Nein. Wenn man an einem Roman arbeitet, trifft man niemals rationale Entscheidungen. Ich setze mich nicht an meinen Schreibtisch und sage mir, jetzt brauche ich jemandem, dem Baudolino seine Geschichte erzählen kann. Niketa habe ich mir ausgesucht, weil ein Teil des Romans in Konstantinopel spielen sollte. Warum? Weil ich dort noch nie war und Lust hatte, mich mit Konstantinopel zu beschäftigen. Ich habe also eine Reise nach Istanbul unternommen und mich bemüht, diese Stadt zu begreifen. Als Schauplatz wäre Konstantinopel überhaupt nicht notwendig gewesen, es hätte sich alles ebenso gut in Deutschland und Norditalien und in dem Reich des Priesters zutragen können. Aber es gefiel mir, einen Teil dort anzusiedeln, und zwar während der Brandschatzungen der Kreuzfahrer. Ich habe die Chronik von Niketa gelesen, der diese Zeit sehr gut erzählt - ein Teil meiner Beschreibungen Konstantinopels stammt tatsächlich von ihm -, und damit hatte ich plötzlich diesen ehrbaren Herrn zur Hand, der als Gesprächspartner meines Helden dienen konnte. Niketa hilft mir, den Leser fortwährend an Baudolino zweifeln zu lassen. Wenn nur Baudolino in erster Person oder wenn ich als allwissender Erzähler die Geschichte darböte, müsste der Leser sie für bare Münze nehmen. Da ich sie als einen Dialog inszeniere, ist der Leser gezwungen, immer wieder an der Wahrheit zu zweifeln, und genau darauf kommt es mir an. Allerdings bestimmen zufällige Entscheidungen die erzählerische Konstruktion eines Buches ganz ungemein. Ich wollte, dass sich Baudolino 1204 in Konstantinopel aufhielte, zum Zeitpunkt der Gründung Alessandrias sollte er ein Erwachsener sein, also musste er in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts geboren werden. Was sollte ich mit dieser ganzen Zeit anfangen, zwischen Geburt und der Abfassung des Briefes des Priesterkönigs, dessen Entstehung man mehr oder weniger genau datieren kann? Ich habe mir also lauter Abenteuer ausgedacht, die sich in der Zwischenzeit abspielen, ich musste ihn seine Reise immer wieder aufschieben lassen. Das wurde dann sogar der wichtigste Teil des Romans. Denn wenn er den Brief des Priesters geschrieben hätte und am nächsten Tag abgereist wäre, gäbe es diese Sehnsucht nicht mehr. Ich finde es sehr schön, dass er den Aufbruch jahrzehntelang immer wieder aufschiebt und in dieser Erwartung verharrt, das ist vermutlich ein interessanter Aspekt meines Romans, aber es geschah aus praktischen Gründen. Ich musste irgendwie 50 Jahre füllen und wusste nicht wie.
Der Antrieb für die Reise entsteht aber aus dieser Sehnsucht heraus. Es ist gar nicht mehr der Brief selbst, sondern das, was er auslöst, was er in den Köpfen der Menschen freisetzt.
Aufschub und Verzögerung sind wichtige Elemente, denn der Wert einer Utopie besteht genau darin, dass sie niemals verwirklicht wird. Wenn Utopien wahr werden, ist es meistens eine Tragödie. Wenn Sie zum Beispiel Utopia von Thomas More nehmen, der Jahrhunderte lang den Traum einer perfekten Republik gespeist hat, und dann analysieren, wie diese Stadt tatsächlich funktionieren sollte, ist das schlimmer als der Stalinismus. Zum Glück wurde sie niemals realisiert! Aber More hat damit lauter messianische Erwartungen, die Hoffnung auf eine bessere Welt provoziert, bis hin zu Marx und anderen. Die kommunistische Utopie ist Wirklichkeit geworden und hat eine ganze Reihe peinlicher Situationen geschaffen.
Etwas zu erfinden - wie diesen Brief des Priesters, in dem von einem wundersamen Reich die Rede ist-, sich etwas auszudenken, scheint aber für Baudolino auch eine Art Vorbereitung auf das zu sein, was er dann wirklich erlebt, also der Versuch, sich Dinge vorzustellen, die es gar nicht gibt.
