Donnerstag, 25. April 2024

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Bargeldlos
Stockholm-Urlaub mit der Plastikkarte

Deutsche Touristen erkennt man in Schweden nicht am Akzent, sondern daran, dass sie mit Bargeld bezahlen wollen. Denn das ist in Schweden mehr als unüblich. Ob beim Bäcker, im Supermarkt, im Restaurant oder an der Würstchenbude: fast alles wird mit der EC- oder Kreditkarte bezahlt. Bisweilen treibt die schwedische Liebe zum Plastikgeld aber sonderbare Blüten.

Von Klaus Betz | 26.06.2016
    Blick von Södermalm auf die Stockholmer Altstadt Gamla Stan aufgenommen am 07.09.2011 in Stockholm. Gamla Stan gehört zu den größten und besterhaltenen historischen Stadtkernen Europas. Hier wurde die Stadt im Jahre 1252 gegründet.
    Blick von Södermalm auf die Stockholmer Altstadt Gamla Stan, die zu den größten und besterhaltenen historischen Stadtkernen Europas gehört (picture-alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Sobald ich in Stockholm ankomme, kaufe ich mir im nächstgelegenen Pressbyrån immer zuerst einen Kaffee und ein Ticket für das riesige Stockholmer U-Bahn-Netz. Das ist fast schon ein Ritual, zumal ich aus den Vorjahren weiß, dass man in den Stockholmer U-Bahn-Stationen keine Ticketautomaten findet. Das Pressbyrån ist also fast eine Art Pflicht und zugleich auch ein Schlüsselwort. Es steht für eine Kiosk-Kette, die nahezu an jeder Station präsent ist – auch im Flughafen Arlanda.
    Von frühmorgens bis spätnachts wird in einem Pressbyrån all das verkauft, was für das "To-Go-Leben" in einer großen Metropole wichtig ist: Zeitungen, Sandwiches, Getränke und selbstverständlich SIM-Karten. Hier kann man Kaffee trinken, die berühmten schwedischen Zimtschnecken kaufen – Kaneelbullar – und eben: Tickets für die Tunnelban, die U-Bahn.
    Eine Netzkarte für sieben Tage Stockholm und Umgebung – für alle Busse, Bahnen und innerstädtischen Fähren zusammen – kostet gerade mal gut 30 Euro. 300 Kronen.
    Während der Kaffee durchläuft frage ich die Kiosk-Verkäuferin, ob man auch künftig alles mit Bargeld bezahlen kann? Ihre Antwort - aber selbstverständlich!
    Doch so selbstverständlich ist das bar bezahlen können längst nicht überall in Stockholm. Schweden verwandelt sich nämlich in eine cashless society – in eine bargeldlose Gesellschaft. Und der Großraum Stockholm, mit seinen zwei Millionen Einwohnern, ist der Taktgeber.
    Während die Älteren ihren Unmut über diese Entwicklung erst allmählich äußern, hat die Smartphone-Generation das Bargeld fast vollständig aus ihrem Leben verbannt und scheint sich durchzusetzen. Mit seltsamen Folgen, wie ich auf meinen Streifzügen durch die schwedische Hauptstadt feststellen muss.
    Obdachlosenzeitung per App bezahlen
    Mitten in der unterirdischen Fußgänger-Zone zwischen Hauptbahnhof und Stadtmitte sehe ich Juhan stehen. Um ihn herum - pure Hektik. Menschen, die in Eile sind, umsteigen oder in den zahllosen Geschäften, Boutiquen und Fast-Food-Ketten einkaufen oder essen wollen.
    Juhan lehnt an einer Säule und bietet eine Zeitung an. Still und zurückhaltend. Wie sich herausstellt ist er hemlös. Ein Wohnsitzloser also. Juhan lebt vom Verkauf eines kritischen Stadtmagazins.
    "Das Magazin heißt 'Situation Stockholm' und kostet 50 Kronen. Ich stehe hier mitten im Hauptbahnhof-Tunnel und versuche, die Zeitung zu verkaufen – hier, wo jeden Tag viele, viele Personen vorbeikommen, mitten in Stockholm. Die meisten Menschen sind sehr angenehm; ich hatte bisher eigentlich nie mit unangenehmen Menschen zu tun."
    Juhan hat ein Schild umgehängt, auf dem seine "Swish"-Nummer steht. "Swish" ist eine schwedische Bezahl-App, mit der man via Smartphone Geld überweisen kann. In Echtzeit.
