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Avantgarde im Retroambiente

Die 500 Besucher des Avantgarde Festivals für experimentelle Musik kommen aus aller Welt. Sie treffen sich auf einem alten Bauernhof im schleswig-holsteinischen Schiphorst zum Zuhören, Mitmachen und Diskutieren. In diesem Jahr fand das ungewöhnliche Festival zum zehnten Mal statt.

Von Florian Fricke | 24.06.2013
    Samstagnachmittag ist die Welt am sehr gepflegten Schiphorster Dorfteich in bester Ordnung. 500 Meter weiter am Ortsrand auf dem Hof von Jean-Hervé Peron im Prinzip auch. Sie klingt bloß ganz anders.

    Wer sich zum Avantgarde Festival nach Holstein aufmacht, sollte keine musikalischen Berührungsängste haben. Er sollte neugierig sein zu erfahren, wie sich kochende Polenta anhört, ein ungezähmter, wilder Chor oder - wie hier - ein Luftballonkonzert vom deutsch-japanischen Künstlerduo Kakawaka und Morimoto.

    "Wir wurden eingeladen, zusammen ein Konzert zu spielen, und haben uns dann diese Kombination mit den Ballons überlegt und verschiedene Geräusche: Man kann reinblasen, man kann damit quietschen, man kann dran reiben, man kann sie platzen lassen und diese Luft rauslassen. Es ist eine erstaunliche Vielfalt von Geräuschen, gerade wenn man es schafft, viele Leute zum Mitmachen zu bewegen."

    Mitmachen ist wichtig auf dem Avantgarde Festival, spielen, sich öffnen, kommunizieren, diskutieren. Aber was sich für manche anhören mag wie die Nachgeburt einer Hippiehölle, entpuppt sich als erfrischend zeitloses Gruppenexperiment über alle Generationen hinweg. Gecampt wird im Garten oder auf einer Wiese bei den Nachbarn. Die Konzerte finden in der riesigen Scheune statt, mal unten, mal oben. Dazwischen kommen die rund 500 Besucher aus aller Welt im Innenhof beim nonstop brennenden Lagerfeuer zusammen und lernen sich kennen.

    Einen Backstagebereich gibt es nicht. Die Künstler sitzen plötzlich beim Mittagessen neben einem und sind genauso bezaubert vom familiären Ambiente wie der Gast. Christoph Petermann alias Kakawaka ist schon zum vierten Mal eingeladen.

    "Es gibt hier diese Merchandise-Ecke, da stellen die Künstler ihre Musik, also ihre Platten hin, und dann stellen sie ihren Becher daneben. Und die Leute nehmen die Platten, bezahlen die Platten und tun das Geld in den Becher. Und das Geld bleibt das ganze Wochenende im Becher liegen."

    Gründer, Zeremonienmeister und immer anwesender guter Geist des Festivals ist Jean-Hervé Peron. Mit seiner Band, der Krautrocklegende Faust, hat er Musikgeschichte geschrieben, ihr Konzert bildet den Höhepunkt des Festivals. Gegründet hat es Peron vor 17 Jahren als Abschreibungsprojekt. Den höchst umstrittenen Begriff Avantgarde hat er dabei bewusst gewählt, denn seine Kriterien für die Musikauswahl sind denkbar simpel.

    "Avantgarde ist so vage, dass alles passt. Es berührt mich oder es berührt mich nicht."

    Das Festival wird mittlerweile vom Hamburger Label Clouds Hill co-präsentiert und co-kuratiert. So findet zwischen allerlei Elektrogefiepe und Noiseattacken auch eine Progrock-Band wie die Bosnian Rainbows ins Programm. Vielen Besuchern ist das gleich zu poppig, aber wirklich gestört fühlt sich niemand. Jean-Hervé Peron hat sein Publikum über die Jahre gut erzogen.

    "Man setzt sich hin, es gefällt einem oder nicht, es gibt keine Buhs oder ‚Hör auf‘. Das ideale Publikum, und das haben wir jetzt hier, ist eben eines, das nichts erwartet. Ich würde sagen, 80 Prozent kommen, weil die wissen, es ist okay."

    Mittlerweile ist auch das Synchronschachturnier beendet. In der Halle eines Bauern am anderen Ende des Dorfs bauen Studenten der Kunsthochschule Braunschweig eine spektakuläre Performance auf, sie wird fast die ganze Nacht dauern. Auf Perons Hof versucht mittlerweile eine Diskussionsrunde um Kunstvermittlerlegende Bazon Brock, den schwierigen Begriff Avantgarde zu klären und ob das Festival denn überhaupt Avantgarde sei. Der Versuch endet im Eklat, weil sich der emeritierte Professor in seiner Eitelkeit gekränkt sieht.

    Es bleibt die einzige wirkliche Dissonanz in einem an klanglichen Dissonanzen so reichen Festival. Sonntagabend sind die restlichen Besucher beseelt, aber auch müde von so viel neuem Input. Es bleibt die Erkenntnis, dass Kunst und Leben durchaus eine Einheit bilden können. Und es braucht viel mehr Festivals wie das Avantgarde Festival, auch wenn die Messlatte sehr hoch liegt, wie selbst Jean-Hervé Peron zugibt.

    "Ich weiß, Selbstlob ist nicht zu schön, aber ich muss sagen, so ein Festival hab ich nicht gesehen. Ich habe viele kleine Festivals, die mit viel Liebe gemacht sind, aber unser Festival ist einmalig, ja."