Dienstag, 19. März 2024

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Bamberger Studiengang „Religionen verstehen“
Gegen die religiöse Legasthenie

Ein neuer Bamberger Studiengang will zur "religiösen Alphabetisierung" beitragen. Denn in einer Gesellschaft mit verschiedenen Traditionen sei es wichtig, auch andere Religionen zu verstehen, um Konflikten vorzubeugen und miteinander ins Gespräch kommen zu können.

Susanne Talabardon und Jürgen Bründl im Gespräch mit Christian Röther | 28.10.2020
Aufgeschlagene Bibel und Thora liegen übereinander
Bibel und Thora (picture alliance / Robert Harding)
Was ist "Religious Literacy"?
Das Konzept "Religious Literacy" kommt aus den USA und wird dort schon seit einiger Zeit diskutiert. Meist wird es mit "religiöse Alphabetisierung" übersetzt. Der neue Bamberger Masterstudiengang führt den englischen Begriff im Titel und nennt sich "Religionen verstehen / Religious Literacy".
Es gehe um "eine Fähigkeit, Religion lesen zu können", sagt Susanne Talabardon, Professorin für Judaistik an der Universität Bamberg. Diese "Religious Literacy" sei ein lebenslanger Prozess, weil man im Laufe des Lebens immer wieder mit neuen Dingen konfrontiert sei.
Jürgen Bründl, Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Universität Bamberg, beschreibt "Religious Literacy" als "grundlegende Kompetenzbildung in Sachen Religion". Diese sei heute erforderlich, weil Menschen mit vielen verschiedenen Religionen in Berührung kommen würden.
Was ist "religiöse Legasthenie"?
"Religiöse Legasthenie" – im Englischen "Religious Illiteracy" – beschreibt das Phänomen, dass Menschen kaum oder wenig Wissen über Religionen aufweisen – über andere Religionen genauso wenig wie über die eigene Religion, falls sie sich einer Religion zugehörig fühlen. Zugleich sei der Begriff der Legasthenie aber auch irreführend, so Susanne Talabardon, weil es heute nicht nur darum gehe, sich mit der eigenen Religion auszukennen, also religiös alphabetisiert zu sein. Vielmehr sei "religiöse Vielsprachigkeit" gefragt, also Wissen über den Pluralismus der religiösen Gegenwart.
Wie entsteht "religiöse Legasthenie"?
Heute sei es nicht mehr selbstverständlich, dass man in einer religiösen Tradition aufwachse, sagt Jürgen Bründl: "Wir leben in einer Zeit der markanten Traditionsbrüche." Hinzukomme, dass Menschen heute im Unterschied zu früher durch Migration und Globalisierung mit vielen verschiedenen Religionen in Kontakt kämen. Über die meisten dieser Religionen hätten viele Menschen aber kaum Kenntnisse und wüssten daher auch nicht, wie sie sich im Umgang mit Angehörigen anderer Religionen verhalten sollten.
Zugleich könne aber auch eine religiöse Sozialisierung zur "religiösen Legasthenie" beitragen, sagt Susanne Talabardon: "Manchmal führt ja auch das selbstverständliche Heranwachsen in bestimmten christlichen Milieus zu einer Betriebsblindheit gegenüber anderen religiösen Traditionen." Menschen, die nicht in religiösen Traditionen aufgewachsen sind, seien teilweise aufmerksamer dafür, fremde Traditionen wahrzunehmen, als Menschen, die innerhalb religiöser Traditionen aufwachsen.
Warum kann "religiöse Legasthenie" zum Problem werden?
Es gehe dem Bamberger Studiengang nicht darum, "Religionen wieder stärker ins Spiel zu bringen", betont Jürgen Bründl. Aber Religionen würden auch die säkulare Gesellschaft nach wie vor in Teilen prägen. Daher brauche es Grundkenntnisse über Religion, "um miteinander in einer friedlich-koexistenten Weise umzugehen, ohne dass man sich die Köpfe einschlägt. Denn dass die im Alltag erfahrene Pluralität von Religion Probleme schaffen kann, das ist ein Fakt."
Religion binde Menschen stärker als viele andere gesellschaftliche Phänomene, sagt Susanne Talabardon. Daher sei die Beschäftigung mit Religion wichtig, um "den anderen in seinem Anderssein" akzeptieren zu können.