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Autoritäten und deren Anerkennung

Shakespeares "Sturm" ist eigentlich die Absage an Rachestürme. Der Magier Prospero lässt sein Wind-Knecht Ariel frei, lässt das Zaubern sein und vergräbt die Bücher, die Träger des unheimlichen Wissens. Prospero verzeiht am Ende und nimmt sein unrechtmäßig entwendetes Herzogtum wieder in Besitz. Um Autoritäten und deren Anerkennung geht es auch in der zweiten Eröffnungspremiere am Schauspiel Stuttgart. Turgenjews "Väter und Söhne".

Von Christian Gampert |
    Das Verhältnis zu den 68ern ist am Stuttgarter Staatstheater noch nicht richtig geklärt. Für Friederike Heller, die Turgenjews "Väter und Söhne" für die Bühne als eine Art naturkundliches Experiment eingerichtet hat, sind die 68er-Vaterfiguren Schlappmacher und Jammerlappen; bei Claudia Bauer dagegen, die mit Shakespeares "Sturm" einen ausgesprochen glücklichen Schiffbruch erleidet, sitzt der weise Prospero als langhaariger 68er-Altfreak auf einem Campingstuhl, raucht diese kleinen halluzinogenen Kippen und dirigiert die Welt - der einzige Intellektuelle des Stücks

    Bei Turgenjew geht es nicht nur um einen Generationenkonflikt, es geht vor allem um die richtige Weltanschauung. Humanismus oder Materialismus - das sind so Fragen, wegen denen Väter und Söhne einander an die Gurgel gehen. Ist zwar derzeit etwas aus der Mode gekommen, aber auf dem Theater kann man es ja mal probieren. Arkadij hat von der Uni einen seltsamen Studienfreund mitgebracht, einen Naturwissenschaftler und Menschenhasser, Jewgenij Basárow, einen Fanatiker, der jede Emotion auf ein biologisches Substrat zurückrechnet. Basárow schüttelt - in Turgenjews Roman - eine Provinzstadt durcheinander und wütet gegen sich selbst. In Stuttgart dagegen hält er eine Vorlesung.

    Die Regisseurin Friederike Heller hat den Abend konsequent als pädagogische Übung, als Menschenexperiment und Selbstversuch angelegt: Auf die Bühne kommen Arkadij und Basárow als Max und Moritz der Verhaltenstheorie und zeigen den Vätern mal, dass die reif sind für die Rumpelkammer. Das ist umso leichter, als Vater Nikolai eher ein triebdebiler Komiker und schüchterner Verehrer jungen Fleisches ist, während Onkel Pawel sich in Seargent-Pepper-Montur ans Klavier setzt und alte Neal-Young-Songs fistelt.

    Alles sehr russisch also; hinten stehen in einem sehr schicken, sehr teuren Gewächshaus Bananenbäume, Bambus und andere Exotika, um das Naturwissenschaftlich-Experimentelle des Abends, aber auch das Tierisch-Urwaldartige der Menschenseele zu betonen, dazu reicht man Samowar und lautstarken Tiefsinn aus Alt-Hippie-Mund.

    Neben dem intellektuellen Kampfgetöse und manchen Lagerfeuergesprächen wird allerdings ein penetrant unterhaltsames Gesellschaftsstück gegeben - mit Frauenaufriss, Kopfstoß, Heiratsantrag - das seine Sucht nach ungebremster Flottheit durch ein bisschen Wissenschaft kaschieren muss: Hinten werden allerlei anatomische Skizzen an die Wand projiziert, und Privatdozent Basarow versteigt sich schon mal in Sloterdijksche Züchtungs-Phantasien. Eigentlich fehlt nur noch die Beerdigung des freien Willens aus Sicht der Hirnforschung.

    Natürlich wird Basárow an seiner eigenen Körperlichkeit, an seinem eigenen Begehren scheitern, das von der Witwe Anna zurückgewiesen wird. Aber wie der behände Christoph Gawenda die Verzweiflung dieser Außenseiterfigur spielt, ist schon den ganzen Eintritt wert: Gawenda zeigt jenen Weltekel, der der Aufführung sonst gänzlich abgeht.

    Großartige Schauspieler auch bei Shakespeares "Sturm". Die vom Theaterhaus Jena gekommene Claudia Bauer lässt das Stück im Depot spielen, einer kleinen, intimen Spielstätte, die vor allem Jugendliche anziehen soll, und sie rückt das Stück ganz nah an uns heran, als melancholisches, intellektuelles Körpertheater. Im Zentrum der Insel residiert, in Morgenmantel und Badelatschen, der entmachtete Prospero des famosen, ganz ruhig agierenden Jens Winterstein, neben ihm zaubert, mit Windmaschine und Sirenengesang, sein Ariel, in der grazilen Gestalt von Susanna Fernandes Genebra ein ätherisches, verschmitztes Mannequin, das auch mal mit schwarzen Flügeln als Benjamins Engel der Geschichte durch die Szene geistert.

    Der massige Martin Leutgeb macht aus dem schwarzen Sklaven Caliban einen naiven, verführbaren Kraftmenschen, die Matrosen Stefano und Trinculo haben eine unglaubliche Saufszene, der alte Gonzalo des Elmar Roloff spricht verzückt vom Naturzustand, und die im Business-Anzug steckenden Politmanager aus Mailand und Neapel regredieren unter dem Lufthauch Ariels zu jenen grunzenden, schmatzenden Affen, die wir aus Stanley Kubricks "Odyssee im Weltraum" kennen.

    Am Ende dieser schönen, kraftvoll-entspannten Aufführung siegen die Bücher, siegt Prosperos Intellektualität über die Machtgeilheit der politischen Klasse. Ein Traum, den man gerne träumt - und dass auch am Stuttgarter Theater jetzt alles gut, wenn nicht sogar noch besser wird, daran wollen wir jetzt ganz fest glauben.