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Ballhaus Naunynstraße
Ich rufe meine Brüder: Michael Ronen inszeniert nach Jonas Hassen Khemiri

Endlich einmal ist hier kein das Bühnengeschehen verdoppelnder Naturalismus zu sehen, sondern ein visueller Kontrapunkt, der das Stereotypische, die Projektion, das tendenziell Unwirkliche in Amors Berichten illustriert. Khemiri zeigt mit Amors Ruf an die Brüder die gesellschaftlichen Folgen der namenlosen Angst.

Von Eberhard Spreng | 29.11.2013
    Da ist neulich so ein krasses Ding passiert. Ein Mann, ein Auto und zwei Explosionen. Mitten in unserer Stadt. Ich rufe meine Brüder und ich sage: Nein, niemand wurde gefasst.
    Jerry Hoffmann steht am vorderen Rand des Spielraums und spricht das Publikum direkt an. Als seine Brüder und Schwestern sollen die Zuschauer unmittelbar in eine Erzählung einsteigen, die an ein Ereignis anknüpft, das die Stockholmer Innenstadt im Dezember 2010 erschütterte. Amor heißt der Protagonist, den dieses Ereignis immer tiefer in eine Selbsterkundung treiben wird, weil sein äußeres ihn als jungen Mann mit Migrationshintergrund kenntlich macht. Das macht ihn verdächtig und stiftet Verwirrungen in seinem gesellschaftlichen Grundverständnis ergeben.
    Sein Freund Shavi ruft ihn dauernd auf dem Handy an, aber Shavi nervt ihn, seit er Vater geworden ist. Und Valeria muss sich gegen seine Aufdringlichkeit wehren. Seit dem Sandkasten, seit der Schule ist Amor unsterblich und hoffnungslos in sie verliebt. Vieles in dem von locker eingestreuten Szenen unterbrochenen Monolog sind Zeugnisse einer Coming-of-Age-Geschichte. Die Geschichte eines jungen Erwachsenen mit völlig normalen Interessen und Ideen. Im Chemieunterricht hat er seinen Mitschülerinnen und Mitschülern Elemente des Periodensystems zugeordnet: Helium etwa für Freund Shavi, weil dieser alles immer ziemlich leicht nahm. Er selbst sieht sich als das synthetische Ununtrium.
    Es sind verschiedene Erzählebenen, die in Jonas Hassen Khemiris Stück teilweise labyrinthisch ineinander verwoben sind. Alltagserfahrungen im Kaufhaus, der unaufgeräumten Wohnung, dem Club stehen neben den Treffen mit Freunden. Immer wieder unterbricht der Autor diesen Erzählfluss durch jeweils veränderte Anreden ans Publikum. Er nennt sie Interludien. Mal werden die so angesprochenen Brüder aufgefordert, alle Verbindungen zur Außenwelt und ihren Medien zu kappen und zu warten, bis sich alles beruhigt.
    Mal sagt er: "Die Stunde ist gekommen" und fordert sie auf, sich zu bewaffnen und sich zugleich in konformer Unauffälligkeit in die Öffentlichkeit zu mischen. Dann wieder sollen sie, im Gegenteil, bunt und auffällig werden, in Megaphone brüllen und Kaufhäuser besetzen, bis die Gesellschaft begreift, dass sie sich mit der Andersartigkeit in ihrer Mitte abfinden muss. Khemiri schickt seinen Protagonisten in eine Erprobung gesellschaftlicher Rollenmuster, aber seine Identitätskrise wird damit nicht überwunden. Eine Szene erzählt von der Beschattung durch einen Zivilpolizisten. Später berichtet ein langer Monolog davon, wie er Zeuge einer Verhaftung eines Verdächtigen wurde. Im letzten Interludium nimmt er die Schuld auf sich. Ganz am Ende löst der Autor das Labyrinth der identitären Zuschreibungen in einer Spiegelmetapher auf.
    Ich war auf dem Heimweg, als ich dieses verdächtige Individuum erblickte. Es hatte schwarze Haare und einen ungewöhnlich großen Rucksack umgeschnallt. Das Gesicht war mit einen Pali-Tuch verhüllt. Ich rufe meine Brüder und ich sage: Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde bis ich begriff, dass dies mein Spiegelbild war.
    Wunderschöne Videoprojektionen begleiten Amors Erzählungen. Zeichnungen von Olivier Durand sind hier von einer dreiköpfigen Equipe videoanimiert worden. Grafische, an die Comicästhetik erinnernde Welten, die auf drei um die Bühne gruppierten Leinwänden mal Stadt mit Hochhäusern, mal Kaufhaus, mal das Innere eines Autos in nächtlichem Regen zeigen. Endlich einmal ist hier kein das Bühnengeschehen verdoppelnder Naturalismus zu sehen, sondern ein visueller Kontrapunkt, der das Stereotypische, die Projektion, das tendenziell Unwirkliche in Amors Berichten illustriert. In einer Welt, die den Verdacht zum alltäglichen Begleiter beim Blick auf den Anderen gemacht hat, ist die Angst vor dem islamischen Terroristen zur mächtigen gesellschaftlichen Chimäre geworden. Khemiri zeigt mit Amors Ruf an die Brüder die gesellschaftlichen Folgen der namenlosen Angst.