"Die Jüdin Pallas Athene", der kryptische Titel, stammt aus einem Gedicht von Paul Celan. Eine Klammer, mit der die Verfasserin ihr ansonsten in Einzelessays oder sagen wir "Forschungsschwerpunkte" zerfallendes Buch zusammenhält. Eine Metapher mit Tradition. Bereits um 1800 wurde Rahel Varnhagen geborene Levin, die kluge Berliner "Salonière", als Pallas Athene gefeiert. Über hundert Jahre später spielt die sinnende Göttin, die selbst blickt und nicht wie Aphrodite im Blick des Mannes ist, in der prekären Liebe zwischen Martin Heidegger und Hannah Arendt eine Rolle. Auf seinem Schreibtisch stand eine Statuette der Athene. Hannah Arendt wiederum hat in einem Akt der Selbstvergewisserung als Jüdin ein schwieriges Buch über Rahel Levin verfasst. Was sie über das deutschsprachige Judentum als "einzigartiges Phänomen" schreibt, das "in der sonstigen jüdischen Assimilationsgeschichte nicht seinesgleichen" habe mit seinem "geradezu bestürzenden Reichtum an Begabungen und wissenschaftlicher und geistiger Produktivität", münzt Barbara Hahn feministisch um. Viel Nachholarbeit stehe für die reichbegabten deutschsprachigen Jüdinnen an. Von den Memoiren der "Glückel von Hameln", der ersten nichtreligiösen literarischen Arbeit einer in Deutschland lebenden Jüdin, über die Brautbriefe der Fromet Gugenheim an Moses Mendelssohn, beide noch jiddisch verfasst und hebräisch geschrieben, bis zu deren Töchtern. Im Zuge der mit der legalen Emanzipation der preußischen Juden um 1800 einhergehenden sozialen und kulturellen Integration hätten Dorothea Schlegel und Henriette Mendelssohn und mit ihnen Henriette Herz und Rahel Levin plötzlich nur noch Deutsch geschrieben und - seien konvertiert.
Im Übergang zur dominierenden Kultur musste etwas vergessen werden, ohne Rest und ohne Spuren.
Spätestens jetzt, da statt von "Emanzipation" oder "Assimilation" nur von "Traditionsbrüchen" und "Verlorenen Traditionen" die Rede ist, liegt die Tendenz des Buches offen. Erkennbar schon im vorangestellten Motto, einem Zitat von Gershom Scholem:
Ich bestreite, dass es ein deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Dieses Gespräch erstarb in seinen ersten Anfängen. Gewiss, die Juden haben ein Gespräch mit den Deutschen versucht, fordernd, flehentlich und beschwörend kriecherisch und auftrotzend in allen Tonarten ergreifender Würde und gottverlassener Würdelosigkeit.
Aber immer sei es - schrieb Scholem - nur "der Versuch der Hoffnungslosigkeit eines Schreis ins Leere" geblieben. Für Barbara Hahn, Expertin für Rahel Varnhagen und die jüdischen Salons um 1800 in Berlin, heißt das: Niemals waren diese Salons die Glücksorte des deutsch-jüdischen Gesprächs, als die sie tradiert würden.
Das idyllische, fast biedermeierliche Bild erfüllt offenbar einen Wunsch. In ihm kulminiert die Vorstellung, dass es wenigstens einmal ein gutes Zusammenleben von Deutschen und Juden gegeben haben muss.
Wogegen sie merkwürdig eifernd vorgeht mit wissenschaftlich kaum stichhaltigen Belegen. Ein einziger Zeitzeuge nur bezweifelt die Güte von Rahels Salon.
Ich kann Ihnen keinen Begriff machen von dem Auswurf an Gemeinheit, der in diesem Winter in Rahel Levins Gesellschaft herrschte.
