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Autonomieregierung auf dem Prüfstand:

Die irakischen Provinzen Erbil, Dohuk und Suleymaniye bilden die sogenannte "Regionalregierung Kurdistans". Irakisch-Kurdistan agiert weitgehend unabhängig von Bagdad und wählt nun ein neues Parlament. Oft hatte es geheißen, die Region sei dem übrigen Irak in ihrer Entwicklung überlegen. Doch auch hier mehren sich Korruptionsvorwürfe.

Von Carsten Kühntopp | 24.07.2009
    "Mawtini - Mein Heimatland" - die irakische Nationalhymne, gespielt von einer kurdischen Militärkapelle. So musikalisch-schief die Darbietung auch ist - noch immer sehen sich die Kurden im Nordosten des Irak als irakische Staatsbürger. Ihre drei Provinzen Erbil, Dohuk und Suleymaniye haben aber einen Sonderstatus: Zusammen bilden sie eine "Region", eine Über-Einheit; die irakische Verfassung macht den Zusammenschluss von Provinzen zu Regionen ausdrücklich möglich.

    Dieses Autonomiegebiet ist so groß wie die Niederlande, etwa vier Millionen Menschen leben hier. Die sogenannte "Regionalregierung Kurdistans" mit Sitz in Erbil agiert weitgehend unabhängig von Bagdad.
    Die Wurzeln kurdischer Selbstverwaltung gehen auf den Anfang der 70er-Jahre zurück. 1991 dann verlor Saddam Hussein die Kontrolle über die Kurden-Gebiete. Nach seinem Sturz wurde die Autonomie der drei kurdischen Provinzen in der neuen irakischen Verfassung festgeschrieben. Die Kurden sind also wesentlich länger als andere Iraker Herr ihres eigenen Schicksals. Nihad Qodscha, Regierungspräsident von Erbil:

    "Wir haben einen Vorsprung gegenüber Zentral- und Südirak von vielleicht sechs bis zehn Jahren. Grund dafür ist natürlich: Seit 1991 wurde ein großer Teil von Irakisch-Kurdistan von den Alliierten geschützt. Wir hatten unsere eigenen Sicherheitsinstitutionen hier, weil wir die ganzen Erfahrungen, die wir in den 90er-Jahren gemacht haben, haben wir zur Verfügung gestellt. Wir konnten unsere Region vor terroristischen Aktionen bewahren. Durch diese enorme Sicherheit im irakischen Kurdistan konnten wir Anfang 2004 mit Projekten anfangen, um Straßen zu bauen, die Städte wieder sanieren, die Wasseranlage, die Stromanlage wieder sanieren - das hat uns einen Vorsprung erschafft gegenüber Gesamtirak."

    Wenn die Menschen in Irakisch-Kurdistan nun ein neues Parlament und den Präsidenten wählen, dann urteilen sie auch darüber, was ihre Politiker in den letzten Jahren aus diesem Vorsprung gemacht haben - ob sie ihn genutzt haben, um die Region zu entwickeln und das Leben der Menschen zu verbessern.

    "Vor dem Sturz von Saddam Hussein erhielt ein Beamter monatlich zehn bis 30 Dollar. Nach dem Sturz wurde Irakisch-Kurdistan eine Basis des Imports für den Gesamtirak über die Türkei. Das hat uns zu einem Lebensstandard gebracht - die Beamten bekommen nun im Durchschnitt 600 bis 800 Dollar im Monat; man sieht auf der Straße Tausende von neuen Automodellen. In Erbil zum Beispiel wurden innerhalb von vier Jahren 70.000 neue Wohneinheiten gebaut. Das zeigt, dass der Lebensstandard der Menschen enorm gestiegen ist - durch Handel mit Nachbarländern, durch diese Freizügigkeit der Regionalregierung, und natürlich wir haben diese Sicherheitslage sehr gut ausgenutzt, von hier aus auch für Gesamtirak zu arbeiten."

    Die Bilanz von Regierungspräsident Qodscha ist kaum zu bestreiten. Gerade in der Regionalhauptstadt Erbil ist der Fortschritt deutlich sichtbar. So wurden beispielsweise moderne Straßenkreuzungen angelegt und Schnellstraßen gebaut, dazu Brücken und Straßentunnels. Doch das Röhren der Stromgeneratoren, das tagtäglich mehrere Stunden lang über der Stadt liegt, zeigt, dass noch viel zu tun ist. Von einer Aufbruchstimmung kann nicht mehr die Rede sein. Immer mehr Menschen sagen immer offener, dass ihnen die Dinge nicht mehr passen. Rauf, ein junger Mann, ist mit der Entwicklung der letzten Jahre unzufrieden:

    "Haben Sie mal das kurdische Parlament im Fernsehen gesehen? Alle Abgeordneten heben immer einmütig bei allem die Hand - die eine Hälfte tut das aus Angst, die andere Hälfte, weil sie bezahlt wird. Was sie wirklich gut gemacht haben hier, ist die Sicherheit. Sie sorgen dafür, dass es hier sicher ist. Und wenn Ausländer kommen - die wollen natürlich nur eines: Sicherheit. Alles andere ist ihnen nicht wichtig. Deshalb nennen sie Kurdistan eine 'Oase'. Aber in Wirklichkeit ist alles andere in Bagdad besser!"

    Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden völlig von den beiden großen Parteien dominiert, die die Parlamentswahl vor vier Jahren mit einer gemeinsamen Liste bestritten und haushoch gewannen: Das sind die Demokratische Partei Kurdistans, kurz: KDP, von Regionalpräsident Massoud Barzani und die Patriotische Union Kurdistans, PUK, des irakischen Staatspräsidenten Jalal Talabani. Lange waren sie erbitterte Feinde und lieferten sich noch in den 90er-Jahren einen Bürgerkrieg, nun arbeitet man zusammen. Kritiker wie Rauf sagen, KDP und PUK hätten dafür gesorgt, dass es keine echte Trennung zwischen ihnen und den regional-staatlichen Einrichtungen gebe.

    "Diese Leute sehen sich als Revolutionäre und glauben, dass sie das alles erkämpft haben. Deshalb denken sie, dass es ihnen nun zusteht, dass ihnen jetzt alles zusteht. Und wehe dem, der kommt und an ihrem Stuhl sägt! In Südafrika war es doch ähnlich - was wurde denn aus den Revolutionären dort? Als sie Kämpfer und Guerilleros waren, waren sie super. Aber als sie dann an die Macht kamen, wurden sie die Korruptesten überhaupt."

    Wie ein Krebsgeschwür frisst sich die Korruption durch Irakisch-Kurdistan - dieser Vorwurf ist immer häufiger zu hören.

    "Sie haben die Leute zu Dieben gemacht, und wir haben jetzt viele Diebe hier. Wie schon Machiavelli sagte: Es ist immer einfacher, Diebe und Dummköpfe zu regieren, denn die werden dir nie widersprechen und nie Fragen stellen. Sie wollen, dass wir so brav sind wie Schafe. Und manchmal terrorisieren sie auch Leute. Terror ist, wenn jemandem Angst gemacht wird, nicht wahr? Wer also den Sicherheitsdienst losschickt, damit der sich mal mit irgendjemandem 'unterhält' - meiner Meinung nach ist das Terrorismus."

    In Irakisch-Kurdistan gibt es kein Klima von Furcht und Schrecken - aber die Menschen achten darauf, in wessen Gegenwart sie was sagen. Die Asayish - paramilitärische Sicherheitskräfte - sind gefürchtet. Dieser Mittvierziger wirft den Asayish vor, ihn misshandelt zu haben, vor vier Jahren, im Vorfeld der Parlamentswahl damals, als er sich beschwert hatte, dass Angehörige der KDP von Massoud Barzani Wählerstimmen hätten kaufen wollen:

    "Sie haben mich mitgenommen und haben meine Augen verbunden und meine Arme angekettet. Ich war insgesamt fünf Tage lang bei ihnen eingesperrt. In dieser Zeit haben sie mich einmal 24 Stunden lang immer wieder geschlagen. Auf meine Ohren. Auf meine Augen - mein linkes Auge habe ich dabei verloren. Danach haben sie einen Ermittler vom Militär geholt, der mir vorgeworfen hat, den Al-Qaida-Widerstand zu unterstützen. Am Ende ließen sie mich wieder frei, weil ich ihnen nichts brachte. Sie warnten mich aber noch: Wenn ich vor Gericht ziehen würde, würde ich getötet."

    In den vergangenen Jahren haben Organisationen wie "Amnesty International" und "Human Rights Watch" massive Verletzungen der Menschenrechte in Irakisch-Kurdistan festgestellt; so hätten Sicherheitskräfte Häftlinge gefoltert. Das "Komitee für den Schutz von Journalisten" mit Sitz in New York schrieb erst im vergangenen Mai an den kurdischen Ministerpräsidenten, man sei sehr besorgt über eine "immer größere Einschränkung der Pressefreiheit" im Autonomiegebiet.
    An der Spitze der beiden großen Kurden-Parteien ist man sich bewusst, dass sich die Stimmung in der Bevölkerung ändert. Barham Salih ist führender Politiker der PUK. Salih sagt, dass es nicht leicht sei, Reformen voranzubringen:

    "Sagen Sie mir: Sind Reformen in der US-Regierung einfach? Nein. Es ist gut, dass wir ab und an daran erinnert werden, dass die Glaubwürdigkeit der Region Kurdistan von unserem Bekenntnis zu den demokratischen Idealen und Werten abhängt - und dass wir nicht immer weiter alles damit rechtfertigen können, einmal die Opfer Saddams gewesen zu sein. Dieses ist eine im Entstehen begriffene Demokratie. Wir versuchen, den Grundsatz des demokratischen Regierens im Herzen des islamischen Nahen Ostens durchzusetzen."

