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Bahn frei für Strom

Technik. - Die Herausforderungen an das Stromnetz sind enorm, denn immer mehr Strom muss transportiert werden. Weil aber neue Leitungen teuer sind, sollen die vorhandenen Netze besser ausgenutzt werden. Ein neues System, das heute im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg in Betrieb genommen wurde, leistet hierbei gute Dienste.

Von Frank Grotelüschen |
    "Es kommt kein Rauch, kein Dampf. Sondern das ganze System soll dann starten."

    Ein Druck auf den berühmten roten Knopf – und flugs springt die Anzeige auf dem Großbildschirm von 100 auf 125. Mit einem Schlag ist die Kapazität einer 30 Kilometer langen Stromleitung um 25 Prozent gestiegen. Ein respektables Plus. Zu verdanken ist es dem neuen Überwachungssystem, das die E.ON Netz GmbH heute in Betrieb genommen hat. Freileitungsmonitoring, so heißt das System im Jargon der Experten:

    "Das sind Standard-Wetterstationen, die die Umgebungstemperatur und die Windgeschwindigkeit messen."

    sagt Professor Armin Schnettler, er leitet das Institut für Hochspannungstechnik an der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

    "Und diese Standard-Wetterstationen sind entlang einer Freileitung aufgestellt – das sind mehrere im Allgemeinen. Und dann wird ein Mittelwert für die ganze Freileitung ermittelt."

    Um auf der sicheren Seite zu sein, tun die Ingenieure bei der Auslegung der Stromleitungen bislang so, als sei es dauernd 35 Grad Celsius warm, und als wehe ständig nur ein schwacher Wind. Aber:

    "Wenn jetzt die Temperatur niedriger ist oder der Wind höher, dann kann man sich vorstellen, wird die Leitung besser gekühlt, sodass sich die Leitung weniger erwärmt und damit mehr Strom tragen kann."

    An kühlen Tagen könnte man im Prinzip also viel mehr Strom durch die Leitungen schicken, sagt Schnettler.

    "Bei zehn Grad weniger Temperatur hat man ungefähr zehn Prozent mehr Übertragungskapazität."

    Pfeift dann auch noch der Wind und kühlt die Leitungen zusätzlich ab, ließe sich die Kapazität der Leitung um ordentliche 50 Prozent erhöhen. Dazu aber muss man natürlich wissen, wie groß die Temperaturen und Windgeschwindigkeiten entlang der Leitung tatsächlich sind. Genau das leistet das neue Überwachungssystem. Es meldet der Zentrale die Werte, und dort kann der Computer dann automatisch die Leitungskapazität an das Wetter anpassen. Das klingt simpel, war aber mit einigem Aufwand verbunden, sagt Urban Keussen, der technische Geschäftsführer von E.ON Netz.

    "Wir haben sieben Umspannwerke umgebaut. Wir haben uns 200 Kilometer Leitung angucken müssen, zum Teil verstärken müssen. Der Teufel steckt da im Detail. Deswegen brauchte es Zeit und auch etwas Geld, um diesen Versuch jetzt zu realisieren."

    Ein Jahr Vorbereitung und vier Millionen Euro kostete es, eine Leitung zwischen Flensburg und dem Örtchen Breklum auszustatten. Hier auf dieser Teststrecke soll sich das Überwachungssystem besonders lohnen. Denn hier in Nordfriesland gibt es viele Windräder. Wenn hier eine steife Brise weht, sind die Netze überlastet – mit der Folge, dass ein Teil der Windmühlen heruntergefahren werden muss. Das neue System nutzt aus, dass starker Wind die Leitungen kühlt und dadurch ihre Kapazitäten erhöht. Das bedeutet: Künftig müssen bei gutem Wind deutlich weniger Rotoren abschalten. Die Windenergie wird profitabler, hofft Urban Keussen.

    "Grundsätzlich ist das Freileitungsmonitoring geeignet, um in vielen Regionen angewandt zu werden. Dort, wo wir mit Nachbar-Netzbetreibern im In- und Ausland zusammenarbeiten, braucht es natürlich eine enge Abstimmung. Aber wenn man visionär nach vorne denkt, wird Breklum-Flensburg nicht die einzige Anwendung bleiben. Sondern wir haben Interesse, dass weiter voranzutreiben."