Dienstag, 16. April 2024

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Bach und seine Zeit
Frommes Melodiengenie

Die Frömmigkeit des Barock ist uns fremd. Trotzdem lieben viele Menschen die religiöse Musik von Johann Sebastian Bach bis heute. Der Schriftsteller und Bach-Fan Bruno Preisendörfer hat ein Buch über die Bachzeit geschrieben. „Bach ist ein Melodiengenie“, sagte Preisendörfer im Dlf.

Bruno Preisendörfer im Gespräch mit Benedikt Schulz | 01.11.2019
Denkmal Johann Sebastian Bach, Köthen, Sachsen-Anhalt, Deutschland
Bachs geistliche Kantaten begeistern bis heute (imago images / Schöning)
Benedikt Schulz: Musik aus dem Barock ist – nicht immer, aber ziemlich oft – kompliziert, verschachtelt. Nett formuliert: Sie ist komplex und verspielt. Ein bisschen weniger nett: Sie ist umständlich und schwülstig. So oder so, sie hat ein Ausmaß an Emotionalität und Drama erreicht, das die Renaissance in ihrer, ja, eher gleichmäßigen Polyphonie so nicht erreichen konnte. Und wie man nun auch dazu stehen mag, der Großmeister dieser Komplexität war und ist Johann Sebastian Bach. Und der fasziniert offenbar bis heute. Und was hat man sich nicht abgearbeitet an diesem Mann, über den immer noch so wenig bekannt ist. Bach, der grüblerische Tüftler, der alle Ecken und Enden der dualen Harmonik ausgekundschaftet hat. Bach, der Dramatiker, der Pathos und Leidenschaft in die Kirchenmusik gebracht hat und Bach der Rebell, der überall, wo er war, für Stunk gesorgt hat.
Der Schriftsteller Bruno Preisendörfer ist eingetaucht in die Welt, in der Johann Sebastian Bach gelebt hat, diese Zeit des deutschen Barock. Es ist nicht seine erste Zeitreise in Buchform. Er hat auch schon in ähnlicher Weise die Umwelt von Martin Luther erkundet. Und es ist ein Buch über Musik und auch wieder nicht. Ein Buch, wie der Autor schreibt, in dem Musik stets im Hintergrund spielt als Folie, genau wie die Religiosität von Bach und seinen Zeitgenossen. Und ich freue mich, dass ich jetzt mit dem Autor sprechen kann. Bruno Preisendörfer ist uns aus unserem Berliner Studio zugeschaltet. Herr Preisendörfer, ich grüße Sie, hallo.
Bruno Preisendörfer: Guten Morgen.
Schulz: Also, Bach und seine Umwelt. Wir fangen jetzt trotzdem mal mit dem Menschen Johann Sebastian Bach an. Das ist ja der Komponist, über den so viel geschrieben wurde, wie kaum über einen Komponisten sonst, aber über dessen Person immer noch so wenig bekannt ist. Er bleibt immer so ein bisschen rätselhaft. Wir wollen mal ein bisschen in diese Person eindringen, Herr Preisendörfer. Was macht den Komponisten Bach, aber eben auch den Menschen Bach, den religiösen Menschen Bach aus, und zwar für Sie persönlich?
Preisendörfer: Na, Bach ist halt eine Figur, die davon lebt oder deren Faszination für uns heute daher rührt, dass man, wie Sie schon sagten, relativ wenig von ihm weiß, dass er als Mensch wahrscheinlich eher durchschnittlich war, aber als Künstler, als Musiker halt eine überragende Gestalt. Gerade für uns Heutige. Und diese musikalische Riesengestalt, die ist ja im Laufe der Jahrzehnte und Generationen und 200 Jahre immer größer geworden, nicht kleiner. Also, da ist nichts verblasst, sondern der Ruhm ist stetig angewachsen. Diese Diskrepanz ist natürlich eine Herausforderung, besonders für Biographen, der ich aber ja nicht bin. Sondern ich bin ja ein, ja, wie soll ich sagen, ein "Zeitpanoramist" oder so ähnlich und kein Biograph.
