In Auftrag gegeben hatte das Projekt der damalige Generalsekretär der Unesco, ein Senegalese namens Amadou Mahtar M'Bow. Er brachte die größten Geberländer der Unesco aber nicht nur durch seine antiwestliche Politik auf, sondern auch durch seine fragwürdige Geschäftsführung. Unter seine Ägide wuchs die Zahl der fest beamteten Mitarbeiter um etliche hundert auf über 3000, und als Personalchef setzte er ausgerechnet einen Vetter seiner haitianischen Ehefrau ein. Die Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben wurde völlig unmöglich, als M'Bow von der Berechnungsmethode des "konstanten Dollars" abrückte. Vergleiche mit der Buchführung aus den Vorjahren konnten nicht mehr angestellt werden.
Das war der Augenblick, da den Regierungen der USA und Großbritanniens der Kragen platzte und sie den Austritt aus der Organisation erklärten, obwohl gerade diese beiden Länder bei der Gründung der Unesco nach dem Zweiten Weltkrieg Pate gestanden hatten. Die Alliierten waren dabei von der Einsicht ausgegangen, dass Kriege zuerst in den Köpfen entstehen und dass so etwas wie der Nationalsozialismus nur möglich geworden war durch die Anstachelung von Vorurteilen und Intoleranz bei jedem Einzelnen. Deshalb – so erklärte man – sollten die Staaten künftig versuchen, neben allen ihren klassischen Aufgaben auch noch gegen Vorurteile und Intoleranz bei den Menschen anzugehen und Vernunft und Humanität zu fördern.
Dies ist in der gegenwärtigen Epoche mit den Mitteln, die einer solchen Institution zur Verfügung stehen, natürlich kaum möglich. Das politische Pathos der nach wie vor am laufenden Band produzierten Resolutionen wirkt heute bloß noch komisch, und in der Tat: weder die Öffentlichkeit noch die Presse noch auch nur die sogenannten Kulturschaffenden nehmen die zahlreichen von der Unesco beschlossenen Manifeste für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit, Erklärungen von Prinzipien der Toleranz und Dekaden der kulturellen Entwicklung überhaupt zur Kenntnis geschweige denn ernst.
Die Kontroversen von einst sind zwar ausgestanden, der Generalsekretär hat mehrfach gewechselt, die Verwaltung ist wieder solide, aber auf ihrem eigentlichen Gebiet, dem kulturellen, ist die Unesco von bestürzender Bedeutungslosigkeit. Höchstens für die von ihr aufgestellte Welterbeliste interessiert man sich hin und wieder, wenn und weil hin und wieder ein Ort, den man kennt, darin aufgenommen wird.
Ob sich diese desolate Lage mit dem Beitritt der Vereinigten Staaten wesentlich ändern werde, darf bezweifelt werden. Zunächst einmal bedeutet der von Präsident Bush angekündigte Schritt, dass die Organisation über mehr Geld verfügen wird. Die USA und Großbritannien steuerten vor ihrem Austritt ein Viertel des Budgets bei, das dürfte heute auf 100 bis 200 Millionen Euro hinauslaufen – eine im Bereich der Kultur gewaltige Summe. Dennoch war bisher sicher nicht der viel beklagte Geldmangel an den dürftigen Resultaten der Unesco schuld. Denn die Unesco ist unter allen UNO-Organisationen darin einzigartig, dass sie einen intellektuellen Anspruch erhebt. Und es widerspricht einfach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, dass in einem einzigen Pariser Bürogebäude 2000 brillante Geister sitzen.
