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Barbara Vinken: Die deutsche Mutter, Der lange Schatten eines Mythos

Während die Biomedizin sogar unfruchtbare Partner mit Kindern beglücken kann, während der Zusammenhang zwischen Alter und Gebärfähigkeit tendenziell obsolet wird, ist die Geburtenrate in Deutschland auf 1,3 Kinder pro Frau gesunken. Eine Entwicklung, die sich als Reaktion darauf deuten lässt, dass in keinem anderen europäischen Land die Kombination von Berufstätigkeit und Mutterrolle derart systematisch hintertrieben wird wie hierzulande. Nach einem öffentlichen Angebot ganztägiger Kinderbetreuung zum Beispiel sucht man vergeblich. In der DDR war man da wesentlich weiter als im vereinten Deutschland der Diskussionshorizont reicht. Wie gesagt, Kinderlosigkeit lässt sich als Reaktion auf strukturelle Defizite erklären, warum aber artikulieren die Frauen, die sich für die Mutterrolle entschieden haben, keinen massiven Protest gegen ihre staatliche und politische Nichtbeachtung. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken versucht in ihrem Buch "Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos" eine Antwort auf diese Frage.

Tita Gaehme | 06.08.2001
    Die Menschen leben im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, doch die deutsche Mutti hängt an ihrer alten Rolle. Mit Freuden gibt sie ihr eigenes Leben samt finanzieller Unabhängigkeit auf, um im Muttersein ihre Identität als "einzige und unersetzliche" Geliebte des Kindes zu finden und damit "unüberbietbare narzistische Befriedigung" zu erleben. Barbara Vinkens Hauptangriff zielt auf die deutschen Frauen.

    "Die Berufung der Frau zur Mutter steht in Deutschland als Bollwerk gegen die Gleichheit von Frauen und Männern. Sie sorgt für die Abwesenheit der Frauen in den Berufen, vor allem in den Karriereberufen. Kinder und Karriere schließen sich in Deutschland aus."

    Diese Behauptung ignoriert die Entwicklung der letzten 25 Jahre. Frauen haben bewiesen, dass sie zu qualifizierten Berufen fähig sind. Juristinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Redakteurinnen sind eine Normalerscheinung und keine Ausnahme mehr wie noch Anfang der 80er Jahre. Und ihrem beruflichen Fortkommen stehen weniger die Kinder im Weg als die Tatsache, dass Leistungs- und Erfolgskriterien immer noch von Männern in den Machtpositionen bestimmt werden.

    Frauen wollen arbeiten, die meisten müssen arbeiten, um den Lebensunterhalt zu verdienen, und sie akzeptieren es nicht mehr, dabei in die Rolle der Rabenmutter gedrängt zu werden. Kindern tun zufriedene und ausgefüllte Mütter gut, gleichgültig, ob die Erfüllung als Hausfrau oder in einem anderen gesellschaftlichen Beruf gefunden wird, das hat sich als psychologisch-pädagogische Erkenntnis, vor allem aber als Lebenserfahrung inzwischen durchgesetzt.

    Auch wenn Patchwork-Lebensläufe in der dynamischen Kommunikationsgesellschaft nicht mehr unbedingt karriereschädigend sind, wollen die meisten Frauen, die einen interessanten Beruf haben, den nicht verlieren und überlegen sich Lösungen, um Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dafür sind allerdings die strukturellen Bedingungen in Deutschland äußerst schwierig. Es gibt zu wenig gesellschaftliche Institutionen, die berufstätige Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder in Geborgenheit groß zu ziehen. Mit der Kritik dieser Verhältnisse hat Barbara Vinken einen Nerv getroffen: Die deutsche Familienpolitik ist eine Antifamilienpolitik, weder im Interesse der Kinder noch der Frauen, einzig funktionalisiert, um den Arbeitsmarkt zu entlasten.

    In punkto beruflicher Gleichstellung steht die Bundesrepublik im westeuropäischen Vergleich blamabel da. Weibliche Erwerbstätigkeit ist hierzulande kein politisches Ziel, sondern ein ethisch fragwürdiges Privatvergnügen, das nicht staatlicherseits zu fördern ist.

    Die Unterprivilegierung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die sich darin ausdrückt, dass Männer die besseren Karrieren, die interessanteren Berufe, mehr Einflussmöglichkeiten und Entscheidungsbefugnisse haben und nicht zuletzt auch mehr Geld verdienen, ist also längst der Effekt eines strukturell etablierten Patriarchats.

    "Die Rolle der Vollmutter liegt nicht in der Natur der Sache, sondern ist eine historisch gewordene Institution, an der in Deutschland zäher als in anderen europäischen Staaten wie Dänemark, Frankreich und auch Italien, dem Land der klassischen Mama, festgehalten wird.

    ... Nach wie vor müssen die meisten Frauen mit der Geburt ihres ersten Kindes auf ihren Beruf verzichten. ... Und so ziehen sich die deutschen Frauen in ihren besten Jahren ins Heim zurück und geben ihre Karriereträume auf."