    Ich zeige auf sein Schild und frage ihn, ob es wirklich Leute gibt, die ihm per "Swish" Geld überweisen?
    "Ja, das geht und es ist ganz einfach. Man muss auf dem Smartphone nur meine Nummer eingeben, den Betrag und einen Code, dann bekomme ich das Geld auf mein Konto."
    Ob das nicht etwas ungewöhnlich ist - frage ich Juhan - keine Wohnung zu haben, aber mit Swish bezahlt zu werden?
    "Nein, überhaupt nicht. Das sind eben die neuen Zeiten, weißt du. Es wird immer weniger mit Bargeld bezahlt in unserer Gesellschaft und mehr und mehr mit Karte – tja, in der bargeldlosen Gesellschaft liegt das Geld eben auf dem Computer. So ist das. Neue Methoden, neue Zeiten."
    Mich zieht es nun endlich an die Oberfläche der Stadt, raus aus den unterirdischen Gängen und der Rolltreppen-Welt zwischen den verschiedenen U-Bahn-Ebenen. Und: Ich erlebe plötzlich, dass Stockholm voller Lebensfreude ist und seinen Sommer zelebriert. Die Straßencafés, Bars und Restaurants überall sind voll. Endlich braucht es keine wärmenden Decken mehr. Die Menschen lachen, sie treffen sich mit Freunden und auf den Tischen glitzern die Weißwein-Gläser im Gegenlicht.
    Würstchen zahlen per Karte
    In der Nähe des viel besuchten Stadtparks am "Kungsträdgården" erlebe ich die nächste Überraschung. Am früheren Schlossgarten komme ich an einem Würstchenstand vorbei, bei dem man offenbar per Karte bezahlen kann – so signalisieren es die Logos von Mastercard, Maestro und Visa. Die angebotenen Hotdogs kosten hier 30 Kronen, drei Euro.
    Ob es üblich geworden ist, so einen kleinen Betrag mit Karte zu bezahlen, frage ich den Hotdog-Verkäufer? Seine Antwort:
    "Inzwischen ist das normal. Früher, als wir noch keine Karten akzeptieren konnten, haben wir häufig Kunden verloren. Immer mehr. Deshalb akzeptieren wir jetzt Karten, auch wenn wir jedes Mal zwei Kronen für Transaktionskosten zahlen müssen. Vorher hatten wir noch kein mobiles Kartenlesegerät, da mussten wir immer da draußen bei anderen Geschäften andocken.
    Wir haben zu viel Geld und Kunden verloren. Ungefähr 60 Prozent fragen uns: Nehmen Sie Karten?"
    Auf dem Weg zur Altstadt treffe ich eine deutsche Urlauberin. Dunja Fisinger kommt aus der Nähe von München und hat sich, wie sie mir erzählt, ganz auf eine bargeldlose Reise nach Stockholm eingestellt.
    "Ich hab' gar kein Bargeld mitgenommen. Meine erste Frage an unsere Gastgeberin – wir besuchen Freunde – war eigentlich: Wo ich denn wechseln kann, Geld wechseln kann? Und dann hat die Beate gesagt: Lass es einfach, nimm nur die Kreditkarte mit; ich hab' überhaupt kein Bargeld mit dabei, jetzt grad - ich hab' nur mit Kreditkarte bislang bezahlt oder mit EC-Karte eben."
    Auf einer Auslandsreise ohne Geld unterwegs zu sein ist für Dunja Fisinger neu. Sie ist darüber erstaunt und amüsiert. Dennoch hat sie auch ihre Zweifel.
    "Ich bin ehrlich gesagt mehr fürs Bargeld. Ich fühl' mich wohler, wenn ich irgendwas in der Hand hab', mit'm Geld. Weil ich dann doch das Gefühl hab', ich hab' auch mehr Kontrolle darüber was ich ausgegeben hab'. Am Ende vom Tag sehe ich, was aus'm Geldbeutel raus ist. Und des seh' ich so nicht, mit meiner Kreditkarte oder mit der EC-Karte. Also mir wär's lieber, weiterhin mit Bargeld. Man verliert völlig den Überblick, man hat ja nichts im Geldbeutel drin, außer der Karte, ne? "
    In der historischen Altstadt wimmelt es nur so von schwedischen und ausländischen Touristen. Die Gamla Stan ist der Besuchermagnet Stockholms. Mit seinen Gassen und Gässchen, kleinen Läden, Galerien und Giebelhäusern bildet Gamla Stan die perfekte Kulisse für das königliche Schloss und natürlich auch für die tägliche Wachablösung um Zwölf.