Es fehlt aber ein Glockenturm, denn die Unesco gebärdet sich schon immer mehr wie eine Kirche als wie eine kulturpolitische Weltorganisation. Mittwoch Mittag, 13 Uhr, zum Beispiel hätten die Glocken besonders laut und lange läuten müssen, wurde doch in einer Presse-Messe ein neues heiliges Gebetbuch vorgestellt: der erste Weltkulturbericht, fast 500 Seiten dick, ein Großprojekt, das auf einen sogenannten Aktionsvorschlag einer sogenannten Welt-Kommission für Kultur und Entwicklung zurückgeht. Diese Welt-Kommission sollte verhindern, dass die von der Unesco ausgerufene Welt-Dekade für kulturelle Entwicklung so unbemerkt zu Ende gehe wie sie zehn Jahre lang - von 1987 bis 1997 - unbemerkt stattgefunden hatte. Deshalb musste ein Bericht verfasst werden - Titel: "Our creative diversity" (Unsere kreative Verschiedenheit) - in dem die Forderung nach einem weiteren Bericht über die weltweite Gesamtlage der Kultur stand.
Diese Bestandsaufnahme sollte alles einbeziehen, was irgendwie mit Kultur zu tun hat: Demokratie, Wirtschaft, Menschenrechte, Geschlechterbeziehungen, Werte und Normen - das Ganze versehen mit Indikatoren, damit man die kulturelle Lage in verschiedenen Regionen auch vergleichen kann. In Anbetracht der Ungeheuerlichkeit dieses Unterfangens war die Präsentation des Resultats vor ein paar Dutzend Journalisten mitten in der Woche zur Mittagsessenszeit verräterisch kleinkariert. Hatte die versammelten Behördenbischöfe am Ende doch kein Zutrauen in die eigene Offenbarung?
Von wegen! Am Zutrauen in die Gewalt der Sprache fehlt es bei der Unesco nie. So erklärte der Herr des Hauses, der Biochemiker und Hobbypoet Federico Mayor, der seit elf Jahren als Generalsekretär amtiert, man habe diesen Weltkulturbericht verfasst, weil der Menschheit eine globale Krise drohe, und er hoffe, der Report werde ein Meilenstein auf dem Weg zum Frieden sein. Seine Stellvertreterin, die Anthropologin Lourdes Arizpe, die das Projekt koordiniert und allerlei Planungskonferenzen rund um den Erdball abgehalten hat, formulierte es so: "Der Weltkulturbericht wird dem analytischen und quantitativen Nachdenken über die Beziehung zwischen Kultur und Entwicklung ein neues Feld eröffnen."
Solche Phrasendrescherei kennzeichnet den Text von der Anfangs- bis zur letzten Zeile. Bereits im ersten von insgesamt sieben Teilen wird der Leser auf die Unesco-Liturgie eingestimmt. Sie besteht in der myriadenfachen Abwandlung eines philosophischen Gedankens, der, wenn man ihn einmal bündig ausformulierte, so lauten würde: Alles hat mit allem zu tun. Originaltext: "Globalisierung führt zu gegenseitiger kultureller Durchdringung, welche im Gegenzug eine Vervielfachung von Veränderungen hervorbringt und neue 'lokale' Kulturen wachsen lässt."
Es gibt Dinge, die muss man gesagt bekommen, weil man sie nicht vermuten würde. Die Unesco hat wieder einmal bewiesen, dass man ihr erst innerlich beitreten muss, um ihre Schriften zu verstehen und zu würdigen. Auf 480 Seiten Weltkulturbericht geht es um ein bisschen Dritte Welt und ein bisschen Feminismus, der Rest ist verbaler Verpackungsmüll, garniert mit Dutzenden von Namen aus der internationalen Kulturwissenschaft. Doch all diese Gelehrten haben keine größeren Erkenntnisse zu bieten als etwa die, dass kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung einander bedingen.
Obwohl die Unesco seit dem Austritt der Vereinigten Staaten und Großbritanniens über Geldnot klagt, ist sie für einen Intellektuellenklub, der sie sein will und sein soll, noch immer viel zu üppig ausgestattet. Es widerspricht nämlich einfach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, dass in einem einzigen Pariser Bürogebäude 2000 brillante Geister hinter Schreibtischen sitzen und Schriftsätze verfassen, die das Weltgewissen aufrütteln. Der nächste Weltkulturbericht ist jedoch schon in Arbeit. Künftig soll alle zwei Jahre einer erscheinen.
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