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Bauboom in der Ukraine

Hunderttausende Ukrainer machten in den Jahren 2000 bis 2003 von der erleichterten Visumvergabe der deutschen Botschaft in Kiew Gebrauch. Die Antragsteller waren keine Schwerkriminellen, sondern vielfach Schwarzarbeiter. Mit dem im Westen verdienten Geld bauten sie sich Häuser in der Heimat.

Von Florian Kellermann |
    Die Gegend um den Provinz-Flughafen der ukrainischen Kleinstadt Schytomyr bietet einen bizarren Anblick: Auf einem sumpfigen Gelände, ohne geteerte Zufahrtsstraßen, wachsen zwei- bis dreistöckige Einfamilienhäuser – für ukrainische Verhältnisse Paläste. Hunde bellen hinter vier Meter hohen Mauern, die Bewohner lugen nur ängstlich hinter den neuen Kunststofffenstern hervor. Woher das Geld für die Neubauten kommt, will keiner verraten.

    Der Taxifahrer Anatolij Busko hat viele Kunden in dieser Gegend. Er kann sich den merkwürdigen Bau-Boom erklären:

    "Vor vier Jahren war das hier noch Brachland. Und dann schossen diese Häuser wie Pilze aus dem Boden. Die Leute hatten die Erlaubnis bekommen, im Westen zu arbeiten. Visa sind ausgestellt worden. Um mit dem dort verdienten Geld bauen sie jetzt hier in Schytomyr. Sehen Sie: Mit einem ukrainischen Lohn kann man sich ein solches Haus nie und nimmer leisten. Manche haben ja sogar drei Stockwerke!"

    Einen solchen Bauboom gibt es nicht nur in Schytomyr. In fast allen westukrainischen Städten steigen die Immobilienpreise deshalb seit einigen Jahren. Makler gehen davon aus, dass ein Großteil des neuen Kapitals von Gastarbeitern in die Ukraine gebracht wurde. Verschiedenen Schätzungen zufolge arbeiten fünf bis sieben Millionen Ukrainer jährlich für einige Monate im Ausland.

    Im Zentrum von Schytomyr herrscht die typische Tristesse ukrainischer Provinzstädte. Alte Straßenbahnen, die Straßen voller Schlaglöcher, graue Einheits-Wohnhäuser erbaut zu Zeiten Chruschtschows und Breschnjews. Doch auch hier zeigt sich der neue Wohlstand: Beinahe an jeder Ecke blinkt das Logo eines Elektromarktes. Im Zentrum von Schytomyr ist es einfacher, einen DVD-Player zu kaufen als eine Mütze.

    Doch die Arbeitsemigration hat auch ihre Schattenseiten. Von ihnen berichtet Olga Jurtschenko, die Leiterin des kommunalen Zentrums für Familien- und Kinderhilfe:

    "Sehr viele Eltern, die im Ausland arbeiten, lassen ihre Kinder zurück – meistens bei den Großeltern, aber in den schlimmeren Fällen auch alleine. Da ist dann eine 16-jährige plötzlich für ihren kleinen Bruder verantwortlich. Solche Kinder müssen von einem Tag auf den anderen mit Problemen des Erwachsenen-Lebens fertig werden. Viele schaffen das nicht – und landen nicht selten in der Drogen-Szene."

    Das Zentrum für Familien- und Kinderhilfe wurde erst vor wenigen Wochen gegründet. Mit seinen insgesamt 12 Mitarbeitern – darunter auch eine Psychologin und ein Anwalt – will es den zurückgelassenen Kinder in Zukunft unter die Arme greifen.

    Auf dem Markt im Zentrum von Schytomyr gibt es nicht nur Gemüse, sondern auch Haushaltswaren und Kleidung. An jedem dritten Stand hängt ein Schild mit dem Währungs-Symbol für Dollar und Euro. Ja, bei ihm könne man auch tauschen, sagt der junge Mann, der hier Jacken aus türkischer Produktion anbietet. Seinen Namen will er nicht verraten, denn natürlich ist sein Geschäft mit dem Geldwechseln illegal:

    "Die meisten Leute mit Euro kommen nach dem Sommer, wenn sie im Westen bei der Obst- und Gemüseernte geholfen haben. Man gehört gleich, dass sie das Geld in der EU verdient haben. Sie sagen nämlich nicht "Jewro", wie das bei uns heißt, sondern "Euro". Viele von meinen Bekannten waren schon im Ausland. Und ich sag’s Ihnen ehrlich: Auch ich würde fahren, wenn ich ein gutes Angebot bekäme."

    Wer sich auf dem Markt umhört, der erfährt: In fast jeder Familie gibt es jemanden, der zeitweise im Ausland arbeitet. Aber es zieht bei weitem nicht alle weg. Die 28-jährige Ira Schmid zum Beispiel könnte sogar nach Deutschland auswandern. Ihr Vater Waldemar war deutscher Abstammung. Aber das Beispiel ihrer Schwester schreckt sie ab. Die lebt in München von der Sozialhilfe:

    "Sie ist Architektin und hat hier in Schytomyr sogar einige Gebäude entworfen. Natürlich will sie auch in Deutschland in ihrem Beruf arbeiten und nicht Teller waschen. Aber sie findet keine Arbeit. Zurück kann sie natürlich auch nicht, denn dann würden ja alle mit dem Finger auf sie zeigen. Ich glaube, mit meinen 60 Euro Verdienst im Monat bin ich trotzdem glücklicher als meine Schwester. Und irgendwann muss es ja auch in der Ukraine aufwärts gehen."