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Baden-Württemberg
Grüne vor der Zerreißprobe?

In zwei Tagen wird Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann aller Wahrscheinlichkeit nach zum Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl im März 2016 gekürt werden. Doch in der Partei rumort es: Die Flüchtlingskrise bringt die Grünen an die Grenzen der Gemeinsamkeiten. Die alten Flügelkämpfe drohen wieder aufzubrechen.

Von Uschi Götz | 08.10.2015
    Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) besucht am 24.07.2015 in Heidelberg (Baden-Württemberg) die Flüchtlingsnotunterkunft "Patrick-Henry-Village".
    Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) in der Heidelberger Flüchtlingsnotunterkunft "Patrick-Henry-Village". (Uwe Anspach/dpa)
    Etwa 30 Zuhörer sind in das Kulturzentrum nach Konstanz gekommen. Der grüne Landesverkehrsminister Winfried Hermann wird gleich über nachhaltige Mobilität sprechen. Zuvor ein paar einführende Worte der Landesvorsitzenden Thekla Walker. Es sei viel Neues passiert seit Grün-Rot in Baden-Württemberg regiert, führt Walker aus: Studiengebühren wurden abgeschafft, Reformen im Bildungsbereich und so weiter. Dann blickt sie in die Runde und sagt:
    "Und ein Thema, das uns jetzt alle gerade umtreibt, die Frage, wie gehen wir mit den Flüchtlingsströmen um. Da bin ich auch sehr, sehr froh, dass wir Grün regiert werden hier in Baden-Württemberg."
    Fast erstaunt fügt sie hinzu:
    "Dass ein grüner Ministerpräsident an den Verhandlungen in Berlin teilnehmen konnte..."
    Thema durch, das Publikum regt sich nicht. Minister Hermann übernimmt. Es geht um Radwege, Brückensanierung und nachhaltige Mobilität. Die Südwest-Grünen müssen im Landtagswahlkampf noch ihre Rolle finden. Flüchtlingskrise ja, aber dosiert, lautet die Devise. Ministerpräsident Winfried Kretschmann gibt dabei die Tonlage vor:
    "Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren..."
    Kretschmann macht noch längere Pausen als sonst.
    "Wir wissen, welch Glück es ist, Baden-Württemberg seine Heimat nennen zu dürfen."
    Flüchtlingsfrage wird Wahl entscheiden
    Er erläutert die Eckpunkte, die beim Flüchtlingsgipfel im September in Berlin beschlossen wurden. Bei diesem Treffen hat er endgültig die Wende zu einem neuen Umgang in der Flüchtlingsfrage eingeleitet. So werden beispielsweise in Kürze mit den Stimmen der Grünen auch Albanien, der Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsländer erklärt werden Kretschmann befindet sich in einem Dilemma: Er ist Ministerpräsident in einem Land, das neben NRW und Bayern die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Aber er hat eine Partei im Rücken, deren Unterstützung ihm gerade in der Flüchtlingsfrage als nicht ganz sicher gilt. Mehr als den konservativen Wähler im Südwesten fürchten die grünen Parteistrategen derzeit die Rückkehr der Fundis. Im Wahlkampf zur absoluten Unzeit also. So ist seine Regierungserklärung vor allem auch als Appell an die eigene Partei zu verstehen:
    "Wir haben uns früh mit konkreten Vorschlägen in die Verhandlungen eingebracht, und letztlich eine Menge durchsetzen können. Aber auch wir haben natürlich Kompromisse gemacht. Denn: Es ist so, in Zeiten der Krise ist ein Geist der Kompromissbereitschaft unerlässlich. In Zeiten der Krise muss gemeinsames Handeln vor politische Profilierung gehen. Konsensorientierung und weniger Konfliktbereitschaft ist hier angesagt."
    Die Flüchtlingsfrage wird die Landtagswahl im März 2016 in Baden-Württemberg entscheiden. Darüber sind sich nicht nur die Grünen einig. Jetzt geht es darum, die Lage in den Griff zu bekommen. Das Zweckentfremdungsverbot wird auch in Stuttgart kommen und gerade den schwäbischen Häuslebesitzer in seiner Seele treffen. Doch werden es die Wähler den Grünen anlasten? Das bleibt bis zum Wahltag die Frage. Stuttgarts grüner Oberbürgermeister Fritz Kuhn ist gerade dabei, die kommenden Veränderungen in wohldosierten Einheiten bekannt zu geben:
    "Das ist schon eine Situation, wo wir ganz große Belastungen haben, dass wir die bewältigen können. Ich will es mal so formulieren."
    Weniger diplomatisch formuliert es Kuhns' Amts- und Parteikollege Boris Palmer in Tübingen. Die Kapazitätsgrenzen seien längst erreicht, sagt er. Kommunen sollten nur die aufnehmen, die tatsächlich eine Bleibeperspektive haben:
    "Wir haben in Tübingen alle Unterkünfte belegt. Wir sind jetzt auf Notunterkünfte ausgewichen, das heißt Sporthallen, nicht beheizbare Hallen werden mit Feldbetten zu Flüchtlingsunterkünften umgebaut. Und jetzt erreicht uns bereits die Anfrage des Landes, eine Zeltstadt in Tübingen zu errichten. Wir sind also wirklich am Ende, es geht jetzt nur noch mit Notbehelfen."
    Druck auf die Städte wächst täglich
    In Freiburg spricht der grünen OB Dieter Salomon gar von einem Organisationschaos. Die grünen Rathauschefs schonen ihren Ministerpräsidenten dieser Tage nicht. Palmer sagt, wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit liegen. Er ist einer von wenigen Grünen, die sich das überhaupt zu sagen trauen. Seine Partei sieht er deshalb vor einer Zerreisprobe. Denn im Bundesrat, so die Prognose des Tübinger OBs, werden die Länder mit grüner Regierungsbeteiligung aus staatspolitischer Verantwortung für das neue Asylverfahrenbeschleunigungsgesetz stimmen - und das wird vielen grünen Parteimitgliedern nicht passen.
    "Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. Nämlich: was heißt das Inhaltlich für uns für die Zukunft? Sagen wir, wir haben das alles Widerwillen gemacht? Sind da strikt dagegen, halten das für Schikane und müssen halt mitmachen? Oder erkennen wir an, dass ein Teil dieser Maßnahmen zwar gegen unseren Willen geschieht, uns aber von der Wirklichkeit aufgezwängt wird. Und meine Wahrnehmung als OB ist eben die zweite: Ich bin nicht mehr in der Lage unser Parteiprogramm umzusetzen, dann muss das Parteiprogramm sich leider der Wirklichkeit anpassen, weil die Wirklichkeit sich nicht ans Programm anpassen will."
    Derweil wächst der Druck auf die Städte täglich. Oberbürgermeister Palmer ist sich sicher, nur wer die Probleme thematisiert, kann sie auch lösen. Auch Palmer wird auf dem Parteitag am Samstag in Pforzheim erwartet. Dort soll Winfried Kretschmann zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im kommenden März gekürt werden - an seiner Wahl besteht kein Zweifel. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass dieser Parteitag neue größere Risse bei den Grünen offenbart.