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Barockes Filmpoem

Von geschlossener Stadtidylle ist Genua weit entfernt. Aber das Brüchige und Unschöne macht eine Stadt faszinierend. Für Pietro Marcello wurde Genua so zur Protagonistin seines Films "La bocca del lupo", der Mund des Wolfs.

Von Rüdiger Suchsland |
    Mit einem weiten, langen sonnengeblendeten Blick auf das Mittelmeer in der Abenddämmerung, kulturgeschichtlich voller Referenzen, beginnt dieser Film. Melancholie und Sehnsucht, eine Unbestimmtheit, in der Zukunft und Vergangenheit verschmelzen.

    Die Stimme spricht aus dem Off von Garibaldi, von Italien der Nationwerdung, die Bilder zeigen Jugendliche beim Baden, irgendwann Anfang des Jahrhunderts.

    Man sieht einen großen Hafen, ein Schiff, das in der Ferne allmählich verschwindet, in den Kaianlagen Obdachlose, die in den düsteren Höhlen des Hafens hausen. Aus dem Off erklingt eine Stimme, sie erzählt von Schiffbrüchigen.

    Der Zuschauer wird mit dem Porträt einer im Zerfall begriffenen Stadt konfrontiert, es ist die Hafenstadt Genua, deren Kosmos der italienische Regisseur Pietro Marcello in seinem Filmdebüt in einer ebenso dichten wie frei assoziierenden Collage aus inszenierten Szenen, Dokumentaraufnahmen, gefundenen Bildern und einer Tonspur, die das alles auf mehreren Ebenen vereint und verbindet, zu einem ebenso fragmentarischen wie undurchdringlichen Bilderteppich verwebt, der vom ersten Moment an einen rätselhaften Sog erzeugt.

    Und ganz allmählich nimmt auch die Geschichte Gestalt an. Sie erzählt von Enzo und Mary Monaco. Beide haben sich im Gefängnis kennengelernt. Enzo ist ein finsterer Krimineller, ein Sizilianer mit Schnauzbart und einem Herz aus Gold, der nur bei dem Disney-Film "Bambi" geweint hat. Mary ist eine ehemals heroinsüchtige Transsexuelle. Ihre Liebesgeschichte, die im Knast begonnen hat, dauert immer noch an. Zehn Jahre hat Mary auf ihn gewartet; in der langen Zeit ihrer Trennung haben sie sich gegenseitig Kassetten besprochen und zugeschickt. Mit Enzo taucht man in die Welt der heruntergekommenen Quartiere und dunklen Bars ein, in denen gestritten, getrunken und getanzt wird.

    Immer wieder entfernt sich der Film von seinen Protagonisten, streift umher in den Bildern des aktuellen wie des vergangenen Genuas. Denn die nordwestitalienische Hafenstadt ist die dritte und vielleicht die eigentliche Hauptfigur des Films: Archivaufnahmen zeigen eine ehemals florierende Stadt, erzählen von der Arbeit in den Schiffswerften, von vergangenem Badevergnügen, aber auch von den Sprengungen der Fabriken, vom Niedergang und dem Verschwinden. Vor allem in Genuas Hafenviertel begegnet man einer fast schon untergegangen Welt.

    Von der erzählt der Film mit dokumentarischer Präzision und viel Liebe zum Detail. Pietro Marcello beschwört die Schönheit des Abseitigen, des Maroden und des Verfalls - eine melancholische Stimmung hängt über dem Film, doch er flüchtet nie in Nostalgie; denn auch in der Realität des heutigen Genua mit seinen sozialen Randgruppen entdeckt Marcello eine eigentümliche Zärtlichkeit und Magie.

    "La bocca del lupo" erinnert an die Größten des Kinos, an Filmessays von Alexander Kluge und Chris Marker und das Kino von Pier Paolo Pasolini. Ähnlich wie bei den Filmen des Neorealisten stehen auch hier Charaktere vom Rande der Gesellschaft im Zentrum.

    Der Film von Pietro Marcello hat viele Preise auf der ganzen Welt gewonnen, darunter den "Caligari Filmpreis" auf der Berlinale.

    Die Bilder werden von einer hypnotischen Musik aufgeladen, verlieren ihren dokumentarischen Charakter, gewinnen ein Eigenleben. So gelingt Marcello eine Reflexion über die verlorene Zeit, eine Liebeserklärung an eine beinahe untergegangene Stadt, eine verstörend schöne Elegie auf das Vergessen.

    Der italienische Filmemacher weiß um alle Fallen des Dokumentarischen, weiß, dass es das Authentische in Reinform nicht gibt, weiß um die Voyeurismusfallen.

    Am Ende kehrt der Film zu seinem Ursprung zurück: das Schiff, der Hafen. Es ist der Ort, der Schiffbrüchige an Land spült.