    Bei den Wahlen müssen KDP und PUK nun erstmals mit einem ernsthaften Herausforderer fertig werden, mit einem Mann, der aus ihren Reihen kommt, der das System von innen kennt, dessen Referenzen als Kämpfer für die kurdische Sache makellos sind. Nawshirwan Mustafa, Mitte 60, hatte einst die Pershmerga-Milizionäre der PUK kommandiert und war Stellvertreter von Parteichef Talabani. Ende 2006 verließ er jedoch die Partei wegen Meinungsverschiedenheiten über eine Erneuerung der PUK. Nun steht Mustafa der Liste "Goran" vor, der "Liste für den Wandel". Er ist angetreten, die Vorherrschaft von KDP und PUK zu brechen.

    "Immer haben sie uns erzählt, dass es eine Bedrohung von außen gebe - durch Iran, durch die Türkei, durch Syrien, durch Bagdad. Doch wir sind überzeugt, dass es mittlerweile überhaupt keine Bedrohung mehr von außen gibt. In Wirklichkeit kommt die Bedrohung nur von innen - von der Korruption."

    Niemand - so sagt Nawshirwan Mustafa - wisse im Einzelnen, wie die Regierung das Geld ausgebe, wie sie Aufträge verteile, wie sie Verträge mit Unternehmen abschließe. Die Vetternwirtschaft müsse ein Ende haben.

    Die Erfolgsaussichten von Mustafa und seiner "Liste für den Wandel" sind schwer zu beurteilen. Kürzlich kam eine Meinungsumfrage zu dem Ergebnis, Mustafa könne mit mehr als 80 Prozent der Stimmen rechnen. Das dürfte unrealistisch sein, doch dass die "Liste für den Wandel" genug Stimmen bekommt, um im Parlament eine unbequeme Opposition zu sein, halten Beobachter für wahrscheinlich.

    Die Wahlen finden in einer Zeit statt, in der die Spannungen im Nordirak von Monat zu Monat steigen. Anlass sind die sogenannten umstrittenen Gebiete. Im Kern geht es darum, wo die Grenzen von Irakisch-Kurdistan in Zukunft verlaufen sollen. Kurden leben nicht nur in den drei Provinzen, die derzeit die Autonomie-Region bilden, sondern auch außerhalb - in angrenzenden Gebieten, die die Regionalregierung Kurdistans beansprucht. Einige davon kontrolliert sie bereits - nicht de jure, aber de facto.

    Die irakische Zentralregierung in Bagdad hält dagegen und versucht, den kurdischen Einfluss zurückzudrängen. In den letzten Monaten gab es mindestens vier Zwischenfälle, in denen Einheiten der irakischen Armee und der kurdischen Peschmergas kurz davor waren, das Feuer aufeinander zu eröffnen. Der kurdische Ministerpräsident Nechirvan Barzani sagt, noch nie seit 2003 seien Kurdistan und die irakische Regierung einem Krieg so nahe gewesen, wie jetzt.

    "Hätte es nicht die US-Armee gegeben, die dazwischen ging, zwischen unsere Streitkräfte und deren Streitkräfte - dann hätte es ganz gewiss eine Konfrontation gegeben. Unser Problem ist, dass wir nicht mehr daran glauben, dass es in Bagdad noch den politischen Willen gibt, das Problem zu lösen."

    Das Vertrauen in die guten Absichten des anderen ist auf beiden Seiten auf dem Nullpunkt. Einst waren der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki und der kurdische Präsident Massoud Barzani Verbündete; doch mittlerweile ist ihr Verhältnis so schlecht, dass sie seit einem Jahr nicht mehr miteinander gesprochen haben. Einer der immer heißer werdenden "Hotspots" ist die mehrheitlich arabische Provinz Ninewah. In nicht weniger als sechs ihrer neun Distrikte gibt es umstrittene Gebiete. Da sich die Araber in Ninewah an der Regionalwahl Anfang des Jahres zahlreich beteiligten - anders als bei den ersten Regionalwahlen vor vier Jahren -, gewann die Partei Hadba deutlich, eine arabische Liste, die das irakische Nationalgefühl betont und eine starke Zentralregierung will. Athil al-Nujaifi, Chef der Hadba und neuer Gouverneur der Provinz, wirft vor allem der KDP von Barzani vor, die Kurden gegen die Araber aufzuwiegeln:

    "Die KDP betont immer wieder die Feindschaft zwischen Kurden und Arabern. Sie sorgt dafür, dass die Kurden Angst vor den Arabern haben und behauptet, dass die Araber sich an ihnen rächen würden. Die Araber werden als Nazis, als Kriminelle dargestellt. So spielen sie mit den Gefühlen der kurdischen Bevölkerung und wiegeln sie auf."