Schulz: Wir wollen über die Zeit von Bach auch gleich noch mal ein bisschen genauer sprechen. Ich bin trotzdem auch ein bisschen noch weiter interessiert an Johann Sebastian Bach. Dass der religiös war, das ist ja kein Geheimnis. Man muss sich ja nur die – ich sage jetzt mal – absurd hohe Zahl an geistlichen Kantaten vor Augen führen, die er vor allem in seiner Leipziger Zeit da zu Papier gebracht hat. Wir wollen mal kurz in eine solche Kantate reinhören, und zwar die Kantate "Christ lag in Todesbanden" und im Sinne der Verständlichkeit ausnahmsweise mal hier als reiner Text zitiert und nicht gesungen:
"Hier ist das rechte Osterlamm. Davon Gott hat geboten. Das ist hoch an des Kreuzes Stamm in heißer Lieb gebraten. Das Blut zeichnet unsere Tür. Das hält der Glaub dem Tode für. Der Würger kann uns nicht mehr schaden. Halleluja."
Schulz: Also, ganz schön drastische Sprache. Passend zum Reformationstag war das jetzt übrigens ein Text von Martin Luther, den Bach da vertont hat. Was ist das für eine Religiosität, die da in solchen Texten steckt in dieser Zeit, Herr Preisendörfer? Wie würden Sie die beschreiben?
Preisendörfer: Na ja, bei Bach hat es schon so starke Innerlichkeitszüge, die aber auf der Textebene, das Beispiel eben, Luther ist da auch nicht frei, also nicht nur kitschgefährdet ist, sondern da dramatisch in den Kitsch auch abgleitet. Gut, Luther ist da ein bisschen unantastbar. Aber auch die zeitgenössischen Textdichter von Bach, das ist dann mitunter schon also jenseits der heutigen ästhetischen Schmerzgrenze. Die Innerlichkeit und die anrührende Intensität des Glaubens und der Transzendenz, die wird bei Bach gespürt und gehört eben über die Musik.
Das Großartige ist, dass die mitunter etwas kitschigen oder auch banalen oder einfach nur schrägen Texte dieser Musik nichts anhaben können. Das ist ungeheuer. Also, bei einem minderen Meister würden diese Texte das Gesamtgebilde zerstören und auseinanderfliegen lassen. Und bei Bach hält die Musik alles zusammen. Das ist großartig.
Schulz: Also, würden Sie auch sagen, dass diese Musik von Bach die Texte über die Zeit hinaus konservieren kann, sonst wären sie in Vergessenheit geraten?
Preisendörfer: Ja, absolut. Sehen Sie, Bach wird ja weltweit aufgeführt. Also, es gibt da Beispiele, weiß ich nicht, Berichte, die ich jetzt nur referieren kann, nicht wortgetreu zitieren kann, aber wo jemand – ein Amerikaner – schildert, wieso Bach-Kantaten aufgeführt werden, also nicht in einer Kirche, sondern in einem Konzertsaal. Die Weihnachtskantaten. Und nicht im Winter, sondern im Sommer. Und auf Deutsch und nicht auf Englisch. Die Leute verstehen also gar nichts. Und der ganze Kontext ist ein völlig anderer und trotzdem sind die Menschen hingerissen von dieser Klangwelt.
Schulz: Zwischen der Welt von Luther, den Sie ja auch zeitreisemäßig erkundet haben, und der Welt von Johann Sebastian Bach liegen ungefähr zwei Jahrhunderte. Und zwei Jahrhunderte, in denen Deutschland unter anderem vom Dreißigjährigen Krieg umgewälzt wurde, zwei ganz unterschiedliche Welten. Und doch gibt es ja diese Nähe zwischen Bach und dem großen Reformator. Wie nah im Geiste, was würden Sie sagen, waren sich diese beiden eigentlich wirklich?
Martin Luther, Johann Sebastian Bach (v.l.)
Der große Reformator und der große Komponist: Martin Luther und Johann Sebastian Bach (v.l.) (picture-alliance /dpa / Norbert Neetz / Bachhaus Eisenach)
Preisendörfer: Das ist schwer zu sagen, also, denn man kann das ja nur nachfühlen und auch musikalisch strukturell rekonstruieren, denn unmittelbare Zeugnisse gibt es ja kaum. Also, von Bach gibt es, glaube ich, nur ein oder zwei wirklich von seiner Hand stammenden privaten Briefe zum Beispiel. Also, man weiß da relativ wenig. Aber ich vermute und ich nehme an, dass – abgesehen von der unüberbrückbaren historischen Kluft, Sie haben ja den Zeitraum eben erwähnt – trotzdem Bach der lutherischen Frömmigkeit schon sehr, sehr nahesteht. Allerdings gab es ja dann in der Zeit zwischen den beiden, hat sich der Pietismus entwickelt, von dem Bach auch sicherlich berührt ist.
