Zumindest kommt er im Laufe des Romans darauf, nämlich die Beziehungen zu seiner Tochter und zu Therese, seiner Lebensgefährtin. Der Erzähler lässt den Leser am gedanklichen Prozess von Stephan Seiters teilhaben:
Das Leben besteht nun mal nicht aus lauter bequemen Zufälligkeiten. Ja, genau, das ist es, das bringt es klar auf den Punkt. Das Leben, das du im Moment führst, ist doch im Grunde genommen, nichts anderes als eine bequeme Zufälligkeit. Es muss jetzt klar gedacht werden. Morgen muss das ganz klar gedacht werden.
An die Erzählung von Vater und Tochter sind zahlreiche andere Geschichten geknüpft. Teils sind es Geschichten von Menschen, mit denen sie leben. Teilweise geht es aber auch um fremde Personen, die zufälligerweise mit im Zug sitzen. Zum Beispiel eine unglückliche Lehrerin, die ihren Therapeuten aufsuchen will, oder eine alte Frau, die ihre Zwillingsschwester besuchen fährt. Stephan Seithers lernt sie gar nicht persönlich kennen, doch durch den Erzähler erfährt der Leser, woher diese Menschen kommen und welche Charaktereigenschaften und Gewohnheiten sie besitzen. Der Erzähler springt dabei zwischen den Geschichten hin und her, deren Anlass, Ort und Zeit sehr heterogen sind. Die Passagen sind subtil und kunstvoll miteinander verbunden: Das kann zum Beispiel eine ihnen gemeinsame Idee sein oder auch eine in beiden Szenen identische Bewegung.
Der Erzähler schildert die Geschichten eher unbeteiligt, nüchtern. Nicht selten hat man den Eindruck, er beschreibe eine Versuchsanordnung im Labor. Diese schnörkellos-klare und doch intensive Sprache hat eine ganz besondere Wirkung: Sie durchdringt jeglichen Schein, so dass die ganz durchschnittlichen Personen in ihren Gedanken und Gefühlen dem Leser schutzlos preisgegeben werden. Dennoch hält Matthias Wittekindt Distanz, wenn er von seiner Hauptfigur nur als von "Herrn Seithers" spricht:
Ich versuche immer, maximale Distanz zu machen. Das ist aber nur eine Technik, um eigentlich ganz nah ranzukommen. Wenn ich über Herrn Seithers spreche, kann ich über sehr emotionale Sachen sprechen. Dadurch, dass ich die Figuren immer versuche, so architektonisch und klar zu halten, kann ich dann ganz nah rangehen.
Die Art, wie der Autor die Reaktionen und Gedanken seiner Figuren beschreibt, wirkt wahrhaftig und bleibt jeglicher Sentimentalität fern. Dass Matthias Wittekindt bislang Theaterstücke und Hörspiele geschrieben und inszeniert hat, merkt man auch seinem ersten Roman an. Es ist nicht nur die Liste der Figuren am Anfang des Buches, die an ein Drama erinnert, es ist vor allem die Fülle an körperlichen Regungen, die Wittekindt beschreibt. Das Buch lebt von Bewegungen. Menschen taumeln, fallen, drehen sich. Sie tanzen, pendeln, schweben. Und vor allem: Sie springen. Zum Beispiel die Rentnerin Elsa Steinert, als sie noch jung war:
Sollte man in die Versuchung kommen, zum besseren Verständnis […] ein Bild der jungen Frau zu entwerfen, dann wäre von Sprüngen die Rede. Gerade Vorwärtssprünge, Drehsprünge und Drehungen ohne Sprung. Und das alles, ohne dass Elsa Steinert je Tänzerin gewesen wäre. Die erlaubten Sprünge waren so etwas wie der Ausdruck ihres übermütigen, triebhaften Wesens.
Das sind diese kurzen Momente, wo die Figuren mal ganz intensiv, ganz nah an sich selber und an ihrem Glück dran sind, dass sie mal ganz kurz aus sich heraustreten und etwas machen. Und ich glaube, dass sich all diese Figuren auch an diese Momente stark erinnern, weil sie aus sich selber ein bisschen herausgetreten sind in dem Moment. Eine Figur gibt es, die sich überhaupt nicht bewegt. Das ist dieser Lokführer, der ist sozusagen völlig erstarrt.
Deshalb ist der Lokführer im ICE von Berlin nach Köln auch einer der wenigen, der glaubt, die Zeit verginge immer gleichförmig. Stephan Seiters, seine Tochter Stephanie und auch andere Figuren im Roman empfinden Raum und Zeit als nicht kontinuierlich, sondern als sprunghaft. Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit können zum Beispiel durch Erinnerungen in sonderbare Verbindungen treten, die jegliche Kontinuität aufheben. Jede der Figuren macht im Laufe des Romans ganz eigene Erfahrungen mit Raum und Zeit und teilweise auch mit dem Tod, der beide Ausdehnungen aufhebt. Die Wellen, die Vater und Tochter verspüren, gehören zu diesen diskontinuierlichen Erfahrungen von Zeit und Raum. Und dazu gehört auch der Sog, der beide nach Paris zieht.
Matthias Wittekindt
Sog
Eichborn Berlin, 190 S., EUR 18,90