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Barbara Ehrenreich: Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft - ein Erfahrungsbericht

Anders als die Frauen, die gezwungen sind, ganz unten zu leben und zu arbeiten, hat Barbara Ehrenreich im Auftrag des Magazins Harper's ihre Erfahrungen mit dem Jobwunder anschließend aufschreiben und verkaufen können. Daraus ist ein Buch entstanden, das nun auch auf Deutsch vorliegt. Arbeit poor heißt es, wobei poor mit zwei o geschrieben für ‚arm' steht.

Barbara Eisenmann | 27.08.2001
    Anders als die Frauen, die gezwungen sind, ganz unten zu leben und zu arbeiten, hat Barbara Ehrenreich im Auftrag des Magazins Harper's ihre Erfahrungen mit dem Jobwunder anschließend aufschreiben und verkaufen können. Daraus ist ein Buch entstanden, das nun auch auf Deutsch vorliegt. Arbeit poor heißt es, wobei poor mit zwei o geschrieben für ‚arm' steht.

    Erst kürzlich hat Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Abneigung gegen die Verhältnisse auf dem US-amerikanischen Arbeitsmarkt kund getan, und zwar, wie er es formulierte, aus "der Erkenntnis, dass das nicht gut ist". Barbara Ehrenreich, renommierte amerikanische Essayistin, zeichnet nun ein plastisches Bild dieser Verhältnisse. Sie hat es immerhin aus unmittelbarer Anschauung gewonnen und gelangt dabei zur selben Erkenntnis. Mehrere Monate lang ist sie in die Welt des Jobwunders abgetaucht, auf das die Administration des früheren Präsidenten Clinton so mächtig stolz war.

    Barbara Ehrenreich hat den Niedriglohnsektor leibhaftig kennen gelernt: als Bedienung in einem Schnellrestaurant und als Zimmermädchen in einem Hotel in Key West, als sogenannte Diätassistentin, also Serviererin in einem Altersheim, und als Putzkraft in einer Putzkolonne in Portland und zuletzt als Verkaufsassistentin, eine Art Aufräumkraft, in einem Wal-Mart-Kaufhaus in Minneapolis. Ihre Untersuchung gleicht einer anthropologischen Feld-Forschung:

    Ich wollte schlicht herausfinden, ob ich es schaffen würde, mein Einkommen und meine Ausgaben zur Deckung zu bringen, so wie es die wirklich Armen tagtäglich versuchen.

    Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Die Autorin hat es nicht geschafft, mit einem durchschnittlichen Stundenlohn zwischen sechs und sieben Dollar fünfzig und selbst mit einem Zweitjob genug zu verdienen, um davon auch nur das Allernötigste zu bestreiten. Der Argumentation, die während der Amtszeit von Clinton gern zugunsten der Reform des Wohlfahrtssystems ins Feld geführt wurde, dass nämlich Arbeit eine Garantie gegen Armut sei, widersprechen Ehrenreichs Erfahrungen unmissverständlich.

    Wenn eine kerngesunde Person wie ich, die zudem ein intaktes Auto besitzt, sich mit ihrer Hände Arbeit kaum einen ausreichenden Lebensunterhalt verdienen kann, dann ist da irgendwas falsch, und zwar grundlegend falsch.

    Der Autorin geht es nicht um eine theoretische Durchdringung des Problems, sondern um eine dichte Beschreibung dessen, was sie selbst erlebt hat. Und sie tut das nicht ohne eine gute Portion angelsächsischen Humors, wobei einem das Lachen schnell im Halse stecken bleibt. Das allerdings ist Ehrenreichs Methode, und die ist klug: Ohne zu moralisieren, gelingt es ihr, den Leser für haarsträubende Zustände zu sensibilisieren und letztlich an seinen moralischen Sinn zu appellieren. Aufklärung, nicht Empörung ist ihre Devise.

    Nachdem alle anderen Angestellten in den knallig grün-gelb lackierten Firmenautos zur Arbeit abgedüst sind, führt man mich endlich in einen winzigen, verschlagähnlichen Raum hinter den Büros, wo ich mein Handwerk anhand von Videofilmen erlernen soll. Das irritierendste Video ist das über "Staubsaugen". Es beginnt mit einer Anleitung für den speziellen Huckepack-Staubsauger, den wir benutzen sollen. "Ja, wirklich - der Staubsauger wird auf Ihren Rücken geschnallt", erklärt ein dicklicher Typ, der sich als sein Erfinder vorstellt. Er zurrt sich die Strippen quer über und unter der Brust fest und spricht, als er das Ding übergezogen hat, ganz stolz in die Kamera: "Sehen Sie, jetzt bin ich der Staubsauger". Das Huckepackgerät wiegt angeblich nur zehn Pfund, aber, wie ich bald feststellen werde, kommen zusammen mit den Zusatzteilen, die an einer Strippe um deine Hüfte baumeln, wohl eher an die 14 Pfund zusammen. Wird meine kritische und chronisch pflegebedürftige untere Rückenpartie das aushalten?

    Ehrenreichs Erzählungen kreisen immer wieder um zwei elementare Alltagsprobleme: Job- und Wohnungssuche. Die Arbeitssuche beginnt stets mit einer Bewerbungsprozedur aus demütigenden Drogentests und schwachsinnigen Persönlichkeitsprüfungen mit Fragen wie "Würden Sie eine klauende Kollegin anzeigen?" oder "Neigen Sie zu Selbstmitleid?" Am Anfang denkt die Autorin noch, man würde ihr die andere Biographie vielleicht doch anmerken, aber in diesen niederen Regionen der Arbeitswelt spielt die Identität des einzelnen keine Rolle mehr. Selbst der Name ist bedeutungslos: Als Serviererin in Key West ist Ehrenreich nur mehr "Baby", "Blondie" oder "Girl".