Er war sicherlich kein Pietist, aber von dieser innerlichen Frömmigkeit und auch von dieser Ästhetisierung des Leidens, also, das liebten die Pietisten so, dieses sich Eingrübeln und Einreden in den Schmerz, ja, also, was bei Luther ja auch schon ein bisschen vorgegeben ist, haben wir ja gerade gehört. Also, das passt alles sehr gut zu Bach. Heute ist es natürlich anders, denn die Kluft der Moderne ist so groß, dass sie ja eigentlich nicht mehr zu überbrücken ist. Jedenfalls im religiösen Bereich, da ist Gott einfach zu weit in die Ferne gerückt.
Schulz: Heißt aber auch, dass die Musik von Bach sozusagen – ich nenne es jetzt mal vorsichtig – im heutigen Konzertraum säkularisiert wurde?
Preisendörfer: Ja, das kann man so sagen. Also, ich mag den Säkularisierungsbegriff nicht, aber das würde jetzt zu einer theoretischen Diskussion ausarten. Aber ich glaube, man kann schon sagen, dass diese Art von Frömmigkeit und diese ungeheure Glaubenswucht, das ist uns heute fremd. Also, ich fasse es ganz banal zusammen. Also, zu Luthers Zeit und natürlich auch noch zu Bachs Zeit war der Mensch, also für die Gläubigen war der Mensch für Gott da. In unserer konsumorientierten Gegenwart ist es ja eher so, dass auch der Glaubende dann eher sagt, der liebe Gott ist für mich da und der ist mir nur lieb und wert, wenn er sich um mich kümmert. Und das ist ein völlig anderes Glaubensverständnis. Und ich glaube, das ist auch nicht zu überbrücken.
Schulz: Herr Preisendörfer, Sie haben ein Buch über die Zeit geschrieben, in der Bach gelebt hat. Sie schreiben deswegen anfangs auch über den Barock. Bach war eben Barock-Komponist, genauso wie seine berühmten Zeitgenossen Händel und Telemann. Ich habe mich trotzdem gefragt, als ich Ihr Buch gelesen habe, bei Ihren Ausflügen ja in so sehr, sehr unterschiedliche Aspekte dieser Zeit: Ist das jetzt wirklich ein Buch über den Barock, was ja eigentlich mehr eine kunstgeschichtliche Kategorie ist, oder ist es ein Buch über die beginnende Aufklärung oder über den Absolutismus in Europa oder alles zusammen?
Preisendörfer: Alles zusammen. Also, es wäre nicht schwer, jetzt daraus mir einen literaturkritischen Strick zu drehen, dass man sagt, na ja, der schreibt halt über alles und nichts. Aber sei es drum. Es ist ja so: Diese kompakten Epochen gibt es ja sowieso nicht. Also, das sind ja Konstruktionen im Nachhinein, besonders beim Barock. Also, die Aufklärung, die hat sich selber so bezeichnet. Die Renaissance hat sich selber so bezeichnet. Barock ist ein nacheilender oder nachholender Begriff, und zwar übrigens ein Schmähbegriff. Und dann ist die Sache so vielfältig. Also, die Frühaufklärung hat ja in der Zeit schon begonnen. Also, Thomasius kommt ja im Buch auch vor, also, der Nachfolger von Leibniz, wenn man es so sagen will. Leibniz selber ja auch schon ein Element der frühen Aufklärung.
Dann am Ende von Bachs Lebenszeit – also, er ist ja 1750 gestorben – dann dieses Rokoko, dieses preußische Rokoko, was dann noch mal ganz anders verspielt ist. Und dann noch in den verschiedenen europäischen Regionen und Ländern und Höfen. Ja, also, zwischen dem Provinzhof in Potsdam und dem Sonnenkönig liegen ja Welten. Das kann man alles eigentlich gar nicht unter einen … Hut sowieso nicht, aber auch nicht unter eine Perücke bringen.
Barock war eine Zeit des Übergangs
Schulz: Was ich interessant finde, Sie beschreiben auch in einem Kapitel die Rolle des Wissens, des intellektuellen Fortschritts, wenn man so will, über den Anfang vom Ende der Unvernunft. Gleichzeitig ist ja der Barock auch eine Epoche – wenn der Barock nun eine Epoche sein soll – eine Hochzeit von, ich nenne es jetzt mal düster gefärbten Pseudowissenschaften. Magie und Okkultismus haben ja wirklich Konjunktur zu dieser Zeit. Ist es deswegen vielleicht auch eine Übergangsphase?