    Das Buch wendet sich "gegen das Dogma der deutschen Mutter" und will die historische Tiefenstruktur aufzeigen, die dieses Dogma in blinder Selbstverständlichkeit wirksam sein lasse. Als ideologische Traditionslinien sieht Barbara Vinken die deutsche Reformation, den Naturphilosophen Rousseau, den Pädagogen Pestalozzi, Königin Luise von Preußen, die das Ideal der Familienidylle hoffähig machte, die deutschen Frauenvereine im frühen 20. Jahrhundert, Ina Seidel mit ihrem heroischen Mutter-Epos "Das Wunschkind", nationalsozialistische Blut- und Rassepolitik. All dies werfe lange Schatten, die heute noch mütterliche Existenz mythologisch vernebeln und in Deutschland zum sozialen Dilemma geführt hätten. Dadurch werde Emanzipation, weibliche Berufstätigkeit und eine aktive Bevölkerungspolitik verhindert und es der modernen Frau immer noch schwer gemacht, Kinder zu kriegen und gleichzeitig Karriere im Beruf zu machen.

    "Seit dem Kriegsende ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen. Deutschland ist allen Sonder- und Abwegen seiner Geschichte zum Trotz ein Land mit westeuropäischen Zivilisationsstandards geworden. Die deutsche Mutter ist einer der wenigen Sonderwege, auf denen man glaubt, weitergehen zu müssen."

    Barbara Vinken hält die "ewige natürliche Mütterlichkeit" für ein deutsches Motiv. Frankreich ist das hochgelobte Beispiel für gelungene Familien und Frauenpolitik, Deutschland sei "Lichtjahre von solchen Verhältnissen entfernt". Ihre Beispiele sind mager, die Begründungen wenig überzeugend.

    Die "gute Mutter", im patriarchalischen Haushalt zu Dienst und Opfer bereit, sei eine Schöpfung des protestantischen Europas, eine Erfindung Martin Luthers, des Reformators von Christentum und Ehe. Diese Behauptung entfaltet Barbara Vinken ohne Beweisführung. Das würde ihr auch schwer gelingen, denn der Topos der Mutterschaft kommt tatsächlich erst kurz vor der Französischen Revolution auf. Jean Jacques Rousseau hat das moderne Mutter-Ideal erfunden, dem Selbstaufopferung und zärtliche Liebe zum Kind weiblicher Naturinstinkt ist. Auf Rousseaus Gedanken bauen Ärzte und Pädagogen seit dem 19. Jahrhundert auf. Sie schufen die gültige Ideologie von Mütterlichkeit , die in den letzten 200 Jahren für Frauenrollen und Frauenberufe prägend wurde.

    Mentalitätsgeschichtlich hat Martin Luther dafür das Vorfeld bereitet, indem er die Ehe reformierte. Luther löste die Askese als höchste Form gottgefälligen Lebens durch die patriarchalische christliche Ehe ab. Er integrierte die Sexualität in christliche Lebensführung, befreite die menschliche Fortpflanzung von der Sünde. Er entwarf ein Bild der Frau als "Hausfrau" und "Ehefrau", die sich vom christlich-katholisch gepredigten "Boykott des Schoßes" hin zu ihrer biologischen Veranlagung als Gebärerin emanzipiert, kein Mutterbild. Kinderaufzucht ist für Martin Luther Elternsache, nicht mütterliche Angelegenheit.

    Auch die eigene Ehefrau zwang Luther zumindest nicht in die Muttchen-Rolle. Katharina von Bora verbrachte die Hälfte des Jahres auf ihrem Gut, und wenn sie nach Hause kam, war sie bei Männer-Tischgesellschaften ebenbürtige Gesprächspartnerin.

    Barbara Vinken sieht in den katholischen und klösterlichen Heilsvorstellungen emanzipatorische Möglichkeiten für die Frau, während das protestantisch-patriarchalische Ehe- und Familienmodell und die strikte Geschlechtertrennung Ursache sei für die Unterdrückung der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft.

    Die Autorin glorifiziert als Alternative ausgerechnet die Liebesgeschichte des frühmittelalterlichen Paares Héloise und Abelard, das sich heimlich liebt, heimlich ein Kind bekommt, heimlich heiratet und sich dann trennt, um ins Kloster zu gehen.

    Fürderhin konnte keine Frau mehr dem Manne überlegen sein, wie es die mittelalterliche Héloise, zuerst die Geliebte des Abélards und Mutter seines Kindes, als Braut Christi und Äbtissin eines Klosters war und wie es in den Worten des großen Philosophen bezeugt ist.

    Im Briefwechsel von Héloise und Abelard erfahren wir den ganzen Bogen einer Liebestragödie von der gewaltigen Leidenschaft bis hin zur Verlassenheit und zum erstickenden Verzicht. Héloise und Abelard büßen für ihre Mutterschaft. Abelard wird von der wütenden Verwandtschaft entmannt und geht ins Kloster; wie er gesteht, aus Schande, nicht aus Frömmigkeit. Auf seinen Wunsch nimmt auch Héloise den Schleier. Sie soll weinend zum Altar geschritten sein. Héloise opferte ihr Kind und ihre Liebe unter der aufgenötigten Maske der Frömmigkeit, um jahrzehntelang in einem Beruf weiter zu leben, für den sie keine Leidenschaft hatte.

    Tita Gaehme über Barbara Vinken, "Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos". Der Band ist im Münchener Piper Verlag erschienen, umfasst 328 Seiten und kostet DM 39,60.