    Einige kurdische Dörfer in der Provinz Ninewah drohen jetzt mit Sezession. Um Zusammenstöße mit kurdischen Bewaffneten zu vermeiden, verzichtet Gouverneur al-Nujaifi darauf, diese Teile seiner Provinz zu besuchen. Ein einflussreicher arabischer Scheich in der Provinzhauptstadt Mosul wirft den Kurden vor, überzogen zu haben:

    "Sie müssen jetzt einfach das irakische Recht akzeptieren - und dass die Leute für Hadba gestimmt haben. Hadba hat die Mehrheit! Wenn die Kurden immer weiter Druck machen, gibt es keine Zukunft. 'Dieses Stück Land ist meines, jenes Stück Land ist meines' - der Irak ist doch kein Kuchen! Der Irak gehört allen Irakern - und nicht den Arabern oder den Schiiten oder den Sunniten oder den Kurden oder den Turkmenen."

    Das wohl schwierigste Problem dürfte Kirkuk sein. Hier leben vor allem Kurden, Araber und Turkmenen. Mit dem Beginn der Ölförderung in den 20er-Jahren änderte sich die demografische Zusammensetzung der Stadt, wegen des Zuzugs von arabischen Arbeitern. In den 50er-Jahren, noch zu Zeiten der Monarchie, begann Bagdad mit einer Arabisierung Kirkuks, und Saddam Hussein ließ dann Zigtausende Kurden vertreiben. Kirkuk ist nicht irgendeine Stadt - so brachte es Massoud Barzani zum Beispiel 2003 auf den Punkt:

    "Was die Grenzen Kurdistans angeht, ist klar: Alle Gebiete, in denen es vor 1961 - also, als die gezielte Ansiedlung arabischer Familien in Kurdistan begann - eine kurdische Bevölkerungsmehrheit gab, sind kurdisch. Daher ist Kirkuk nicht nur kurdisch, sondern das Herz Kurdistans. Der Fall Mosul liegt anders: Dort waren schon immer einige Teile kurdisch und andere Teile arabisch."

    Die kurdische Führung sagt, sie bestehe nur darauf, dass die irakische Verfassung umgesetzt werde, und die sehe ein klares Verfahren vor, mit dem das Schicksal der umstrittenen Gebiete zu entscheiden sei. Doch beide Seiten interpretieren die Verfassung unterschiedlich. Und auch die Araber in Kirkuk halten den Kurden vor, zu weit zu gehen. So sagt dieser Scheich:

    "Wir sind sehr empfindlich, was die Vorschläge der Kurden-Parteien angeht, denn sie handeln im Geiste der Isolation und des Separatismus. Sie agieren überall im Irak: Der Staatspräsident ist ein Kurde, der Außenminister ist ein Kurde, und andere Minister und Vize-Minister sind ebenfalls Kurden, dann gibt es die Regierung in Erbil. Die Kurden sind auch die, die am meisten von der irakischen Wirtschaft profitieren. Und trotzdem sind sie getrieben vom Geiste des Separatismus. Was sie vorschlagen, klingt so, als seien sie gar keine Iraker. Das ist sehr beunruhigend."

    Wenn die Menschen in Irakisch-Kurdistan nun zur Wahl gehen, dürften erstmals vor allem innerkurdische Themen im Vordergrund stehen. Der Streit mit Bagdad um die Ölförderung oder um die umstrittenen Gebiete - mit diesen Themen konnten KDP und PUK bei früheren Urnengängen stets Stimmung machen. Doch diesmal - da sind sich Beobachter einig - sind andere Fragen wahlentscheidend: Korruption und Vetternwirtschaft, die Selbstherrlichkeit der politischen Führung, das Demokratiedefizit. Auch Nihad Qodscha, der Regierungspräsident von Erbil, weiß, wie wichtig diese Themen den Menschen jetzt sind:

    "Ob wir selbstständig werden oder im Irak leben - Hauptsache ist, wie der Mensch lebt. Ich will nicht in einem kurdischen Staat leben, wo unterdrückt wird. Das möchte ich nicht. Das heißt, ich bin bereit, in einem Staat zusammenzuleben - ob das Araber oder Perser oder Türken sind, wo wir alle gleichberechtigt sind. Und das ist der Sinn der Sache. Das ist, glaube ich, der höchste Wert der Menschheit."