Ich bin überzeugt davon, dass alle Entdeckungen, auch die wissenschaftlichen, am Anfang nichts anderes als großartige Erzählungen sind. Was nicht bedeutet, wie manche vermuten mögen, dass wissenschaftliche Entdeckungen, auch wenn es zunächst nur Geschichten sind, automatisch falsch sind, im Gegenteil. Ein Arzt, der Penizillin oder einen Impfstoff gegen Krebs erfindet, Einstein, der sich vorstellt, was Relativität sein könnte - zunächst sind es Geschichten über eine mögliche Welt. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es dann, Schritt für Schritt diese Erzählungen zu verifizieren, herauszufinden, ob sie wahr oder falsch sind. Denken Sie an Kopernikus, der sich wie in einer Geschichte unser Sonnensystem mit der Sonne im Mittelpunkt vorstellte. Wenn diese ästhetischen Prinzipien, nach denen unser Universum funktionieren könnte, stimmen sollten, müsste die Welt folglich eine ganz bestimmte Erscheinungsform haben. Die Astronomen nehmen dann das Fernrohr zu Hand, aber am Anfang steht eine wunderbare Geschichte.
Die Haupthandlung und die Rahmenhandlung von "Baudolino" spielen in Zeiten politischer Instabilität, das mittelalterliche Italien ist von Kriegen der Städte untereinander zerrüttet, in Konstantinopel ist das Machtgefüge ins Wanken geraten. Was hat es mit dieser Parallelisierung der Krisenzeiten auf sich?
Welche Zeit ist nicht durch politische Unruhen geprägt? Mich hat bei der Vorbereitung für diesen Roman vor allem eine Sache umgetrieben. Wie immer bei einem historischen Roman musste ich natürlich ein großes Lektürepensum bewältigen. In Italien lernt man in der Schule, dass es im 12. Jahrhundert auf der einen Seite die Städte und Reiche gab, die für ihre Unabhängigkeit und Freiheit kämpften, und auf der anderen Seite den bösen Friedrich Barbarossa. Für mich war es sehr schön zu entdecken, dass Barbarossa eigentlich ein netter Typ ist, ich habe ihn, glaube ich, als einen sympathischen Menschen dargestellt, und er ist mir während der Arbeit ans Herz gewachsen. Außerdem fand ich heraus, dass die italienischen Städte keineswegs nur gegen Barbarossa gekämpft haben, sondern vor allem gegeneinander. Sie benutzten Barbarossa, um sich gegenseitig eins auszuwischen. Diese Sichtweise der Geschichte, die für Historiker überhaupt nicht neu sein mag, war für mich eine Entdeckung. Auch gerade in Bezug auf die aktuelle Rhetorik hier in Italien mit der Lombardischen Liga war das wichtig. Es gibt diesen Mythos der Lombardischen Liga, und nun kam ans Licht, dass diese Liga in Wirklichkeit völlig instabil war, eine eher zwiespältige Angelegenheit, es wird alles verzerrt dargestellt, denn die Mailänder hatten vor allem einen Wunsch: die Leute aus Lodi zu vernichten, und umgekehrt war es genauso. Sie brauchten den Kaiser sogar. Steuern wollten sie ihm nicht zahlen, aber sie wollten ihn auch nicht vernichten, denn er bot ihnen das Gegenbild eines Staates. Mir ging es darum, diese Legende zu zerstören, die Rhetorik der Schulbücher zu zersetzen und die Wahrheit aufzuspüren.
Auf der Reise in das Reich des Priester Johannes kommen Baudolino und seine Freunde schließlich nach Pndapezin, wo der Diakon Johannes herrscht und lauter bizarre Gestalten leben. Einäugige, Giganten, Pygmäen, außerdem Skiapoden, die Einfüßler und Panothier, Wesen mit riesigen Ohren. Statt sich gegen ihre Feinde zu verteidigen, metzeln sie sich eines Tages gegenseitig nieder. Um das Fremde ertragen zu können, ist es notwendig, das Fremde überhaupt als etwas Fremdes wahrzunehmen?