    Überall in den Unternehmen ist ihr die Figur des sogenannten Managers begegnet, eine Art nichtstuender Kontrolleur, dessen einzige Aufgabe offenbar darin besteht, die Erniedrigungsmaschine permanent am Laufen zu halten, also das Einhalten der zuweilen auch gesetzeswidrigen Verbote zu überwachen. So kann es verboten sein, während der Arbeit einen Schluck Wasser zu trinken, auch der Gang auf die Toilette außerhalb der Pausen ist oft nicht erlaubt, manchmal dürfen sich die Mitarbeiter nicht einmal über ihre Löhne austauschen. Weitaus subtiler sind die Mechanismen großer Unternehmen wie beispielsweise der Supermarktkette Wal-Mart, wo Niedriglohnarbeiter schönfärberisch als "Partner" bezeichnet werden. In regelmäßig stattfindenden, gehirnwäscheartigen Sitzungen werden sie in die Firmenideologie von einer guten Gemeinschaft hineingezwängt. Jeder Funken Widerstand wird hier im Keim erstickt. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Repressionsmaßnahmen die Unternehmen eine Menge Geld kosten und diese Ausgaben wiederum den Druck auf die Löhne erhöhen. 1990 hat beispielsweise die Regierung in Washington für den Drogentest von 29.000 Angestellten 11,7 Millionen Dollar ausgegeben. Da nur 153 der getesteten Personen positiv waren, kostete also die Entdeckung eines einzigen Drogenkonsumenten 77.000 Dollar. Diese Information ist einer der Fußnoten zu entnehmen, die auch sonst allerhand aufschlussreiches Daten- und Zahlenmaterial enthalten.

    Ehrenreich fragt sich immer wieder, warum die Billiglohnarbeiter sich nicht wehren und sich für ihre Interessen einsetzen. Eine umfassende Antwort kann sie nicht geben, doch haben ihre eigenen Erlebnisse ihr ein unmittelbares Verständnis für die kollektive Psyche dieser ungelernten Arbeiterschaft eröffnet, die mit all den institutionalisierten Demütigungsprozeduren stetig weiter verformt wird. Am Ende ist das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit in jedem einzelnen tief verankert. Die Repressionskosten zahlen sich für die Unternehmerseite also aus. Denn Lohnkämpfe bleiben aus, und die Armen arbeiten weiter, ohne zu murren und natürlich ohne jedes Klassenbewusstsein. Aus der öffentlichen Wahrnehmung hat man sie ausgeschlossen; die Armut dieser neuen Parias ist weitgehend unsichtbar. Sie wohnen in Motels, Wohnwagensiedlungen oder Obdachlosenheimen, weil sie sich die Kaution für eine Wohnung nicht leisten können. Sie haben zumeist keine Küchen und sind auf den billigen Fertigfraß der Imbissketten angewiesen. Sie leiden häufig an chronischen Erkrankungen, die unbehandelt bleiben, weil eine Krankenversicherung ebenso wie ein Arbeitsausfall in dieser Welt ein unvorstellbarer Luxus sind.

    Bei Ehrenreich sind die so genannten working poor nicht mehr nur eine Abstraktion, sondern Menschen mit Namen und Geschichten. Die Autorin beschreibt eine ziemlich brutale Gesellschaft, in der Klasse und Rasse relevante Kategorien des Aus- und Einschlusses sind. Als weißer Amerikanerin waren ihr in Städten wie Los Angeles oder New York die Selbstversuche gar nicht erst möglich, denn dort ist das neue Proletariat, die Kehrseite des viel gelobten Wirtschaftsbooms der Clintonzeit, fast durchweg dunkelhäutig. Und so liegt das Augenmerk ihrer Studie auf den abgrundtiefen Differenzen einer Klassengesellschaft, die da entstehen, wo kein Staat eingreift und das Spiel der Kräfte reguliert. Auch der Wohnungsmarkt ist ein beredtes Beispiel. Eine nennenswerte öffentliche Subventionspolitik gibt es schon länger nicht mehr, und die Armen haben im Kampf um Wohnungen auf dem freien Markt keine Chance. Unter der Regierung von George W. Bush wird es kaum besser werden. Die Sozialausgaben werden unter seiner Administration, deren Hätschelkind der Verteidigungshaushalt ist, nur noch weiter schrumpfen.

    Ehrenreich nimmt in ihrer Bilanz kein Blatt vor den Mund und ruft sogar einen "nationalen Notstand" aus. Wenn 67 Prozent derjenigen, die in den Vereinigten Staaten Nahrungsmittelhilfe in Anspruch nehmen, einen Job haben, dann ist Armut nicht mehr die Folge von Arbeitslosigkeit. Und am Ende wünscht sie sich das Aufbegehren der neuen Lohnsklaven herbei, in denen doch eigentlich ein revolutionäres Potential schlummern müsste.

    Aber diese Menschen müssen es irgendwann - und über den genauen Zeitpunkt werde ich keine Voraussage riskieren - einfach satt haben, dass ihre Arbeit so wenig einbringt. Und dann werden sie einen Lohn verlangen, der ihren Leistungen gerecht wird. Wenn es soweit ist, werden wir ihre Wut zu spüren bekommen, werden wir Streiks und eine soziale Zerreißprobe erleben. Aber der Himmel wird nicht einstürzen. Und am Ende wird diese Wut gut für uns alle sein.

    Doch bei ihrem Ausflug in die Welt des neuen Subproletariats hat sie nur allzu genau erfahren, wie weit Wunsch und Wirklichkeit hier auseinander liegen.