Preisendörfer: Ja, ich würde schon sagen, dass das eine Übergangszeit ist. Wobei, auch da kann man immer daran denken, dass im Nachhinein ja nun eigentlich nahezu jede Phase eine Übergangsphase ist. Also, unsere Zeit zum Beispiel auch. Wer weiß, was die in zwei Generationen über uns sagen. Aber sei es drum. Diese Mischung, die Sie ansprechen, die ist natürlich schon besonders ausgeprägt in dieser Zeit. Also, Beispiel: Die ersten wissenschaftlichen Forschungsleistungen auf der Ebene der Chemie am Beispiel des Porzellans, also, wie erzeuge ich künstliche Stoffe, wurden ja von Menschen erbracht, die halbe Magier waren. Also, das steckt ja in dem Wort Alchemie, der Alchemist. In dem Wort Alchemie steckt ja die Chemie schon drin, sodass diese harte Grenze der Neuzeit und der Moderne zwischen Magie und Zauber und wissenschaftlicher Stringenz und Rationalität zu dieser Zeit so noch gar nicht gezogen werden konnte.
Anderer Begriff von Wissenschaft
Schulz: Also, den Begriff Pseudowissenschaften, den ich jetzt gerade verwendet habe, den hätte man in der Zeit kaum verstanden.
Preisendörfer: Ja, weil es diese Wissenschaft in unserem Verstand, dieser ganz harte, mit Recht harte, das meine ich jetzt gar nicht kritisch, dieser ganz harte Rationalismus, der war damals noch gar nicht entwickelt, sodass man so etwas wie Pseudowissenschaft, das hätte man gar nicht verstanden, was damit hätte gemeint sein sollen, ja, genau.
Schulz: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das ist ja der Zeitraum, über den wir im Wesentlichen jetzt reden nach den konfessionellen Konflikten im Dreißigjährigen Krieg, aber eben auch in einer Hochzeit einer neuen Strömung, den Pietismus – den haben Sie schon angesprochen. Kann man denn die Religiosität wenigstens dieser Epoche auf einen gemeinsamen Nenner bringen?
Preisendörfer: Nein, glaube ich, auch das nicht, denn es gab die Pietisten, es gab die lutherische Orthodoxie. Die beiden waren feindliche, mitunter todfeindliche Brüder. Es gab den Calvinismus, was ja auch keine entspannende Situation war zwischen den Calvinisten und den Lutheranern. Es gab ja bitteschön auch noch den Katholizismus, und zwar auch wieder verschiedene Strömungen. Aber es gibt ja so Leute wie diesen fulminanten Prediger Abraham a Sancta Clara, der in Wien herumgepoltert hat. Der hat so eine Sprache, die dem Klischee-Barock besonders entspricht, also sehr ausufernd und sehr wuchtig und sehr polternd und das Übel der Welt und sehr negativ und todesbezogen und untergangsjubilierend. Also, das gehört ja alles in die gleiche Zeit, wird aber von verschiedenen Menschen, in verschiedenen Regionen, auf verschiedene Weise gelebt.
Schulz: Sie hören den Deutschlandfunk "Tag für Tag" und ich spreche mit Bruno Preisendörfer, Schriftsteller, über sein aktuelles Buch "Als die Musik in Deutschland spielte: Reise in die Bachzeit". Lassen Sie uns, Herr Preisendörfer, noch ein bisschen über die Musik selbst sprechen. Es gibt ja dieses schöne Zitat aus der Generalbasslehre von Bach – wird immer wieder zitiert, Sie tun es auch – und es ist ja auch einfach so markant. Also, der Generalbass ist das vollkommenste Fundament der Musik, welcher mit beiden Händen gespielt wird, damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes. Von mir jetzt leicht eingekürzt der Ausspruch. Also, wohlklingende Harmonie zur Ehre Gottes. Also, die Harmonie ist der Ausdruck des Göttlichen und der Missklang ist des Teufels Werk. Richtig?
