Immer wieder führten wir Kriege, um unseren Rachedurst zu stillen und Heldentaten zu vollbringen. Bei diesen Kriegszügen wurde geplündert und gebrandschatzt. Die Leute in den Bergen ... dürsteten nach dem Ruhm der Väter und starben nach alter Überlieferung auf dem Schlachtfeld.
Schauplatz Montenegro. Da wird im autobiografischen Rückblick eines montenegrinischen Intellektuellen eine Welt geschildert, wie sie uns hierzulande kaum fremder und dubioser sein könnte: eine Welt anachronistischer Mythen und kriegslüsterner Machos.
Nebojsa Bato Tomasevics Autobiografie ist auch ein authentisches Porträt dieses kleinen, unwirtlichen, von zerklüfteten Bergen durchzogenen Landes, dessen Menschen diese raue Natur in ihrer Mentalität widerspiegeln. Montenegro, das in dieser Chronik im Lebensmittelpunkt steht, das aber nie ohne seine Nachbarn, vor allem die Albaner im Kosovo, ohne seine Feinde, ohne die fremden Besatzungsmächte, ohne Serbien, genannt werden kann, denn an ihnen allen hat sich dieses Montenegro die längste Zeit seiner staatlichen Existenz gerieben. Der Ex-Diplomat, Verleger und einflussreiche Journalist Bato Tomasevic schlägt den zeitlichen Bogen seiner Autobiografie bis in die jüngste Vergangenheit. Erste Erinnerungen gehen zurück auf Erzählungen vom Ende des 19. Jahrhunderts, als der Großvater noch gegen die Türken in den Krieg zog, und auf die Zeit, als die Familie in Montenegro dem Aufruf aus Belgrad zur "Wiedereroberung des Kosovo" folgte und als Kolonisten in den Kosovo übersiedelte.
Die Ankunft der montenegrinischen Bergbewohner mit ihren militärischen Traditionen im Kosovo war von Gewehrschüssen begleitet, nicht selten von Massakern an albanischen Einwohnern. Zur Zeit meiner Geburt, im Jahre 1929, lebten schon 23 erwachsene Mitglieder der Familien Tomasevic und Rajkovic im Kosovo. Das bedeutete 23 Gewehre und dreimal so viele Pistolen. ... Sogar die Frauen schossen beidhändig.
Entsprechend vergiftet ist das soziale und politische Klima, in dem Bato Tomasevic aufwächst und das seine Familie, namentlich den Vater, ein angesehener, auf Ausgleich unter den verfeindeten Albanern, Serben und Montenegrinern bedachter Polizeichef, ständig herausfordert. Zunächst im Kosovo, später, nach der Strafversetzung des Vaters, in Montenegro. Dort eskaliert diese Herausforderung mit dem Zusammenbruch des Königreichs Jugoslawien und der Kapitulation seiner Generäle vor Hitler. Krieg und Fremdherrschaft überziehen das Land und lassen den kommunistischen Widerstand an Boden gewinnen, der schließlich den Sieg davon trägt und die Weichen für eine neue Ära stellt. Bato Tomasevic hat noch als Schuljunge den Partisanen zugearbeitet.
Ich erlebte es als ein unbeschreibliches Glück, nach all den Leiden und Ängsten, den Opfern und den Gefahren, als Sieger heimzukehren, auf der Seite derer zu stehen, die von der ganzen Welt bejubelt werden, weil sie als einzige im besetzten Europa erfolgreich gegen Faschismus und Fremdherrschaft Widerstand geleistet hatten. Ich ging wie auf Wolken, ich war völlig aus dem Häuschen bei dem Gedanken, dass ich es Großvater Filip, Vater und Bruder Dusko gleichgetan hatte, dass auch ich meinen Beitrag zum Ruhm und zur Ehre meiner Familie geleistet hatte.
Spätestens an diesem historischen Wendepunkt, der auch die tradierte königstreue Wertewelt der Familie Tomasevic auf den Kopf bzw. unter den Roten Stern stellt, liest sich die Familiengeschichte von Bato Tomasevic wie ein Soziogramm bzw. ein Psychogramm seines Volkes. Von Episode zu Episode erschließen sich dem Leser neue Details, wie sie kein herkömmliches Geschichtsbuch aufzeigen kann: erst aus der Innenwelt der Menschen, die mehr oder weniger begeistert zu Partisanen werden, dann über die Kader im Dienste des Aufbaues einer neuen Gesellschaft, denen alsbald der Schneid genommen wird. Schließlich die Ernüchterung während des jahrelangen Ringens um den rechten, den so genannten "dritten" Weg des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus, das sogar manchen Genossen das Leben gekostet, vielen das Rückgrat gebrochen, den meisten aber wohl endgültig die Basis geraubt hat, an diesen Staat zu glauben und sich dafür einzusetzen. Ganz zu schweigen von dem, was seit gut einem Jahrzehnt darauf folgte. Tomasevic zeigt, wie tief er seiner montenegrinischen Tradition mental noch verhaftet ist, wenn er diese Entwicklung so nachempfindet:
Zum ersten Mal im Leben hatte ich keine Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft, keinen Platz, keine Rolle, wie ein Soldat, der nach dem Militärdienst demobilisiert wird. Es kam mir in den Sinn, dass ich der letzte Soldat aus einer langen Ahnenreihe war, die sich über viele Generationen erstreckte. Sie alle hatten dieses Land verteidigt, es leidenschaftlich geliebt und ihm treu gedient. Gleichzeitig war ich unendlich traurig über alles, was geschehen war und weiterhin geschehen würde. Es war das bittere Erwachen aus einem großen Traum: dass Menschen vieler unterschiedlicher Nationalitäten und Glaubensrichtungen in Frieden und Harmonie zusammenleben können.
Tomasevic ist ein spätes Opfer dieses zerschlagenen Traumes. Bei Ausbruch des Krieges gegen Kroatien setzt er sich Hals über Kopf ins Ausland zur Familie seiner Frau nach England ab. Als politisch verfemter Intendant des neuen multiethnischen Bundes-TV-Senders Yutel und bekennender Verfechter der jugoslawischen Option ist er zwischen alle Fronten geraten und muss seine Verhaftung auf Geheiß der nationalistischen Belgrader Führung fürchten. Ein Blick auf die politische Kulissenschieberei bei der hausgemachten Abwicklung der jugoslawischen Föderation rundet das Buch ab. Es endet mit Tomasevics neuerlicher Flucht aus Belgrad in der Nacht vor dem ersten NATO-Angriff auf die jugoslawische Hauptstadt. Unter dem Strich ist es - nachdem kapitelweise viel Blut fürs Vaterland geflossen, gefoltert, verraten und geflohen wurde - das deprimierende Protokoll der systematischen Vergeudung loyal zum multinationalen Jugoslawien stehender menschlicher Ressourcen durch skrupellos machtfixierte Politikercliquen.
Ursula Rütten über Bato Tomasevic, "Montenegro. Eine Familiensaga im Jahrhundert der Konflikte". Der Band umfasst 410 Seiten, kostet DM 49, 80 und ist erschienen im Frankfurter Campus Verlag.