Dr. Horst Groschopp:
"Wir sind ja am endgültigen Ende der bismarckschen Sozialgesetzgebung, was sich daraus entwickelt, welche Form der Solidarität, welche Formen des Zusammenhalts der Gesellschaft sich entwickeln werden, sind ja Thema dieses Kolloquiums. Auf alle Fälle ist eins sicher: Das Christentum und die Kirchen fallen als geistiger Kitt aus. Also selbst die, die noch Mitglied der Kirchen sind, begreifen das, was sie glauben, nicht mehr als das, was da ursprünglich angelegt war. D.h., die Frage ist, welche Kulturvorstellungen gestatten es überhaupt, Gemeinschaft in einer Gesellschaft zu denken?"
Welche normativen Fundamente halten eine Gesellschaft zusammen, wenn die Religion nicht mehr trägt? Kann der "Humanismus", jenes europäische Weltbild, in dessen Zentrum die Menschenwürde steht, Orientierung geben bei der Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Konflikte? Wo liegen die Wurzeln dieses Humanismus? Dr. Horst Groschopp, Direktor der humanistischen Akademie Berlin und Mitveranstalter der Tagung:
"Wenn Sie nach dem Verständnis von Humanismus fragen, so knüpft das tatsächlich an antike Vorstellungen der Selbstbestimmung des Individuums an. Und wir übersetzen das in die Gegenwart und kommen zu Positionen des Handelns, zur Betonung der Individualität, Weltlichkeit - für uns besonders wichtig, weil wir Vertreter der Konfessionslosen sind."
"Die Natur schreibt … vor, dass der Mensch dem Menschen, wer immer es sei, helfen wolle, genau aus diesem Grund, weil der ein Mensch ist"
Hieß es bereits vor über 2000 Jahren bei Cicero. - Dass die Wurzeln des Humanismus in der Antike liegen, zeigte der Tübinger Altphilologe Prof. Hubert Cancik in seinem Vortrag. Zwar war Cicero ein Sklavenhalter, doch philosophisch war dem römischen Politiker und Schriftsteller klar, dass alle Menschen gleich und eben deshalb mit "Menschlichkeit" zu behandeln seien. Hubert Cancik:
" Die Gleichheit wird begründet aus dem Gegensatz zum Tier. Die Menschen können sprechen, denken vorausschauend, argumentieren. "Logos", das haben alle Menschen, Männer, Frauen. Kinder noch nicht, da wächst die Vernunft noch."
Aus dieser Gleichheit folgte dann für Cicero das Gebot der "misericordia", des Mitgefühls mit dem anderen Menschen. Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind also keineswegs ethische Errungenschaften, die vor allem aus dem Christentum stammen.Dr. Horst Groschopp:
"Weil wir historisch mit einer Gesellschaft konfrontiert sind, wo die Kirchen für alles Liebe und Gute zuständig sind und die Atheisten die Bösen sind, ist für uns ein Rückblick darauf, wo die Idee der Barmherzigkeit herkommt, enorm wichtig. Inwiefern hängt das, was wir unter Humanismus und tätiger Barmherzigkeit verstehen, mit den christlichen Begriffen der Nächstenliebe zusammen? Ist das, was wir machen, säkularisierte Nächstenliebe? Oder zeigt es uns eher, dass es in der Antike entstanden ist?"
Nächstenliebe und Barmherzigkeit appellieren zunächst einmal an das Mitgefühl des Individuums. Doch bereits in der Antike finden sich auch Ideen von öffentlich-politischer Solidarität, weil sie die Stabilität im Land erhält. Aristoteles bereits forderte staatliche Maßnahmen, um die Ungleichverteilung von Wohlstand zu beheben. Die Armen, so Aristoteles, brauchten keine Almosen, vielmehr Chancen, sich durch eigene Arbeit ernähren zu können. Und Solidarität findet sich auch in antiken utopischen Staatsverfassungen, so Hubert Cancik:
" Und da sind zu einem erstaunlichen Umfang soziale Rechte eingefordert. Z.B. kostenloser Schulbesuch für Bedürftige, merkwürdigerweise auch Schulbesuch für Mädchen die Regelung der ärztlichen Versorgung auf einer rechtlichen Basis, die Versorgung der Waisen."