Auch dass im Kontext ein Stück NS-Germanistik auftaucht, die 1942 erschienene Schrift "Berliner Salons. Die Geschichte einer großen Verschwörung", die Rahel Levin als "Inbegriff einer der beispiellosesten Zersetzungsversuche des Judentums am deutschen Wesen" verunglimpft, macht erstaunen. Selbst den zunächst löblich aussehenden Ausgrabungen jüdisch traditionsverhafteter Autorinnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende mag man nicht mehr trauen. Allzu sehr scheint sich die Verfasserin am Bannstrahl zu freuen, den diese im übrigen fast durchweg drittklassigen Schriftstellerinnen auf ihre "abtrünnigen" Vorfahrinnen schleudern. Tatsächlich ist in Nahida Remy Lazarus' Buch "Das jüdische Weib" von 1892 ein Kapitel mit "Abtrünnige" überschrieben. Und es heißt darin, die jüdischen Frauen der deutschen Romantik seien zum christlichen Glauben nur aus "Launenhaftigkeit", "trauriger Wortbrüchigkeit", ja aus Gewissenlosigkeit übergetreten.
Aus dem Garten eines edlen Hauses entwischte ein Kind, gelangte auf die Strasse und vertauschte seinen köstlichen Perlenschmuck mit einer glitzernden Glasscherbe, mit der es ein anderes Kind am Wege spielen sah. Das ist die jüdische Frau.
So kommt Paula Winkler, die zum Judentum konvertierte Frau von Martin Buber, zu Wort. Die vielschreibende Bertha Badt-Strauss lässt Barbara Hahn nicht nur in den Briefen von Rahel Levin das "Grundgefühl des entwurzelten Juden in deutscher Umwelt" entdecken, sondern auch in den Briefen von Rosa Luxemburg. Rosa Luxemburg hätte am Ende ihres Lebens "so schlicht zu Gott wie ein müdes Kind nach Hause" gefunden. Eine ungeprüfte Behauptung, der die Literaturprofessorin von heute distanzlos, als sei sie von gestern, zujubelt:
So wird Rosa Luxemburgs Leben als ein Umweg geschildert. Dem Judentum kann man nicht entkommen, so lässt sich aus dieser Lektüre schließen; jeder Versuch der Akkulturation erscheint als immer schon gescheitert.
Das alles ist mit schönen Worten umgeben, die nicht damit versöhnen können, dass Barbara Hahn, Dozentin doch auch für Jewish Studies, nicht beispielsweise Literatur wie Shulamit Volkovs "Antisemitismus als kultureller Code" hinzugezogen hat; dass sie nichts zu erklären versucht und keine Zusammenhänge herstellt etwa zwischen dem nach der Reichsgründung im wilhelminischen Deutschland wieder aufgebrochenen Antisemitismus - eine Identitätskrise - und der jüdischen Bewegung der "Dissimilation", der neuen Rückbesinnung auf jüdische Einzigartigkeit. Das hat ja erst solche Literatur hervorgebracht. Warum grübelten Kulturtheoretikerinnen wie Margarete Susmann oder Gertrud Kantorowicz über "die Jüdin der Gegenwart" als "dem kompliziertesten, durchgeistigsten, aber auch zerplittertsten Frauentypus"? Verkrampfte Bücher und Rassismus unter umgekehrtem Vorzeichen - eine besondere Tragik. Keine Fragen, keine Antworten. Barbara Hahn betreibt pure Phänomen-Beschreibung. Kein Wort fällt über die innerjüdische Diskussion, ob der Blickwinkel von heute, nach dem Holocaust, die gesamte deutsch-jüdische Geschichte überschatten darf.
Ein Kapitel trägt den Titel: "Kaddisch für R.L.". Für Rosa Luxemburg. Spätestens hier fragt sich die Rezensentin, ob nicht das ganze Buch als Kaddisch, als Totengebet, zu lesen ist. Soll da jede Kritik verstummen? Etwa aus Political Correctness? Die Antwort lautet: Nein. Und nicht nur, weil Barbara Hahn keine Jüdin ist. Ihr Buch ist durchdrungen von einem übersteigerten philosemitischen und, sagen wir ruhig: deutsch-antideutschen Opportunismus. Solche Texte darf man nicht unkommentiert stehen lassen.
Ariane Thomalla über Barbara Hahn: "Die Jüdin Pallas Athene. Auch eine Theorie der Moderne". Die Studie ist im Berlin Verlag erschienen, umfasst 368 Seiten und kostet Euro 24.