    Ein paar Schritte weiter liegt die Stor-Kyrkan – die Hochzeits-Kathedrale der königlichen Familie. Und gleich um die Ecke erinnert das Nobel-Museum an den schwedischen Unternehmer Alfred Nobel - den Erfinder des Dynamits einerseits und Stifter des berühmten Nobel-Preises andererseits.
    Eine Frau zeigt ein Smartphone mit der App MyWallet neben einem Empfangsgerät an der Kasse eines Restaurants.
    Kontaktlos bezahlen mit dem Smartphone ist inSchweden die Regel. Ob im Supermarkt, am Kiosk oder sogar bei der Kollekte in der Kirche. (dpa / picture alliance / Oliver Berg)
    WC-Besuch ohne Bargeld
    Da ich in diesem Moment aber von einer japanischen Reisegruppe und ihrem engagierten Guide umgeben bin – und eh nichts verstehe -, schlendere ich stattdessen zur Tyska Kyrkan weiter; zur Deutschen Kirche. Dort begegne ich erneut einer Besucherin aus Deutschland und auch Ute Villing hat so ihre ganz eigenen Erfahrungen mit dem bargeldlosen Urlaub gemacht:
    "Sehr originell finde ich, dass man sogar die Toilettenhäuschen mit Mastercard bezahlt oder mit der Kreditkarte, das ist schon besonders. Und dass man in vielen Lokalen gar nicht mehr auf Bargeld eingerichtet ist.
    Heute Morgen wollte ich mit einem Fünfhundert-Kronen-Schein bezahlen, was ja eigentlich nich' so'n ganz großes Problem ist, aber – also sie haben's mir gerade geschafft noch raus zu geben. Ich mein' sie akzeptieren es dann, aber man merkt, man ist nicht geliebt mit Bargeld."
    Tatsächlich ist man im schwedischen Alltagsleben schon ein knappes Jahrzehnt weiter. Gefühlt jedenfalls. Das zeigt sich bereits am nächsten Tag – jenseits der touristischen Highlights.
    Schnellkassen statt Kassierer
    Ich bin wieder einmal per U-Bahn unterwegs und auf dem Weg zu einem Supermarkt in der Innenstadt. Dort gibt es nämlich fast nur noch sogenannte Schnellkassen – Snabbkasserna –, die ausschließlich per Kreditkarte funktionieren.
    Wobei man wissen muss, wenn man in Schweden von einer Kreditkarte spricht – von einer "Kurt" – dann ist das in Wahrheit meistens eine sogenannte Debitkarte. Vergleichbar unserer EC-Karte, bei der alle Ausgaben sofort dem jeweiligen Konto belastet werden. Dennoch bleibt es gewöhnungsbedürftig, wenn hier ständig alle die geringsten Kleinigkeiten per Karte bezahlen - ein Eis etwa, eine Lakritzstange oder einen Softdrink. Man kommt sich vor, als sei man aus der Zeit gefallen.
    Ich bin an diesem Morgen mit Mikail Tanhan verabredet. Er ist Leiter des besagten Supermarktes. Direkt unter dem Hauptbahnhof in Stockholm gelegen – mit Zugang zu allen U-Bahn-Linien und Vorort-Zügen - liegt das hochmoderne Lebensmittelgeschäft mitten im Nervenzentrum des täglichen Pendlerstroms.
    "Jeden Tag kommen hier an unserem Supermarkt zwischen 250.000 und 400.000 Personen vorbei. Überwiegend Pendler. Und so haben wir im Schnitt zwischen 6000 und 10.000 Kunden pro Tag – zahlende Kunden, mit Quittung. Eine Quittung, eine Kunde - so rechnen wir hier."
    Mikail Tanhan spricht schnell. Er ist hoch konzentriert und irgendwie auch ganz begeistert von dem, was er sieht und was er mir erklären kann. Während ich mir noch vorkomme, als würde ich einen Blick in die Zukunft des Einkaufens werfen dürfen, praktizieren die Schweden diese Zukunft bereits heute schon; mit großer Selbstverständlichkeit. Sie werden nicht länger bedient, sie bedienen sich selbst; sie übernehmen alle Arbeiten und - funktionieren. Und genau darauf ist das Kassenareal des Supermarktes ausgerichtet.