Natürlich bedurfte es der europäischen Aufklärung, bis Freiheit und Gleichheit aller Menschen in die Verfassungen aufgenommen wurden. Und noch länger dauerte es, bis sozialstaatliche Maßnahmen auch den Armen und Schwachen Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen, soziale Sicherheit und damit ein Leben in Würde gewährleisteten. Hubert Cancik:
"Ich würde sagen, es ist sehr viel erreicht, wenn man von der Antike her schaut, auch an sozial kulturellen Fortschritten. … Auf der anderen Seite sind wir dabei, Prinzipien, die mal gültig waren, aufzulösen. Also, Prinzipien der Solidarität in verschiedenen Bereichen und auch andere Dinge. Also aus dem Bereich der Diakonie, der ärztlichen Versorgung ist eben der Ökonomisierungsdruck so stark, dass ärztliches Ethos wirklich bedroht ist. Und da ist die Besinnung auf humanistische Traditionen möglicherweise ne Hilfe, dass man das noch mal versucht, gegenzulesen."
Und hier begann sozusagen der realpolitische Teil des Kolloquiums. Was bedeuten heute humanistische Werte wie Barmherzigkeit? Wie kann Solidarität heute aussehen? Denn einig war sich das Kolloquium, dass gesellschaftliche Solidarität zunehmend gefährdet ist: Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich. Atypische Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu. Doch wie könnten sich Arbeiter, Angestellte, Leiharbeiter, prekär Beschäftigte heute gegen Niedriglöhne, Prekarisierung oder drohende Entlassungen zusammenschließen? Ratlosigkeit war zu verzeichnen, wie Dr. Lutz Brangsch vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitveranstalter der Tagung zugab:
"Das alte Solidaritätsverständnis erwächst auch dem Fabriksystem, … Mit dem Verschwinden der Fabrik zumindest in unserem Teil der Welt, stellt sich natürlich die Frage, wie kommen Menschen heute zusammen, um für ihre Interessen handeln zu können? Und adäquate Formen und ne neue Kultur sind noch nicht gefunden worden."
Und so glichen die Antworten auf mögliche neue Formen der Solidarität eher einem Brainstorming als Konzepten mit klaren Konturen. Von Umverteilung war da die Rede, von Genossenschaften, Bürgerhaushalten, von lokalen und kleinteiligen solidarischen Ökonomien.- Sicher waren sich die Teilnehmer am Kolloquium nur in einem: Wenn keine neue Solidarität entwickelt werde, dann würden die humanistischen Ideale Europas bald nur noch Geschichte sein.
"Wir sind ja am endgültigen Ende der bismarckschen Sozialgesetzgebung, was sich daraus entwickelt, welche Form der Solidarität, welche Formen des Zusammenhalts der Gesellschaft sich entwickeln werden, sind ja Thema dieses Kolloquiums. Auf alle Fälle ist eins sicher: Das Christentum und die Kirchen fallen als geistiger Kitt aus. Also selbst die, die noch Mitglied der Kirchen sind, begreifen das, was sie glauben, nicht mehr als das, was da ursprünglich angelegt war. D.h., die Frage ist, welche Kulturvorstellungen gestatten es überhaupt, Gemeinschaft in einer Gesellschaft zu denken?"
Welche normativen Fundamente halten eine Gesellschaft zusammen, wenn die Religion nicht mehr trägt? Kann der "Humanismus", jenes europäische Weltbild, in dessen Zentrum die Menschenwürde steht, Orientierung geben bei der Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Konflikte? Wo liegen die Wurzeln dieses Humanismus? Dr. Horst Groschopp, Direktor der humanistischen Akademie Berlin und Mitveranstalter der Tagung:
"Wenn Sie nach dem Verständnis von Humanismus fragen, so knüpft das tatsächlich an antike Vorstellungen der Selbstbestimmung des Individuums an. Und wir übersetzen das in die Gegenwart und kommen zu Positionen des Handelns, zur Betonung der Individualität, Weltlichkeit - für uns besonders wichtig, weil wir Vertreter der Konfessionslosen sind."
"Die Natur schreibt … vor, dass der Mensch dem Menschen, wer immer es sei, helfen wolle, genau aus diesem Grund, weil der ein Mensch ist"
Hieß es bereits vor über 2000 Jahren bei Cicero. - Dass die Wurzeln des Humanismus in der Antike liegen, zeigte der Tübinger Altphilologe Prof. Hubert Cancik in seinem Vortrag. Zwar war Cicero ein Sklavenhalter, doch philosophisch war dem römischen Politiker und Schriftsteller klar, dass alle Menschen gleich und eben deshalb mit "Menschlichkeit" zu behandeln seien. Hubert Cancik:
" Die Gleichheit wird begründet aus dem Gegensatz zum Tier. Die Menschen können sprechen, denken vorausschauend, argumentieren. "Logos", das haben alle Menschen, Männer, Frauen. Kinder noch nicht, da wächst die Vernunft noch."