Ich fand es lustig, mir eine Welt auszudenken, die von Monstern bevölkert ist, ohne dass jemand daran Anstoß nähme. Die Bewohner bemerken die physischen Unterschiede überhaupt nicht, aber sie bringen sich dann aufgrund theologischer Differenzen um. Es gab mir die Möglichkeit, zu einer Angelegenheit Stellung zu nehmen, die sich genauso dauernd zuträgt. Intoleranz äußert sich nicht nur in Form von physischem Rassismus, sondern in Fundamentalismus, es gibt eben auch einen ideologischen Rassismus. Es gefiel mir, einen paradoxen Ort zu erfinden, an dem es völlig egal ist, ob jemand zwei oder drei Beine hat, aber wo es grundlegend ist, ob Jesus Christus der eingeborene Sohn Gottes ist oder nicht. Dahinter verbirgt sich auch eine historische Wahrheit, denn in den ersten Jahrhunderten des Christentums tötete man sich wegen solcher Fragen, nicht etwa, weil die einen schwarz und die anderen weiß waren.
Eine besondere Rolle spielen in Ihrem Roman die Gegenstände. Die alte Holztrinkschale seines leiblichen Vaters deklariert Baudolino eines Tages als den " Gradal", den heiligen Gral, er wird dann geraubt, verschwindet, kostet Menschenleben. Später fabrizieren Baudolino und seine Helden sogar selbst Objekte, sie stellen Reliquien her, um Geld zu verdienen, vor allem aber gewinnen die Legenden, die sich um diese Gegenstände herausbilden, an Bedeutung.
Es gibt in meinem Roman ja zwei Kategorien von Objekten. Das eine sind die Reliquien. Wir wissen, dass dieselben Reliquien sich an 10.000 verschiedenen Orten befinden, und in der Tat beeinflussen Reliquien den Gang der Geschichte nicht sonderlich. Die andere Gruppe sind Objekte wie der Graal, und der bis in unsere Zeit hinein ein Mythos ist, über den Bücher verfasst werden, und zwar genau aus dem Grund, weil er eben nicht existiert. Reliquien sind etwas wert, weil sie ein paar Gläubige anziehen, aber das ist es dann auch. Der Graal, den es nicht gibt, bewegt wie alle Utopien die Geschichte. Deshalb muss er am Ende des Romans auch wieder verschwinden. Eine meiner Figuren äußert sich dazu, das Problem ist nämlich nicht, ihn zu finden, das Problem ist, von ihm zu erzählen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die beiden in die Welt ziehen, um von dem Graal zu erzählen, die erfahren haben, dass er eigentlich nichts wert ist.
Der Priesterbrief hat ja eine ähnliche Wirkung, wichtiger als das Dokument selbst sind all die Legenden. In ihrem Roman "Das Foucaultsche Pendel" wird der immerwährende Deutungsprozess, die unendliche Semiose, plötzlich gefährlich....
Auch da gefiel mir der Gedanke, dass dieser Brief des Priesterkönigs in einer Kneipe entsteht. Dass das, was ein Jahrhundert in Aufruhr bringt, eigentlich ein Kneipenscherz war, von Leuten, die den Bedienungen auf den Hintern hauen und sich betrinken. Es ist übrigens historisch nicht völlig unmöglich. Sie wissen, dass das berühmte Schriftstück der Konstantinischen Schenkung, das von Lorenzo Valla schließlich als Fälschung identifiziert wurde, nicht mit der Absicht entstand, eine Fälschung herzustellen, sondern eine historische Übung war, das studentische Spiel eines Mönches, so wie jemand einen Science Fiction-Roman schreibt, wie eine literarische Übung, die plötzlich ernst genommen wird. So wie der Brief des Priesters, so wie die Schriftstücke der Rosenkreuzer, beides hat die Welt bewegt, und das Schönste ist, dass es ursprünglich ein ludibrium war, ein Spiel. Im Foucaultschen Pendel habe ich von den Schriftstücken der Rosenkreuzer erzählt. Als Johann Valetnin Andrea gesagt wird, du warst der Verfasser der Schriftstücke, leugnet er es erst, dann sagt er, ja, vielleicht, es war ein Ludibrium, ein Spiel, nehmt es nicht ernst. Aber im Unterschied zu den Diabolikern des Foucaultschen Pendels steht Baudolino mit beiden Beinen auf der Erde. Er trinkt, er vögelt, er läuft niemals Gefahr, sich in allzu unsichere Gefilde zu begeben, es gibt immer einen Rest an Wirklichkeit, der ihn bremst. Er ist kein Verrückter, wie die aus dem Pendel, seine Lügen wollen nichts Böses provozieren, sie haben immer einen guten Zweck.
