Da liegt er, krank, schwach und hoffnungslos, denn ein englischer Quacksalber, der Chevalier John Taylor, hat ihm mit seiner Falschbehandlung das Augenlicht endgültig ruiniert. Was geht in ihm vor?
Er erinnert sich, wie er als Freischüler Mitglied des Mettenchores war. Wie er sich Almosen verdiente, mit denen man durchaus sein Auskommen finden konnte. Wie er von Lüneburg aus Abstecher nach Hamburg unternimmt, und zwar nicht nur um den berühmten Organisten Johann Adam Reincken zu hören, sondern auch, um die große Oper zu besuchen, darunter etwa auch der "Störtebeker" des Reinhard Keiser.
Das Lüneburger Personal zieht an ihm vorbei:der Organist Johann Jakob Löw, der sich "Löw von Eysenach" nannte, aber ein echter Wiener war, der Abt Statz Friedrich von Post, von dem die Lüneburger Mettenordnung stammte, oder auch Thomas de la Selle, der als erster ihn mit der neuen französischen Musik bekannt machte. Auch Legenden werden eingestreut, die man aus jeder Bach-Biographie kennt: die berühmten Heringsköpfe beispielsweise, die dem hungrigen Alumnaten aus einem Fenster zugeworfen werden, und die mit Dukaten-Stücken gefüllt sind. Diese fliegen auch aus den Fenstern dieser Erzählung..
Aber Johann Sebastian Bach erinnert sich natürlich nicht nur an Mitschüler und Lehrer, an Schülerstreiche und Stimmbruch - während ihm seine Ehefrau Anna Magdalena den Schweiß von der Stirn tupft und das Süppchen reicht, denkt er auch an "Dodo", seine Liebe in Lüneburg, seine erste Liebe. Vor seinen inneren Augen sieht er "Dodos Liebesäpfel, die er damals aus dem Wams herausgestreichelt hatte." Und Ulrike Längle gibt sich dabei alle Mühe, uns den Jung-Bachschen Soft-Kamasutra unter Zuhilfenahme so mancher Alt-Arie zu erklären, und wer die musikalischen Anspielungen kennt, wird hier vieles zugeben müssen.
Die etwa hundertseitige Erzählung hätte deswegen bis zur Seite 50 als Kleinform von Brochs "Tod des Vergil", wenn schon nicht originell, so doch formsicher und unterhaltsam sein können. Freilich hätte man aber auch schon an diesem Punkt kritisch einwerfen müssen, daß die stilistischen Möglichkeiten der Autorin, Bachs Jugend-Liebe in Todes-Nähe zu vergegenwärtigen, doch begrenzt sind, und daß die aufgeladene Erotik der üppig ausgebreiteten barocken Texte vorschnell auf Johann Sebastian persönlich übertragen wird.
Aber in der Mitte schlägt diese Erzählung um: plötzlich ist Bach nicht mehr blind, er kann tatsächlich den Besuch erkennen, der nach dreißig Jahren leibhaftig und völlig unerwartet in seinem Leipziger Sterbe-Zimmer steht. Es ist natürlich die Jugendgeliebte Dodo, inzwischen freilich eine gestandene Äbtissin von Medingen mit Herzfehler. Anders als "Lotte in Weimar" überlebt Dodo in Leipzig diesen späten Kurzauftritt freilich nur lang genug, um die Rest-Familie Bach zu verunsichern und um einen Brief zu hinterlassen, aus dem hervorgeht daß sie mit Johann Sebastian Zwillinge hatte, Johann Michael und Rachel Dorothea, die früh verstarben und auf deren Beerdigung der junge Johann Sebastian- ohne es zu ahnen- selbst die Begräbnismusik abgeliefert hat. Und daß sie natürlich Bach nie vergessen konnte, und deswegen in ein Kloster ging. Jetzt endlich erfährt der Leser auch, was es mit den Heringen und den Dukaten wirklich auf sich hatte: Dodo war es gewesen, die einen jungen Adligen in Männerkleidern gespielt hatte, und ihn hatte rufen lassen, damit er ihr beim Ausziehen helfe.
Aber die altgewordene und herzschwache Dodo haucht noch am Totenbett des Thomaskantors ihr Leben aus, und danach läßt sich auch dieser beim Ableben nicht mehr lange bitten. Bach stirbt, was erzählerisch freilich heißt, daß die Geschichte endgültig peinlich wird: Bach schwebt in die Luft, plauscht als Seelchen noch kurz mit Verdi und Rossini, und macht sich mit James Bond über die je unterschiedlichen Bedeutungen von "B-H" so seine Gedanken. Wenn der gute Geist des Johann Sebastian auf Wolke Einundvierzig schwebt, denn das ist schließlich die zahlenmäßige Repräsentation seines Namens, dann ist die Autorin endgültig von allen guten Geistern verlassen.
Und wenn man inmitten der Blut- und Sperma-Literatur des Zeitgeistes auch schon längst wieder auf subtilere Formen erzählter Erotik wartet, wir hätten uns die Liebesäpfel und andere Früchte in Dodos Obstgarten dennoch gern anders erzählerisch darreichen lassen, und Bachs Formulierung "Wir haben immer dacapo gemacht..." ist nur einfach dumm, platt und peinlich.
Das gilt auch für den Titel der Erzählung, die schließlich "Bachs Biß" heißt. Natürlich freuen wir uns über jede dentistische Klarstellung von Bachs Zangenbiß, und darüber, daß sich auch damit fremde Ohrläppchen anknabbern liessen. Aber daß die emporschwebende Seele Bachs im Zeitraffer sich dem Leipzig der Gegenwart nähert, eine flatternde Fahne sieht, und durch einen Biß den Vorhang über Leipzig zu breiten vermag, einen solchen Vorhang hätte man der Erzählung selbst schon viel früher gewünscht.
Nach ihren Erzählungen "Vermutungen über die Liebe in einem fremden Haus", nach ihrer Erzählung über Antonio Vivalidi ("Il prete rosso"), hat man die in Bregenz lebende Autorin immer wieder mit Adalbert Stifter verglichen. Davon ist hier nicht viel zu erkennen: eher schon handelt es sich um namedropping: nach Kafka, Vivaldi eben J.S.Bach, und ein kalendarisches System literarischer Wiedervorlage, das einem Vivaldi, der auch an einem 28.7. gestorben ist, jetzt den Johann Sebastian Bach nachliefert.
Um im Bild zu bleiben: der bach-hungrige Leser hat das Gefühl, als seien ihm Heringsköpfe aus einem Bregenzer Fenster zugeworfen worden. Aber es fanden sich keine Dukaten drin.