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Bad in der Geschichte

Wien kann man nicht mit Österreich gleichsetzen. In der Hauptstadt sammelte sich schon früh eine Bevölkerung wie nirgends sonst. Mit positiven und negativen Auswirkungen und Schattierungen. Eine Ausstellung im Künstlerhaus Wien zeigt diese Gegensätze exemplarisch für das Jahr 1930 und beschreibt das Sozialgefüge der Donaumetropole.

Von Beatrix Novy |
    1930 - das ist einerseits für viele, die mit dem heute üblichen Geschichtswissen von der Schule gekommen sind, so weit weg wie das Pleistozän, andererseits wirken ihre Bilder, ihre Moden und Haltungen vielfach noch sehr vertraut. Das Auto als Massenmobil, Rausch der Geschwindigkeit auch im Hochgebirge, Straßenbeleuchtung überall – das alles ist ja nicht vergangen, es war damals nur noch neu. Und der Durchbruch der Moderne präsentierte sich in vielen selbstbewussten Darstellungen: Der Schnellzug, der schnittig-aggressiv durch den Tiroler Bergschnee zischt, wirbt mit derselben Ästhetik wie ein Transrapid 80 Jahre danach. Ein Segelflugzeug verlässt im Gleitflug die Zugspitze. Eine Kamera filmt von oben ein Rudel rasanter Skifahrer im "weißen Rausch". Hübsche Skihasen führen angesagtes Pisten-Outfit vor, auch wie heute, nur ist das Outfit eleganter.

    Doch in unmittelbarer Nachbarschaft geht das bäuerliche Leben seinen Gang, und auch das findet seine Dokumentaristen: die Dorfprozession, die Trachten, die Arbeit auf dem Hof. Aber anders als heute ist dieses Ländliche nicht nur Fremdenverkehrskulisse. Es ist reale Lebenswelt; gleichzeitig wird es um 1930 immer mehr zum Kampfbegriff einer ideologischen Folklorisierung. Wolfgang Kos, Leiter des Wien Museums:

    "Die grundsätzlich verschiedenen Weltbilder, da gibt es einen Riss, aus dem 19. Jahrhundert bis heute aktuell, zwischen Bodendenken und zyklischem Denken, Erdverbundenheit, Tradition, auf der anderen Seite die Idee, Utopien zuzulassen, Fortschritt. In dieser Ausstellung "Kampf um die Stadt" meint urbane Gesinnung, Großstadtkultur gegen Anti-Urbanismus."

    Wenig unterscheidet also auf den ersten Blick das Österreich der Ersten Republik von Weimar, und doch ist die Geschichte eine andere. Das rote Wien der 20er-Jahre, das die armen Bevölkerungsschichten in ein lückenloses System fortschrittlicher Wohlfahrt und Arbeiterkultur einband, stand einsam. Gegen die mehrheitlich konservative Republik, gegen die eigene städtische Bourgeoisie - die hasste insbesondere Hugo Breitner, den "Würger von Wien", Erfinder nämlich der Wohnbau-Steuer, die direkt in die 60.000 Sozialwohnungen der berühmten Arbeiterpaläste floss. Die immer radikaler ausgetragene Unversöhnlichkeit der Gegensätze mündete 1934 in das austro-faschistische Regime von Dollfuß und Schuschnigg.

    Die Wiener Ausstellung ist ein Bad in der Geschichte. Die Bewegungen allgegenwärtiger Propaganda vollzieht sie ebenso einfühlsam mit wie das Alltagsleben. Es brauchte ein ganzes Architektenbüro, um die 1800 Objekte und Bilder in eine fast hermetisch erlebbare, aber auch erstaunlich klar lesbare Umgebung zu verwandeln. Wie sich linke Naturfreunde zu ständestaatlichen Bergfreunden ummodeln ließen, wie die Girl-Kultur und Knaus-Ogino das Frauenbild umwarfen, wie Radio, Tonfilm, Schallplatte und Kamera die Wahrnehmung beschleunigten, wie hoch die Suizidrate im Krisenjahr 1929 stieg – alles schiebt sich ineinander. Sodass das Ausstellungsthema - der große Gegensatz zwischen militanter Tradition und urbanem Fortschritt – sich in den Objekten selbst differenzierter ansieht: ein Foto etwa von drei Pinzgauer Bauersleuten, die mit Habitus und Frisur ebenso gut auf einer 1.-Mai-Demo laufen könnten; oder Marlene Dietrichs Lederhose.

    Aber wie kommt es, dass das berühmte Fin-de-siècle-Wien um 1930 alles andere als die kulturelle Speerspitze der Avantgarde war? Diese Frage hört Wolfgang Kos nicht so gern:

    "Es gibt in der kulturellen Erinnerung auch durch die Rolle des Tourismus eine hohe Selektivität. Was einmal als wichtig erinnert wird, wird zum Selbstläufer. In der Erinnerung sind's die 20er-Jahre in Berlin. In Wien umgekehrt, es ist so eingerastet, auch für Museumsleute. Es ist so wichtig, mal woanders hinzuschauen."

    Auf das Graphic Design zum Beispiel, eine Disziplin, in der Wien Weltspitze war. Slama und Binder hießen jetzt die Klimts und Schieles von einst, und auch die Künstler, allen voran Sedlacek und Schatz, sind immer noch zu entdecken. Aber auch ein moderner Architekt wie Josef Frank belegt in seinem Schaffen die Tatsache, dass die internationale Moderne in Wien durch den Trichter der Tradition musste. Oder, laut Ausstellungstext:

    "Spätestens 1934 war Wien endgültig abgehängt von der internationalen Avantgarde".

    Das hat ihm aber kein bisschen geschadet.