Als Professor für Semiotik beschäftigen Sie sich seit den 60er Jahren mit Zeichenprozessen, und sie haben auch immer Alltagsphänomene erforscht, von Bestsellern bis hin zu Fernsehsendungen. Wohin kann sich die Semiotik im neuen Jahrtausend entwickeln?
Ich denke, für die Semiotik, die in enger Verbindung mit der Linguistik in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstand, gibt es heute vor allem zwei Wege, die möglicherweise sehr verschieden voneinander sind. Auf der einen Seite kommt neuerdings wieder das Gehirn ins Spiel, über das man lange Zeit nicht reden konnte und wollte. Es entsteht also eine Verknüpfung zwischen den kognitiven Wissenschaften, der Hirnforschung und der Frage nach der Sprache. Das ist nach meinem Eindruck eine der Richtungen. Die andere ist die angewandte Semiotik. Die angewandte Semiotik, die Phänomene des Alltagslebens untersucht, ist allerdings in der Krise, weil inzwischen einfach alles semiotisiert wird. Als Roland Barthes den Citroën oder das Catchen analysierte, gab es Bereiche des Lebens, die inszeniert wurden und Bereiche, die nicht inszeniert wurden. Eine Krebserkrankung wurde nicht inszeniert. Heute ist das anders, heute geht der Kranke ins Fernsehen und der Wissenschaftler, der ein Medikament entdeckt, ist sofort eine Figur der Massenmedien. Angesichts dieser umfassenden Hypersemiotisierung stellt sich die Frage, wie man etwas semiotisch analysieren kann, ohne selbst eine Figur der ganzen Angelegenheit zu werden. Geht es noch so, wie Barthes und ich unsere Analysen anlegten? Also, man schließt sich in ein Zimmer ein, schaltet den Fernseher aus und denkt darüber nach, was man im Fernsehen gesehen hat. Heute wird auch das, was sich in dem Zimmer abspielt, Teil der Inszenierung, Stichwort big brother. Man muss abwarten, wie sich das entwickelt.
Wie sieht in einer von Massenmedien infiltierten Welt die Position der Universität aus, und wie sehen Sie Ihre Rolle im Italien Berlusconis?
Die Universität war immer ein autonomer Bereich. Nicht einmal der Faschismus hat sie zum Verstummen gebracht, glücklicherweise. Der Vorteil der Forschung ist einfach der, dass man die Probleme, die in den Medien diskutiert werden, schon zwanzig Jahre früher angeht. Wenn die Universitäten es schaffen, Fragen aufzuwerfen, die in den Medien noch nicht verhandelt wurden, dann werden sie ihre Funktion behalten, wenn sie ihnen nur hinterher hechten, werden sie sie verlieren.
Ich diskutierte mit einem Kollegen über das Problem, dass in vielen Fachbereichen der Kommunikationswissenschaften für Fernseh-Seminare große Persönlichkeiten des Fernsehens engagiert werden, z.B. Maurizio Costanzo. Das sind sehr gute Leute, sie kennen die Funktionsweise von innen heraus. Aber wenn man das Fernsehen begreifen will, dann reicht es nicht, über die inneren Mechanismen Bescheid zu wissen, man muss aus der Distanz heraus das analysieren können, was auf dem Bildschirm passiert. Mein Motto lautet, auf den Kardiologen-Kongressen dürfen keine Herzkranken zu Wort kommen. Die Herzkranken gehören auf den Operationstisch, sie müssen untersucht werden. Es könnte dann ein Psychologie-Seminar geben, in dem man einem Herzkranken zuhört, um etwas über das Leben eines Herzkranken in Erfahrung zu bringen, aber das ist eine andere Geschichte. Die Chance der Universität ist eben gerade die, das Objekt seiner Untersuchung aus der Distanz zu betrachten. Wenn sich die Forschungswelt diesen Abstand erhalten kann, wird sie dieser Konfusion der totalen Hyper-Inszenierung die Stirn bieten können, wenn nicht, na ja dann wird sie scheitern.