Die Harmonie ist göttlich
Preisendörfer: Ja, so kann man das ganz gut zusammenfassen. Und ich glaube auch nicht … das ist keine Reduktion, sondern das war wirklich so gedacht und gemeint. Es gab ja eine Verbindung zwischen der Harmonie in der Schöpfung, der Harmonie in der Kunst, der Harmonie eines gelungenen gläubigen Menschenlebens. Also, das waren alles Entsprechungen und alles war aufgehoben, in das Gute, Große, Ganze, was eben für uns heute auch schwer nachvollziehbar ist. Denn uns ist ja alles … auch das meine ich nur konstatierend, nicht kritisch, uns ist ja alles zerbrochen. Und das war damals … im Idealfall wurde das so gedacht.
Natürlich haben die Menschen gelitten, die Menschen haben sich gefürchtet. Die Menschen haben vor dem jüngsten Tag gezittert. Aber die ursprüngliche Idee war: Die Welt ist gut eingerichtet und der liebe Gott muss sich übrigens im Einzelnen gar nicht mehr um Nachbesserung kümmern, sondern, das war ja auch eine Metapher aus der Zeit schon, die Uhr ist aufgezogen und man soll die eigentlich gar nicht so groß stören. Und der göttliche Uhrmacher hat das optimal gemacht. Das Wort hätte man so natürlich nicht benutzt. Und wir müssen unseren Teil nur dazu beitragen und dann ist das alles schon ein schönes, großes, harmonisches Ganze, wenn eben der Teufel, wenn das Böse nicht hineinstört.
Der Berliner Schriftsteller Bruno Preisendörfer
Der Berliner Schriftsteller Bruno Preisendörfer (Deutschlandradio / Oranus Mahmoodi)
Schulz: Wenn wir jetzt über göttliche Harmonie sprechen, auf der anderen Seite hatte Bach, aber auch andere Komponisten zu seiner Zeit, ja überhaupt kein Problem, ein und dieselbe Melodie, dieselbe Harmonie für ein geistliches, aber eben auch für ein weltliches Stück zu benutzen, zum Beispiel beim Weihnachtsoratorium, was ja auch vorher schon mal benutzt wurde, der Eingangschor. Ist das dann auch ein Handwerk, was er da macht, um die Göttlichkeit zu unterstreichen oder ist die Harmonie selbst jetzt göttlich?
Preisendörfer: Na ja, die Harmonie wird schon als göttlich vorgestellt von den Menschen. Die Schöpfung ist eigentlich harmonisch. Und, wenn es nicht diese Katastrophe gab im Paradies, und das war ja nun – jedenfalls nach der Lehre, nach der Überlieferung, nach der Schrift – eine von Menschen gemachte Katastrophe. Wenn das da nicht gewesen wäre, dann wäre die Schöpfung in Ordnung geblieben. Die Verwendung von Melodien für verschiedene Zwecke, also aus weltlichen Anlässen und für religiöse Gegebenheiten und Begebenheiten, das hat einfach damit zu tun, dass die ungeheure Leistungsfülle, die Bach erbringen wollte, aber auch erbringen musste nach Arbeitsvertrag, also er hatte ja einen Arbeitsvertrag.
Es war ja nicht so, dass er einfach nur sein Geld gekriegt hat. Er hatte ja Verbindlichkeiten zu erfüllen. Dass das ohne dieses Recycling – die Fachleute, die musikalischen, sagen Parodieverfahren, also ohne dieses Wiederverwenden von Melodien wäre das nicht schaffbar, möglich gewesen. Das ist also jetzt nicht irgendwie was, was die religiöse Intensität zurücknimmt oder was gar blasphemisch gemeint ist, überhaupt nicht, sondern das ist einfach eine Verwendung von musikalisch geistigem Material für verschiedene Zwecke aus gegebenem Anlass.
Wie dramatisch, berührend darf die Musik sein
Schulz: Diese kirchlichen Kantaten oder auch die Passionen der Barockzeit – nicht mal nur die von Bach – ich habe das Gefühl, dass sie oft so ein bisschen gefangen sind, einerseits im Hang zur Dramatik und andererseits eben auch in diesem Zwang, dass man auch nicht zu dramatisch, nicht zu opernhaft sein darf, als ob der dramatische Effekt der Musik, zumindest im religiösen oder im kirchlichen Kontext immer auch so ein bisschen peinlich sein müsste. Wie empfinden Sie das?