Aus dieser Gleichheit folgte dann für Cicero das Gebot der "misericordia", des Mitgefühls mit dem anderen Menschen. Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind also keineswegs ethische Errungenschaften, die vor allem aus dem Christentum stammen.Dr. Horst Groschopp:
"Weil wir historisch mit einer Gesellschaft konfrontiert sind, wo die Kirchen für alles Liebe und Gute zuständig sind und die Atheisten die Bösen sind, ist für uns ein Rückblick darauf, wo die Idee der Barmherzigkeit herkommt, enorm wichtig. Inwiefern hängt das, was wir unter Humanismus und tätiger Barmherzigkeit verstehen, mit den christlichen Begriffen der Nächstenliebe zusammen? Ist das, was wir machen, säkularisierte Nächstenliebe? Oder zeigt es uns eher, dass es in der Antike entstanden ist?"
Nächstenliebe und Barmherzigkeit appellieren zunächst einmal an das Mitgefühl des Individuums. Doch bereits in der Antike finden sich auch Ideen von öffentlich-politischer Solidarität, weil sie die Stabilität im Land erhält. Aristoteles bereits forderte staatliche Maßnahmen, um die Ungleichverteilung von Wohlstand zu beheben. Die Armen, so Aristoteles, brauchten keine Almosen, vielmehr Chancen, sich durch eigene Arbeit ernähren zu können. Und Solidarität findet sich auch in antiken utopischen Staatsverfassungen, so Hubert Cancik:
" Und da sind zu einem erstaunlichen Umfang soziale Rechte eingefordert. Z.B. kostenloser Schulbesuch für Bedürftige, merkwürdigerweise auch Schulbesuch für Mädchen die Regelung der ärztlichen Versorgung auf einer rechtlichen Basis, die Versorgung der Waisen."
Natürlich bedurfte es der europäischen Aufklärung, bis Freiheit und Gleichheit aller Menschen in die Verfassungen aufgenommen wurden. Und noch länger dauerte es, bis sozialstaatliche Maßnahmen auch den Armen und Schwachen Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen, soziale Sicherheit und damit ein Leben in Würde gewährleisteten. Hubert Cancik:
"Ich würde sagen, es ist sehr viel erreicht, wenn man von der Antike her schaut, auch an sozial kulturellen Fortschritten. … Auf der anderen Seite sind wir dabei, Prinzipien, die mal gültig waren, aufzulösen. Also, Prinzipien der Solidarität in verschiedenen Bereichen und auch andere Dinge. Also aus dem Bereich der Diakonie, der ärztlichen Versorgung ist eben der Ökonomisierungsdruck so stark, dass ärztliches Ethos wirklich bedroht ist. Und da ist die Besinnung auf humanistische Traditionen möglicherweise ne Hilfe, dass man das noch mal versucht, gegenzulesen."
Und hier begann sozusagen der realpolitische Teil des Kolloquiums. Was bedeuten heute humanistische Werte wie Barmherzigkeit? Wie kann Solidarität heute aussehen? Denn einig war sich das Kolloquium, dass gesellschaftliche Solidarität zunehmend gefährdet ist: Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich. Atypische Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu. Doch wie könnten sich Arbeiter, Angestellte, Leiharbeiter, prekär Beschäftigte heute gegen Niedriglöhne, Prekarisierung oder drohende Entlassungen zusammenschließen? Ratlosigkeit war zu verzeichnen, wie Dr. Lutz Brangsch vom Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitveranstalter der Tagung zugab:
"Das alte Solidaritätsverständnis erwächst auch dem Fabriksystem, … Mit dem Verschwinden der Fabrik zumindest in unserem Teil der Welt, stellt sich natürlich die Frage, wie kommen Menschen heute zusammen, um für ihre Interessen handeln zu können? Und adäquate Formen und ne neue Kultur sind noch nicht gefunden worden."
Und so glichen die Antworten auf mögliche neue Formen der Solidarität eher einem Brainstorming als Konzepten mit klaren Konturen. Von Umverteilung war da die Rede, von Genossenschaften, Bürgerhaushalten, von lokalen und kleinteiligen solidarischen Ökonomien.- Sicher waren sich die Teilnehmer am Kolloquium nur in einem: Wenn keine neue Solidarität entwickelt werde, dann würden die humanistischen Ideale Europas bald nur noch Geschichte sein.