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Azoreninsel Corvo
Lavaraumschiff im Atlantik

Ein Vulkankrater im Atlantik, 440 Einwohner, 1300 Rinder – die kleine Azoreninsel Corvo fasziniert durch ihre herbe Schönheit. In ihrer Mitte eine gelb-grün-blaue Seenlandschaft – ein Ort abseits der Welt, wie die Inselbewohner finden. Doch das Meer nagt unerbittlich an diesem Außenposten Europas.

Von Jochen Marmit | 25.11.2018
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    Außenposten Europas: Rund 2.000 Kilometer sind es von Corvo bis zum Festland (imago stock&people/Robert Seitz)
    "Corvo" bedeutet "Rabe". Corvo ist eine krasse Schönheit, Corvo ist nämlich ein zerborstener Klotz - Mitten im Wasser, in den Wellen des Atlantiks, 600 Kilometer entfernt von der Hauptinsel São Miguel. Ein ins Meer gestürztes Raumschiff aus Lava, schroff, ein Statement: "Krater ragt aus Meer".
    Fernando Ferreira: "17 Quadratkilometer ist die Insel groß, die maximale Ausdehnung liegt bei sechs auf vier Kilometer. Früher hatte die Insel mal 24 Quadratkilometer, sie hat also schon einen guten Teil ihrer Fläche ans Meer verloren: durch die Erosion vor allem an der Westseite des Caldeirão. Da sind auch die steilsten und höchsten Wände, direkt vom Caldeirão runter zum Meer."
    Der Caldeirão – ein Ort abseits der Welt
    Fernando Ferreira ist aus Porto, vor über 20 Jahren hier her gekommen, und geblieben. Ein adoptierter Corvinho, wie er sagt. Er arbeitet für die Umweltbehörde und die versucht gerade, das zerfallende ursprüngliche Dorf wieder herzurichten. Gedrungene Häuser aus schwarzem Lavastein, engste Gassen, keine Bäume, eingestürzte Dächer, weiß-getünchte Zwei-Zimmer-Küche-Bad. Viele Häuser stehen leer, einige sind renoviert, fast alles Wohnhäuser.
    Noch mal in Zahlen: 450 Einwohner hat Vila do Corvo. Er waren einmal 880. Das Dorf beginnt fast auf Meeresniveau, dann der Anstieg zum Berg Monte Gordo mit seinem Krater - dem Caldeirão. "Der Caldeirão ist mein liebster Ort hier auf der Insel. Das ist ein Ort, der für mich einzigartig ist, abseits dieser Welt öffnet sich da drin eine andere Welt, das ist einfach fantastisch. Ich gehe immer rein, nach unten. Zwei, dreimal pro Woche", sagt Fernando Ferreira.
    Krater, Vulkan Caldeirão, Insel Corvo, Azoren, Portugal, Europa *** Crater Volcano Caldeirão Island Corvo Azores Portugal Europe Copyright: imageBROKER/RobertxSeitz ibxsei04644504.jpg Bitte beachten Sie die gesetzlichen Bestimmungen des deutschen Urheberrechtes hinsichtlich der Namensnennung des Fotografen im direkten Umfeld der Veröffentlichung!
    Ein Ort abseits der Welt: der Caldeirão (imago stock&people/Robert Seitz)
    Eigentlich heißen die Vulkankrater, die auf allen Azoreninseln zu finden sind "Caldeira". Aber dieser war zu groß, um die weibliche Form des Wortes zu erhalten. Die ersten Siedler haben ihm die männliche gegeben - Caldeirão: dreieinhalb Kilometer Umfang, fast 400 Meter tief. Eine gelb-grün-blaue Seenlandschaft in der Mitte. Moosbewachsene Lavabrocken überall. Ausgekleidet von steilen Weideflächen, eingefasst von zahl- und zeitlosen Steinmauern.
    Die EU prägt auch den Außenposten
    Stille. Größe. Ein überirdisches Vulkanraumschiff, ins Meer gestürzt. Oft wabern Wolken im Inneren, nicht selten fegen an seinen äußeren Flanken Winde so stark, dass Windstärke 12 nicht mehr ausreicht. Dann schmeckt die Luft endgültig nach Salz, dann regnet es Meerwasser.
    Fernando Ferreira: "Das bisschen Landschaft wird fast ausschließlich als Weidelandschaft genutzt. Wir hatten vorher verschiedene Tiere - Schafe, Ziegen und Kühe. Nach 15 Jahren EU und vielen Änderungen ist heute eine Monokultur geblieben: Rinder hauptsächlich. Die sind rentabler, einfacher zu handhaben und bringen Geld fürs Fleisch. Wir exportieren lebende Rinder aufs Festland oder auf andere Inseln. Insgesamt gibt es rund 1.300 Tiere auf der Insel. Auch im Caldeirão stehen so um die 200."
    Die haben den weichen, rotlehmigen Boden samt zarter Grasbüschel in eine holprige Löcherlandschaft verwandelt. Der Weg durch die Kratersenke ist auch deshalb beschwerlich. Der Aufstieg zum inneren Kraterrand zudem fast senkrecht. Die ursprünglichen kleineren Corvorinder, die von den ersten Siedlern nach 1510 gezüchtet wurden, sind ausgestorben – nicht EU genormt, nicht rentabel genug.
