest wird auf Widerstand stoßen.

    Hartmut von Hentig: Bewährung. Von der nützlichen
    Erfahrung, nützlich zu sein.

    Carl Hanser Verlag, München, 2006
    112 Seiten
    12,50 Euro