In der Flut der Publikationen zur DDR-Bewältigung musste es früher oder später natürlich auch zu diesem Thema eine Veröffentlichung geben. Nachdem Zonen- und Schokoladenkinder die Buchbestsellerlisten besetzten und die " Schleife an Stalins Bart" Aufklärung über gelebtes Jugendleben in der DDR gab, nun also einmal etwas über die Organisation, die seit 1952 den verpflichtenden Namen Ernst Thälmanns trug.
Das Wissen über die »Jungen Pioniere« ist wenig heute differenziert, die Erinnerungen sind von Klischees überlagert. Bürger, die in der DDR aufgewachsen sind, bedauern häufig, dass es eine solche Institution, die sich um den Freizeitbereich der Kinder und Jugendlichen kümmert, heute nicht mehr gibt. Altbundesbürgern fällt oft nur der Vergleich zum Jungvolk der Hitlerjugend ein. Dem Buch ist ein Text von Klaus Dieter Felsmann vorangestellt, in dem der Gatte der Herausgeberin dem Leser seine Sichtweise für die folgenden Seiten mitgeben will. Darin konstatiert er die nach wie vor ungebrochenen Zusammenhörigkeitsgefühle der ehemaligen DDR-Bürger, wendet sich aber vehement gegen die Vermarktung dieser durch die Medien und kommt schließlich in Bezug auf die Pionierorganisation zu dem Fazit :
Menschliche Individualität erweist sich aber am Ende stärker als zentralistische Organisationsstrukturen, die auf die Unmündigkeit des Einzelnen setzt. Wir sind nicht zum Ewigen Pionier geboren, auch wenn eine solche Vorstellung dem einen oder anderen ganz kommod erscheinen mag.
Die Interviewpartner, die für dieses Buch Rede und Antwort standen, lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien teilen: Die, die mit Freude dabei waren, es auch heute gut finden würden, wenn die Kinder von der Straße kämen und im Großen und Ganzen der Zeit ein wenig nachtrauern. Und die, die sich den Pionieren verweigerten, zumeist, weil es im Elternhaus keine Zustimmung zum Beitritt gab, sei es aus religiösen oder politischen Gründen.
Zur ersten Gruppe gehören u.a. Wilfried Poßner, seines Zeichens der letzte Vorsitzende der Pionierorganisation, einige Lehrer und Pionierleiter, die in der DDR für ein frohes Pionierleben zu sorgen hatten, aber auch ein Vertreter der KPD, später DKP, der in der Bundesrepublik für den Pionierverband arbeitete. Ihnen ist gemeinsam, dass sie heute zwar die politischen Überspitzungen kritisieren, die Fahnenappelle und Treueschwüre an die Partei der Arbeiterklasse, zumeist aber doch eine schöne Zeit in Erinnerung behalten haben, in der sie bei den Pionieren lustig und optimistisch heranwuchsen.
Die Kinder hatten die Möglichkeit, sich in Arbeitsgemeinschaften zu betätigen, Ferienangebote wahrzunehmen. Ich sah es auch als einen Vorzug dieser Organisation an, dass die Schüler an jeder Schule in der Person des Pionierleiters einen Ansprechpartner für all das hatten, was sie über den Unterricht hinaus bewegte.
... sagt Wilfried Poßner (Jahrgang 1949) in seinem Interview. In der zweiten Gruppe finden wir u.a. die Schriftstellerin Katja Lange-Müller, die Tochter der Politbüro-Quotenfrau Inge Lange, die sich schon früh von ihrem Funktionärs-Elternhaus abwandte und daher eine ganz andere Sicht auf die Dinge hat.
An die Pioniere habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Damit hatte ich offensichtlich von Anfang an nichts am Hut... Die Pioniere waren wie eine Selbstverständlichkeit da, haben mich aber in keiner Weise beschäftigt.
(Katja Lange-Müller, Jahrgang 1951)
Mitunter kommt es auch zu höchst zweifelhaften Aussagen, so, wenn eine Lehrerin in ihrem Interview behauptet, das Lied "Die Partei, die Partei, die hat immer recht" hätte von allen Pionieren gelernt werden müssen. Weder in den Pionier-Liederbüchern noch in den Lehrplänen findet sich darauf ein Hinweis. Erst nach der Wende erfuhr dieses Lied eine Popularität, die es zu DDR–Zeiten (ausgenommen die frühen 50er Jahre) nie hatte.