    Die Corvinhos - eine verschworene Gemeinschaft
    "Wir hatten in meiner Jugend mal Zeiten, da konnten wir 90 Tage lang die Insel nicht verlassen – niemand. Es gab kein Telefon, nur Morsezeichen konnten abgesetzt werden, zweimal am Tag." Lino Fraga, 74 Jahre, erinnert sich: "Als die Revolution 1974 alles änderte und die Azoren auch eine eigene Verwaltung und Regionalregierung bekommen haben, da änderte sich sehr viel und es kam mehr Geld auf die Insel. Zuvor haben wir nie gehungert, aber es war schon ein anderes Leben."
    Jetzt sitzt der Rentner im Vorraum der einzigen Bar des Ortes, dem Café BBC, zugleich das Clubhaus der Freiwilligen Feuerwehr. Er hat mitbekommen, wie die alten Häuser des ursprünglichen Ortes verlassen, dann neue Häuser und gemeinnützige Bauten errichtet wurden. Eine Start- und Landebahn entstand, der winzige Hafen wurde befestigt. Als Kind ist er noch, wie alle auf der Insel barfuß gelaufen. Es gab keine Straßen, nur raue Lavasteinpfade. Die Kleidung bestand aus Wollstoff. So lebte die verschworene Gemeinschaft hier über 400 Jahre. "Wir waren nicht reich, aber wir hatten alles, was wir brauchten", sagt Lino Fraga.
    "Mein Großvater hat mir erzählt, dass er mit 12 Personen in einem Haus gewohnt hat - ein Haus, das heißt vier kleine Räume für alles. Da wurden die Kinder einfach in den Betten gestapelt – alle Erwachsenen in einem Raum, alle Kinder in den anderen, Küche und Wohnraum, und das war‘s. Man hat mir aber erzählt, dass diese Familie sehr harmonisch gelebt hat und immer fröhlich war", erzählt Vera Soares.
    "Ein guter Ort zum Leben"
    Ein paar Häuser hinter der Bar, am Rande des alten Teils von Vila do Corvo vermietet Vera Soares Fremdenzimmer. Sie arbeitet aber auch in der Bücherei und veranstaltet Seniorenabende. Auf Corvo ist der Barbesitzer auch Sicherheitsbeamter am Flughafen und der Barkeeper hält Ziegen und kontrolliert das Gepäck beim Check-In. Auf Corvo kennt jeder jeden und auch für die Mitvierzigerin Vera, die hier geboren wurde, bedeutet das keinesfalls Enge:
    "Wir schließen nie die Türen ab, nie. Es gibt hier keine Haustür, die abgeschlossen ist. Das zeigt ein großes Vertrauen der Menschen in die Gemeinschaft und auch meine Eltern haben nie Zweifel daran aufkommen lassen, dass hier ein guter Ort zum Leben ist. Und das habe ich auch so übernommen."
    Vila do Corvo auf der Insel Corvo, im Hintergrund die Insel Flores
    Viel Platz ist nicht auf Corvo: Die Start- und Landebahn direkt neben Vila do Corvo, dem einzigen Ort der Insel (imago / Robert Seitz)
    Von der frisch restaurierten Kirche mit den bunten Fenstern geht es aus dem alten Dorf, das sich an die östlichen Klippen der Insel schmiegt, zum Hafen steil herab. Oben schreien die Sturmvögel aufgeregt die ganze Nacht. Am Friedhof vorbei dann zum Flughafengebäude und den alten Mühlen auf der Anhöhe davor. Plastikblumen auf den Gräbern, mit Blick auf die 15 Kilometer entfernte Nachbarinsel Flores. Beide bilden die westliche Gruppe der Azoren und liegen tektonisch gesehen auf der Nordamerikanischen Platte – driften jährlich zwei Zentimeter von Europa weg.
    Kein Platz für Massentourismus
    Dann der neue Tower von Europas kleinster Stadt. Vor fünf Jahren gebaut, aber ein paar Meter zu niedrig. Nun muss das etwas höher gelegene einzige Restaurant der Insel abgerissen und abgesenkt neu aufgebaut werden. Dahinter die Landebahn, praktisch so lang, wie die Insel an der Südspitze breit ist: 800 Meter. Kommt eine Propellermaschine, sitzen fünf Mann in Uniform im einzigen Löschfahrzeug neben der Piste, der Motor läuft. Wie vor jeder ersten Landung des Tages haben sie zuvor schon die Wasserspritze getestet auf der Rollbahn. Die meisten Corvinhos sind die wenigen Meter von ihren Häusern zum Flughafengebäude mit dem Wagen gefahren, zum Tor zur Welt.
    "Wir haben für 30 Personen Platz im Flieger, ins Boot passen 12. Das wird kein Massentourismus, das ist gut so. Das ist vor allem auch für die Insel verträglich und bringt der Insel ein bisschen Leben und auch etwas Einkommen", sagt Vera Corvo.
    Beim Abflug geht der Blick noch einmal hin zur einsamen und einzigen Inselstraße: Vom Ort steil in Serpentinen ansteigend, auf der östlichen Flanke windet sie sich zwischen vereinzelten Ställen und zahllosen Mauern aus Lavasteinen, den grünen baumlosen Weideflächen empor, steigt über die vielen Wasserläufe, die vom Krater kommend Furchen gegraben haben, hinweg bis an den oberen Rand des Kraters. Und dann ist da nur noch dieses Loch, und diese andere Welt: tiefgrün, entrückt. Ein Statement aus Fels mitten im Atlantik.