Preisendörfer: Das war ein Streit in der Zeit. Also, die Zeitgenossen haben sich darüber gestritten, ob die Musik, also expressiv sein soll, ob sie eben dieses Opernhafte sein soll, ob sie die Gemüter berühren soll, Emotionen auslösen soll. Oder ob sie regelförmig Baulichkeit pflegen soll und möglichst wenig aufregen soll. Das waren die zwei Hauptpositionen. Und die sind mitunter recht heftig aufeinander losgegangen. Also, da gibt es auch Namen, die dann für die jeweiligen Richtungen stehen. Und die Obrigkeit von Bach, also die Leute, die halt seine Chefs waren, wie man heute sagen würde, die waren mehr dafür, alles schön ordentlich so zu machen nach dem Herkommen.
Bach hat eine neue musikalische Sprache da in die Gottesdienste auch hineingebracht. So, wenn ich das aber tue und schon weiß, wie meine Vorgesetzten damit umgehen, dann versuche ich natürlich, in bestimmten Situationen das so zu machen, dass nicht gleich der Stab über mich gebrochen wird. Also, ich laviere. Und je nachdem, wie mein Standing gerade ist im Kampf gegen die Kirchenobrigkeit und auch die Stadtobrigkeit – und manche Leute waren ja beides gleichzeitig, hatten also auch Macht – je nachdem, wie mein eigenes Standing ist, kann ich mich dann weiter aus dem Fenster lehnen oder ich muss mich halt zurücknehmen. Und je nach Phase ist das bei Bach auch zu spüren. Er hat ja auch seine Passion, die Johannes-Passion, gibt es, glaube ich, vier Fassungen. Da gab es immer viel Ärger. Das macht aber auch die Dynamik dieser Riesenwerke aus.
Schulz: Herr Preisendörfer, versuchen wir uns mal zum Ende des Gesprächs noch an einer Art Resümee, soweit das denn möglich ist. Also, diese Frömmigkeit, hatten Sie auch schon gesagt, die ist uns ja heute eher fremd. Und die Musik, so verschachtelt sie ist und die sich ja auch in ihrem Kontrapunkt ja auch nicht immer so ganz schnell erschließt, auch die ist uns manchmal eher fremd und trotzdem fasziniert sie uns. Trotzdem fasziniert Johann Sebastian Bach immer noch so viele Menschen, vom Experten auch bis zum Laien, auch die Leute, die eben keinen Kontrapunkt studiert haben – was, glaube ich, auf uns beide auch zutrifft, ohne Ihnen zu nahe zu treten.
Preisendörfer: Ja, gewiss.
Hinreißendes melodisches Element
Schulz: Dafür gibt es viele Erklärungen, Herr Preisendörfer. Aber jetzt nach 400 Seiten "Reise in die Bachzeit", was ist Ihre Erklärung?
Preisendörfer: Also, ich glaube, ein wichtiges Moment ist, unabhängig von der Komplexität, selbst, wenn man die gar nicht ganz fassen kann, ist, dass Bach ein großer Meister der Melodie ist. Also, er ist ein Melodiengenie. Und Melodien sind nun etwas, was die Menschen mögen und was die Menschen anrührt. Also, ich habe vorgestern Nacht – manchmal passiert mir das, bleibt man da am Computer hängen und hört sich die Musik an und weiß ich nicht, YouTube. Und dann merkt man, hoppla, ist ja schon morgens um 2 Uhr oder so.
Jedenfalls bin ich da auf so ein Video gestoßen mit zehn – auf YouTube, wie gesagt – die zehn besten Melodien aller Zeiten. Ist natürlich Quatsch, aber egal. So, und was interessant war: Von diesen zehn Melodien waren drei von Bach. Von einem YouTube-Blogger waren drei Melodien von Bach. Kein Komponist kam zweimal vor. Drei Stück von den zehn waren von Bach. Das zeigt, dass dieses melodische Element so hinreißend ist, dass man das genießen kann und sich davon einhüllen lassen kann, auch, wenn man diese kontrapunktlichen Philosophien musikalischer Art nicht ganz verstehen kann.
Schulz: Bruno Preisendörfer hat die Welt von Johann Sebastian Bach, seine Umwelt erkundet in seinem Buch "Als die Musik in Deutschland spielte: Reise in die Bachzeit". Herr Preisendörfer, haben Sie vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
Preisendörfer: Ja, gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bruno Preisendörfer: Als die Musik in Deutschland spielte: Reise in die Bachzeit. Galiani 2019, 480 Seiten, 25 EUR.