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Baruchello-Retrospektive
Spielformen einer Anti-Kunst

"Certain Ideas" zeigt eine Retrospektive auf den italienischen Multimediakünstler Gianfranco Baruchello in der Sammlung Falckenberg. Die Arbeiten sind als großes, zusammenhängendes Lebenswerk hierzulande nur Wenigen bekannt. Man sieht Malereien, Fotografien, skulpturale Interventionen.

Von Carsten Probst | 13.06.2014
    Der italienische Künstler Gianfranco Baruchello (M) spricht am 12.06.2014 in seiner Ausstellung in der Sammlung Falckenberg der Deichtorhallen in Hamburg vor Mitarbeitern des Hauses, rechts neben ihm der Intendant der Deichtorhallen Dirk Luckow. Die Schau "Gianfranco Baruchello - Certain Ideas. Retrospektive" ist vom 14. Juni bis zum 28. September in der Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg zu sehen. Foto: Daniel Reinhardt
    Der italienische Künstler Gianfranco Baruchello (M) spricht in seiner Ausstellung in der Sammlung Falckenberg der Deichtorhallen in Hamburg vor Mitarbeitern des Hauses, rechts neben ihm der Intendant der Deichtorhallen Dirk Luckow. (picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Gianfranco Baruchellos Werk stammt so sichtbar aus einer anderen Zeit - dennoch ist es aktuell. Die große Retrospektive in der Sammlung Falckenberg ist verdienstvoll, denn obwohl Baruchello schon mehrfach auf der Biennale von Venedig und auch auf der documenta vertreten war - zuletzt vor zwei Jahren -, ist es hierzulande doch nur Wenigen bekannt, schon gar nicht als großes, zusammenhängendes Lebenswerk. Freilich ist es auch nicht gerade leicht auszustellen. Zwar hat Baruchello in vielen traditionellen Bildmedien gearbeitet, die sich vermeintlich leicht zu einer Ausstellung "hängen" lassen: Man sieht Malereien, Fotografien, skulpturale Interventionen, auch klassische Ready Mades. Aber je weiter man Etage für Etage in der Sammlung von Harald Falckenberg in einer ehemaligen Reifenfabrik in Hamburgs Süden erklimmt, desto mehr verstärkt sich der Eindruck, dass Baruchellos Werk so eng verschmolzen ist mit seinem Leben, dass es sich abgelöst davon kaum zeigen lässt.
    Baruchellos Werk ist eng mit seinem Leben verschmolzen
    Es beginnt Ende der Fünfzigerjahre, als Baruchello, damals 35 Jahre alt, beschließt, mit seiner Familie, vor allem mit seinem Vater zu brechen, der im faschistischen Italien als Unternehmer reüssiert hatte. Gianfranco ließ seine bisherigen Berufe als Jurist und Naturwissenschaftler hinter sich, beschloss Künstler zu werden und ging nach New York, wo er mit dem inzwischen gealterten, aber doch einflussreichen Marcel Duchamp einen wichtigen Mentor fand. Bezugnahmen auf Duchamps Werk tauchen immer wieder bei Baruchello auf, ebenso ist Baruchello in den sechziger Jahren natürlich nicht der Einzige, der den kommerziellen Kunstbetrieb rundheraus ablehnt.
    Spielformen einer Anti-Kunst
    Er probiert sich durch alle möglichen Spielformen einer Anti-Kunst. Mit seinem Landsmann Piero Manzoni verbindet ihn das umfangreiche Erbe der klassischen Moderne, vor allem des Dadaismus und Surrealismus, mit Gustav Metzger der politische Aktivismus; er schätzt Duchamps künstlerische Radikalität, aber Baruchello weiß so gut wie Duchamp selbst, dass Radikalität sich nicht beliebig künstlerisch reproduzieren lässt, dass es keinen Sinn macht, provozierende Gesten, Pinkelbecken und Flaschenständer als Ausstellungsstücke immer nur zu wiederholen.
    Er sucht sich einen eigenen Weg. Er führt Baruchello von der fast leeren Leinwand hin zu ihrer Benutzung als Organisationsschema für seltsame Sprach-, Denk- und Bildsysteme. Sie sehen irgendwie aus wie naturwissenschaftliche Klassifikationen, Organigramme, historische Landkarten, sind mit Begriffen und Bildern gefüllt, die mit Linien und Pfeilen verbunden sind wie Mind Maps. Hinzu kommen Buchobjekte, später Künstlerbücher, Filme und Collagen, die nach Zufallsprinzip Bilder aus den Medien oder Alltagsgegenstände miteinander kombinieren. Er macht Performances, schreibt Gedichte und widmet sich seit den Siebzigerjahren ausgiebig dem Landbau. Er gründet - in spätem ironischem Anklang an die Geschichte seines Vaters, ein Unternehmen, das nichts weniger als "Alles" verkauft und mit den Tausch- und Wertermittlungsprozess der freien Wirtschaft erforschen möchte.
    Fließende Prozesse der Alltagsproduktion
    Ab hier bettet sich das Werk Baruchellos so sehr in fließende Prozesse der Alltagsproduktion ein, dass die Ausstellungsteile nurmehr symbolischen Charakter haben können. Eine kleine, imitierte Gartenanlage, selbst gemachte Naturfilme, Vogelstimmen, Fotografien, Dokumentationen. Baruchellos Stiftung in Rom könnte, man ahnt es hier, ohne Weiteres ein Museum in eine eigene Baruchello-Welt verwandeln, wenn man sie ließe. Die Sammlung Falckenberg hat sie nicht ganz gelassen, sondern der Musealität, der Ordnung der Dinge Vorrang gelassen. Aber gerade in der behutsamen Entgrenzung der Kunst, für die Baruchellos Werk steht, besteht auch seine aktuelle Faszination. Es ist stiller, poetischer als das vieler seiner Zeitgenossen, aber gerade dadurch vielleicht besonders radikal und einflussreich.