Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Baby-Boom trotz Wohlstandsgesellschaft

Populationsbiologie. - Steigender Wohlstand galt bisher als gutes Mittel gegen Bevölkerungsexplosionen. In westlichen Industrieländern ging die Kinderzahl stetig zurück, während der materielle Wohlstand stieg. Eine Studie in "Nature" zeigt jetzt, dass auch in reichen Ländern der Trend zu Zwei- und Mehrkinderfamilien gehen kann.

Von Marieke Degen | 06.08.2009
    Jede Wohlstandsgesellschaft hat ihre Schattenseite. Und die heißt: weniger Nachwuchs. Je reicher das Land, desto mehr geht die Geburtenrate in den Keller. Doch diese Entwicklung ist offenbar keine Einbahnstraße. Denn wenn der Wohlstand eine bestimmte Schwelle übersteigt, werden irgendwann auch wieder mehr Kinder geboren, sagt Hans-Peter Kohler, Professor für Soziologie an der University of Pennsylvania in Philadelphia.

    "Eine ganz wichtige Schlussfolgerung von der Studie ist, dass eine zunehmende Entwicklung, Modernisierung mit den ganzen Prozessen, wie ansteigende Bildung, Einkommen, Erwerbstätigkeit nicht zwangsläufig zu einem Zurückdrängen der Familie und zu einem Rückgang der Fertilitätsrate führt."

    Kohler hat das Verhältnis von Wohlstand zur Geburtenrate untersucht. Bei 24 Industrienationen, über einen Zeitraum von 30 Jahren, von 1975 bis 2005. Wie gut es einem Land geht, lässt sich am so genannten Human Development Index ablesen, kurz HDI. Dieser Wert wird aus der Lebenserwartung, dem Pro-Kopf-Einkommen und dem Bildungsgrad einer Nation berechnet und liegt zwischen 0 und 1. 1 bedeutet: größtmöglicher Wohlstand. Kohler kam zu folgendem Ergebnis: Bei einem recht hohen HDI von 0,85 bis 0,9 bekamen die Frauen in den Industrienationen immer weniger Kinder. Doch sobald der HDI-Wert die 0,9 überschritten hatte, gab es eine Trendwende, sogar bei den Sorgenkindern Europas. Kohler:

    "Italien und Spanien, das sind südeuropäische Nachbarn, die häufig als Beispiele für diese extrem niedrige Geburtenrate in Europa genannt werden, die hatten Mitte der 90er Jahre eine zusammengefasste Geburtenziffer von 1,2 und darunter erreicht, das suggeriert also, dass Frauen 1,2 Kinder im Leben haben würden. Und das hat sich deutlich verändert. Es ist immer noch sehr niedrig, aber ist auf deutlich über 1,3 angestiegen."

    Bei 18 der 24 untersuchten Ländern war die Geburtenrate nach einem Tief also wieder leicht angestiegen, in Spanien und Italien, aber auch in den USA, in Norwegen, in den Niederlanden und in Deutschland. Kohler:

    "Unser Argument ist dass diese Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Prinzip die Gemeinsamkeit ist bei den Ländern, bei denen sich dieser Trend umgekehrt hat."

    Kinder und Karriere lassen sich also besser unter einen Hut bringen. Norwegen etwa lockt mit staatlicher Kinderbetreuung und flexiblen Arbeitszeiten. Die US-Amerikaner müssen die Kita zwar aus eigener Tasche bezahlen, hatten aber in der Regel auch genügend Geld dafür. Überhaupt konnten sich junge Menschen einfach mehr Kinder leisten. Das war zumindest bis zum Jahr 2005 so, Einflüsse der Wirtschaftskrise wurden in der Studie noch nicht berücksichtigt. Es gab allerdings auch Ausnahmen: In Kanada, Südkorea und Japan etwa wurden, trotz hohem Lebensstandard, weiter nur wenige Kinder geboren. Wahrscheinlich auch deshalb, weil in diesen Ländern zu wenig für junge Eltern getan werde, sagt Kohler.

    "Japan ist wohl das beste Beispiel, Japan ist nach wie vor charakterisiert durch eine relative Ungleichheit zwischen Männer- und Frauenrollen in der Gesellschaft, immer noch eine sehr niedrige Erwerbstätigkeit von Frauen, der durch einen sehr rigiden Arbeitsmarkt bedingt ist."

    Lässt sich der demographische Wandel in den Industrienationen vielleicht doch noch abwenden? Shripad Tuljapurkar ist Populationsbiologe an der kalifornischen Stanford University. Er hat Kohlers Studie im Fachblatt "Nature" kommentiert. Eine Entwarnung, sagt er, gebe es noch lange nicht.

    "Die Studie zeigt, dass die Bemühungen der Länder Früchte getragen haben in den letzten zehn Jahren. Um die Geburtenraten steht es jetzt nicht so schlimm wie befürchtet. Sie sind zwar immer noch viel zu niedrig, um dem Bevölkerungsrückgang entgegen zu wirken. Aber sicherlich werden die Folgen leichter zu handhaben sein."

    Um die Bevölkerungsstruktur eines Landes stabil zu halten, müsste eine Frau im Schnitt zwei Kinder zur Welt bringen. Doch das trifft nur auf eine Handvoll Industrienationen zu, die in der Studie untersucht wurden – unter anderem auf die USA, Neuseeland und Island. Wohlstand bleibt also eine Bremse fürs Bevölkerungswachstum. Das ist schlecht für Industrienationen. Für Entwicklungsländer aber, die unter extrem hohen Bevölkerungszahlen leiden, ist es eine große Chance. Tuljapurkar:

    "Ein gewisses Maß an Wohlstand geht nach wie vor mit sehr niedrigen Geburtenraten einher. Für Entwicklungsländer sind das gute Nachrichten: Besonders bevölkerungsreiche Länder wie Indien und Pakistan sollten weiter in ihre Entwicklung investieren – dann können sie mit dem wachsenden Wohlstand auch ihre Geburtenrate verringern."