Alle Porträts bleiben nicht bei dem eigentlichen Thema stehen, weiten Raum nehmen auch die weiteren Lebensläufe der Protagonisten ein. Dabei offenbart etwa der Schriftsteller und "Helden wie wir"- Thomas Brussig (Jahrgang 1965) eine wohl typische Sicht der meisten ehemaligen Pioniere auf ihre Erlebnisse in der Kindheit:
Ich habe diese Ostherkunft und werde sie nicht los. Aber trotzdem bin ich deshalb nicht der Anwalt des Ostens oder der Kronzeuge in der Ost-West-Frage, so wie es die Journalisten gerne hätten. Ich bekomme zum Beispiel ständig von Plattenfirmen CDs mit Pionier- und DDR-Kampfliedern zugeschickt, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass ich sie für einen Film verwende. Ich kann damit überhaupt nichts anfangen, das sind Kuriosa meines Kindheitskosmos’, über die ich mich höchstens noch totlachen kann.
Um das Buch richtig "abzurunden", hat die Herausgeberin einen umfangreichen Anhang beigefügt. Wer das "Handbuch des Pionierleiters" nicht oder nicht mehr zu Hause hat, kann nun die Geschichte der Pionierorganisation noch einmal nachlesen, erhält das Statut, die Banner und Ehrenzeichen und die " Ernst Thälmann-Traditionsecke" nachgereicht. Für ungeübte "West-Leser" fehlt auch eine Begriffserklärung nicht, in der man erfahren kann, was ein ABV, eine GOL oder ein "Russenmagazin" waren. Zu jenen Kuriosa gehört zum Beispiel auch, dass die Geschichte der Pionierorganisation in den 1950er Jahren auf Zigarettenbildern (!) dokumentiert wurde - ganz nach dem Pioniergebot: Wir jungen Pioniere halten unseren Körper sauber und gesund!
Vielleicht ist es nicht Barbara Felsmanns primäre Intention, auf der Ostalgiewelle zum Ruhm zu schwappen, obwohl gerade die Pionierbluse am wohl trainierten Leib einer Eiskunstläuferin kürzlich eine gewisse öffentliche Aufwertung erfuhr. Insgesamt aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein weiteres Buch entstanden ist, welches diesen Effekt ausnutzen möchte.
Lässt man alle 17 Interviews Revue passieren; so entsteht durchaus ein plastisches und facettenreiches Bild davon, wie sich Kindheit und Jugend in der DDR zutrugen. Die Meinungsvielfalt lässt den einfachen Schluss zu: Es war letztendlich eine Charakterfrage, was man aus der Begegnung mit staatstragenden und -treuen Organisationen wie den "Jungen Pionieren" gemacht hat - wobei natürlich das "frohe Pionierleben" je nach Linientreue und Aktivität des jeweiligen Pionierleiters vor Ort sehr unterschiedlich aussehen konnte. Besonders interessant dürfte sein, dass auch die Geschichte der Pionierorganisation im Westen Deutschlands behandelt wird. Über dieses Kapitel der neuen deutschen Geschichte gibt es bisher kaum Material. Dem mehr oder eher weniger informierten Westdeutschen könnte nach dem Lesen dieses Buches das allzu leichte (Ver-)Urteilen vergehen, dem Ostdeutschen hingegen die aus der Distanz offenbar zunehmende entspannt verharmlosende Haltung. "Aber schön war es doch!"
In jedem Fall aber zeigt die Gegenüberstellung der vielen Stimmen, die zwischen wehmütiger Erinnerung und harscher Ablehnung changieren, dass eine gemeinsam erlebte staatliche Vergangenheit als Rahmenbedingung keineswegs eine einheitliche Gehirnwäsche oder ein Ausgeliefertsein an die Verhältnisse bedeutet. Viel mehr prägte das persönliche Empfinden und das engere Umfeld - wie im Westen auch - den Lebensweg.
Aus der Vielzahl der Gespräche kann sich der Leser durchaus eine Meinung zum Thema bilden, allerdings wird auch jedes bereits bestehende Vorurteil durch mindestens ein Interview abgedeckt. Vielleicht wäre eine historisch fundierte Einführung in das Thema nötig gewesen, um unabhängig von derzeitigen Befindlichkeiten die Rolle der Pionierorganisation in der DDR deutlicher zu machen.
Wolf Dietrich Fruck über: "Beim Kleinen Trompeter habe ich immer geweint. Erinnerungen an die jungen Pioniere". Herausgegeben von Barbara Felsmann im Lukas Verlag Berlin; das Taschenbuch hat 375 Seiten, der Preis beträgt 19 Euro und 80 Cent.