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Bald

In Fehrungen, einem Provinzkaff irgendwo in Thüringen, ist nicht viel los. Um den Marktplatz herum stehen ein paar Fachwerkhäuser, es gibt den Frisiersalon der Familie Schein, Martls Gemüsehandlung, einen Eisenwarenladen und eine Kneipe. Am Rande des Ortes liegt ein Schwimmbad und mitten im Dorf die Kirche, wo der Kirchenälteste Ludwig Schein Sonntag für Sonntag die Epistel liest. Jeder kennt jeden, und jeder weiß, daß Roman Bald, der Held des neuen Romans von Stephan Krawczyk, zum Arbeiten nicht taugt. Das Geld verdient seine Frau Hanna, die Tochter des Kirchenältesten. Roman verbringt seine Zeit am liebsten im Bett und verschläft sogar die Geburt seines Sohnes Béla. Eine Leidenschaft aber hat Roman Bald: die Sprache. Stephan Krawczyk über die Hauptfigur von "Bald": "Dadurch, daß er mit den Worten sehr genau umgeht, versucht er dann auch einen tieferen Sinn dahinter zu finden, eigentlich keinen tieferen Sinn, sondern mehr als den Sinn, das sind ja alles so abgegriffene Dinge oftmals, und nun ist er in der Weise prädestiniert, durch die Beschäftigung mit einem Gegenstand, der eben fernab von den weltlichen Gepflogenheiten liegt, ist er prädestiniert, selbst zu einem vorsichtigeren, schauenderen, nicht so schnell urteilenden Menschen zu werden, weil daß das Wort einfach verlangt."

Maike Albath |
    Der Umgang mit Sprache entfaltet subversive Kräfte, und diese Grundidee Krawczyks wird auch zur Triebfeder der Handlung. Denn Roman Bald nimmt teil an einem Spiel: eine Gesellschaft von Sprachbastlern schickt sich gegenseitig Wortlisten zu. Die Gruppe veranstaltet regelmäßig ein Wettraten, bei dem die vorgegebenen Wörter zu Sätzen zusammengesetzt werden. Der ursprüngliche Zusammenhang der Wörter ist in einem Ur-Text verbürgt, den die Spieler etwas mystisch den "Großen Kanon" nennen. Das Spiel gewinnt, wer Sinn in die Wortreihen bringt. Eine zweckfreie Beschäftigung dieser Art zieht natürlich den Verdacht der Staatssicherheit auf sich, und Stephan Krawczyk erzählt in seinem Roman davon, wie die Kontrolle der Machthaber ganz allmählich das Leben seines Helden verändert. Eines Tages stehen zwei Herren in Ledermänteln vor Roman Balds Haustür. Eine Erklärung soll er unterschreiben, wogegen er sich weigert. Sein Freund Hans, auch ein Mitglied der Gesellschaft, willigt ein. Plötzlich muß Roman häufiger seine Papiere vorzeigen, der Chef seines Vaters erkundigt sich nach ihm, in der Kneipe meidet man den alten Stammgast.

    "Da spielen natürlich auch eigene Erfahrungen eine Rolle", so Krawczyk. "Ich weiß auch - und das ist ja gerade auch ein deutsches Thema -, daß sich Menschen verraten, und das kommt immer dann raus, wenn eine politische Situation sich wandelt, wenn die Machtverhältnisse neu verteilt werden. Da bekämpfen sie sich dann und beißen sich in die Waden, das geht bis zur körperlichen Gewalt. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, wenn ich so sagen darf, und in diesem Sinne wollte ich es auch zuspitzen. Natürlich hat's auch dramaturgische Gründe. Aber diese Isolation des einzelnen, die habe ich auch am eigenen Leibe erfahren."

    Wegen seiner oppositionellen Lieder erhielt Stephan Krawczyk 1985 Berufsverbot und wurde drei Jahre später aus der DDR ausgewiesen. Seinem Romanhelden erspart er diese Erfahrung. Der Konflikt mit der Außenwelt bedeutet für den verschlafenen Phantasten einen entscheidenden Entwicklungsschritt. Hinter seinem träumerischen Wesen kommt Beharrlichkeit zum Vorschein: Roman Bald läßt sich den Mund nicht verbieten, bastelt weiter an seinen Wortgebilden und fährt allen Warnungen zum Trotz zur nächsten Spielrunde. Hier ist er unerwünscht, denn die Stasi hat das Spiel zu einer offiziellen Veranstaltung in ihrem Sinne umgemünzt, Bald wird öffentlich geächtet, gedemütigt, und als er dann immer noch nicht verschwindet, auch noch zusammengeschlagen. Doch er zerbricht nicht an den Widerständen, sondern gewinnt an Reife und innerer Freiheit. Damit liefert Krawczyk die ostdeutsche Variante eines traditionellen literarischen Genres: des Entwicklungsromans. "Wie ein Mensch dazu lernt. Wie man in bestimmte Situationen hinein geworfen wird, die durch die Biographien bedingt sind, aber meist doch so zufällig, daß man im Nachhinein gar nicht den richtigen Grund für eine Entscheidung finden kann, außer vielleicht eine Sehnsucht, die in einem grummelt, und dann kommt einem das nächste Passende ins Leben, und sofort ist es ein ganz anderes Leben. Ich dachte, es wäre ein vergebenes Leben, wenn man aus den Dingen, die einem widerfahren, nicht lernt."