    "Wir haben 21 unterschiedliche Kreditkarten-Kassen. Das sind Selbstbedienungskassen, wo die Kunden zuerst alles einscannen. Brot, Salad und solche Sachen wiegt man, dann bekommt man ein Etikett, das man einscannt. Der Rest ist alles im Computer einprogrammiert, sodass die Kunden nur noch auswählen und per Karte bezahlen müssen."
    Da es hier zu geht wie bei Ikea an Weihnachten, ist alles auf höchste Effizienz ausgerichtet. Hauptsache ist: schnelles Vorankommen, fast forward."
    Die Durchschnittszeiten für das Bezahlen an der Schnellkasse liegen zwischen 15 und 45 Sekunden. Das geht hier sehr, sehr schnell. Selbst wenn es mal eine Schlange gibt, dann geht das trotzdem noch schneller als da drüben, bei unseren drei traditionellen Kassen."
    Mit Bargeld bezahlen ist also schon noch möglich, im Supermarkt der Zukunft. Doch die Kreditkarten-Kassen bilden längst die Übermacht.
    Im kleineren Maßstab praktiziert dies auch eine Bäckerei nebenan. Dort gibt es zwar hervorragendes Steinofenbrot und andere qualitativ hochwertige Bäckereiprodukte, aber an der Kasse informiert ein unmissverständliches Schild über die Grundsätze des Hauses: "Vi är kontantlös" - Wir nehmen kein Bargeld. Im übertragenen Sinne heißt das ja wohl: "Unser täglich Brot" kann ich nur noch per Kreditkarte kaufen.
    Kollektomat statt Klingelbeutel
    Nur 500 Meter vom Supermarkt der Zukunft entfernt, erwartet mich in der Klara-Kirche eine weitere Überraschung. Das Gotteshaus ist für sein soziales Engagement bekannt. Hier kümmert man sich um Obdachlose, Mütter in Not finden Hilfe, und Flüchtlinge werden in Schwedisch unterrichtet. Santa Clara, so der offizielle Name, ist eine typische Großstadt-Kirche - umgeben von sozialen Spannungen und Problemen.
    Und doch hat man sich auch hier schon vom Bargeld verabschiedet. Endgültig. Wie in anderen Kirchen in Stockholm auch, gibt es daher keinen Klingelbeutel mehr, sondern - einen Kollektomaten. Küster Classe Hansson erklärt mir dessen Funktionsweise:
    "Diesen Kollektomaten haben wir angeschafft, weil wir mit der Zeit gehen müssen. Viele Besucher wollen hier ja nur noch mit Karte bezahlen. Deshalb ist es durchaus passend, so einen der Kollektomaten zu haben. Noch dazu so einen flexiblen. Auf dem Bildschirm kann man nämlich auswählen, ob man ein Buch bezahlen möchte, aber man kann auch spenden: Essen für Obdachlose beispielsweise oder für behinderte Kinder, für die Diakoniearbeit, die Sonntagskollekte oder etwa für gefährdete Frauen. Also hat man sechs verschiedene Möglichkeiten, um bestimmen zu können, für was man spenden möchte.
    Anschließend steckt man nur noch – wie beim Geldautomaten - die Kreditkarte rein, tippt den gewünschten Betrag und den Code ein, fertig. Außerdem ist es so auch möglich, anonym zu bleiben, niemand kann sehen, wie viel man wofür spendet. Also alles ganz einfach und praktisch. Ich glaube das war eine gute Investition."
    "Vadå" – Ja, was denn? würde der Schwede an dieser Stelle wohl sagen und sich unaufgeregt zu seinem "Lunch" zurückziehen, seiner Mittagspause. Darauf sind fast alle Restaurants in Schweden eingerichtet. Sie bieten deshalb ein preisgünstiges "Dagens" an – ein Tagesgericht. In meinem Fall ist es: Risotto con Funghi. Nicht unbedingt schwedisch, aber gut.
    Auf meine Frage, ob ich mit Bargeld bezahlen kann oder ob ich die Rechnung mit Karte begleichen muss, antwortet mir der Mann am Tresen mit einem ganzen coolen Satz: "Det spelar ingen roll". Das spielt keine Rolle.