    Zeitgeistsorgen, die für die westdeutschen 80er Jahre typisch waren, plagen Krawczyks Helden nicht - von Karrieredruck, Sinnentleerung und ähnlichen modischen Befindlichkeiten ist da nichts zu spüren. Die Nöte seiner Figuren sind viel existentieller: Sie besitzen kaum Freiräume, nicht einmal ein Spiel ist erlaubt, Anpassung wird brutal erzwungen. Zwar wirken die Repräsentanten des Systems und ihre Lakaien mitunter etwas lächerlich - der Dorfpolizist heißt "Fischi", die Juroren des Spiels stecken in uniformartigen Gewändern aus rosa Hemden und roten Schlipsen -, aber sie sitzen am längeren Hebel und führen die Anordnungen von oben umstandslos aus. Wie in seiner Autobiographie "Das irdische Kind" porträtiert Stephan Krawczyk in seinem Roman das Alltagsleben der DDR. Auf jeder Seite wehen einem Mief und Spießertum entgegen: wenn Romans Schwiegervater zur Kindstaufe eine Tischrede schwingt, man zur Feier des Tages im Kulturhaus ißt, sich die Ehepartner gegenseitig mit "Vater" und "Mutter" anreden und die Eigenheime pausenlos geputzt werden. Sich über seine Thüringer Dorfbewohner zu erheben und sie gehässig zu karikieren, liegt Krawczyk fern; die Elterngeneration ist in ihrer Kleinkariertheit sehr liebevoll geschildert. Am Ende entpuppt sich gar die tütterige Mutter als mutige Frau und verteidigt ihren Sohn vor der Obrigkeit. Krawczyk über Mief und Muff in Ostdeutschland: "Wir tun ja immer so, als wenn wir in die Glotze gucken, da können wir wirklich bis Amerika gucken, ist aber nicht. Wir gehen dann wieder ins Badezimmer und pflegen unseren vergänglichen Leib. In diesem Sinne wollte ich da mal nichts aufblähen. Ich gebe eben zu bedenken, ob einen das wirklich reifer macht, dieses ständige Über den Tellerrand Gucken, obwohl man sich gar nicht vom Grund rührt. Ob das einen Menschen satter macht, ob ihn das glücklicher macht, was auch immer. Deshalb diese Miefigkeit an manchen Stellen, die muß behauptet werden."

    Manchmal ist Stephan Krawczyk ein bißchen zu gründlich, denn wer will schon so genau über Flatulenz des Kirchenältesten Ludwig oder Romans Badezimmerrituale unterrichtet werden? Verzeiht man ihm diese anale Fixierung und läßt sich auf die erzählte Welt ein, entsteht ein atmosphärisch dichtes, mitunter beklemmendes Bild der DDR-Wirklichkeit. Wie Roman Bald ringt Krawczyk um die Tiefe der Sprache und sucht nach einem unverkennbaren Ton, einer Original-Wortmusik sozusagen. Er schreibt schöne, sehr knappe Dialoge, in denen die Figuren sofort lebendig wirken, und die farbige, bilderreiche Sprache steht in einem reizvollen Kontrast zur Tristesse des vermieften Ambientes. Nur seine Vorliebe für altertümelnde Wendungen führt ihn aufs Glatteis. Wenn es heißt, "es hub an in ihr zu wühlen" und davon die Rede ist, daß Roman eine Frau "zu erkennen" versucht, wenn "Gewölk herauf drängt, vermählt mit schwarzen Schwaden", oder wenn an anderer Stelle Sätze wie "Der Himmel zog die Schleusen für ihn auf - er brannte unter dem Erguß" fallen, ist es zu dem neobarocken Sprachkitsch eines Robert Schneider nicht weit. Da raunt und raunzt es dann allzu bedeutungsschwer. Zum Glück zieht Krawczyk das archaische Register nur ab und zu; seiner privaten Sprachphilosophie allerdings entgeht der Leser nicht. Am Schluß des Romans trifft Bald nämlich einen Gleichgesinnten, der so wie er mit der Sprache hadert und darin einen erzieherischen Wert erkennt.

    "Man müßte dann aus jeder Einsicht auch eine Konsequenz im Handeln gewinnen", so Krawczyk. "Das ist eben in unserer sehr starren, sehr starr strukturierten, sehr dicht strukturierten Gesellschaft nicht möglich. Das ist ein Nachteil. Das war zwar in jeder Gesellschaft schon so, aber noch nie so eng. Das ist eine Aufgabe, die auch der Kunst zusteht, dann auch wieder bestimmte Räume zu eröffnen, also einer bestimmten Erkenntnis eine bestimmte Tat folgen zu lassen, wenigstens mal wieder daran zu erinnern."

    Wie die Kunst zu einer Erkenntniskraft wird, führt Krawczyk in der Geschichte von Roman Bald vor. Sein Held ist ein moderner Don Quichote, der am Ende doch gewinnt, weil keine Staatsmacht der Welt die Phantasie beherrschen kann.