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Baudrillard hören und wiederlesen

Jean Baudrillards Philosophie erlebte den Höhepunkt ihrer Popularität, als viele andere Pariser Intellektuelle auf dem deutschen Buchmarkt Einzug hielten. Das war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Es war eine "vague française", die über die deutschen Universitäten hinwegschwappte.

Von Klaus Englert | 25.04.2007
    Baudrillard, anfangs ein überzeugter Marxist, gehörte zwar nicht zu den großen Theoretikern wie etwa Michel Foucault. Mit Ausnahme seiner frühen Werke, "Das System der Dinge" (1968) und "Der symbolische Austausch und der Tod" (1976), waren es Essays, Gedankensplitter und Reiseeindrücke, die fast ausschließlich im kleinen, aber feinen Merve-Verlag erschienen, der sich auf die neuen französischen Theorieproduktionen spezialisierte. Seit den neunziger Jahren wurde Baudrillard fast ausschließlich als Medienphilosoph wahrgenommen, dennoch war er ausgebildeter Germanist und Soziologe. Baudrillard, der zuletzt den Irak-Krieg als irreale und mediale Kriegsführung deutete, starb Anfang März in Paris.

    "Im Gegensatz zur Fiktion einer weltweiten Solidarität haben die Ereignisse immer weniger Sinn für die Zuschauer und nur noch einigen für jene, die sie erleben, im Augenblick, wo sie sie erleben. Über diesen beschränkten Horizont hinaus ist die Resonanz zugleich künstlich und betäubend. Früher hatten die menschlichen Handlungen eine echte Wirkung in einem begrenzten Kreis, in einer organischen Solidarität. Das Europa des 15. oder 18. Jahrhunderts kommunizierte freier und lebendiger als das fernseherische und interagierende des 20. Jahrhunderts. (...) Die so genannte weltweite Information schließt jeden in seinen egozentrischen Kreis ein" (324-342). "Das ist die (...) Tyrannei der Information, die vielleicht heimlicher und unheimlicher ist als die der Diktatoren aus Fleisch und Blut" (597). "

    Den französischen Philosophen Jean Baudrillard kennt man gemeinhin als bissigen Medientheoretiker. Als jemanden, der die Herrschaft der virtuellen Bilder, den "Terrorismus der Information und Transparenz" geißelt. Seit "Das System der Dinge", der ersten Publikation von 1968, untersucht er, wie uns die authentischen und unverstellten Bedürfnisse zusehends fremd geworden sind. Wie wir in eine Welt des Konsums hineingeboren werden, die uns immer wieder mit Signalen und Zeichen lockt. In diesen Frühschriften verrät Baudrillard noch seine marxistische Abstammung, nämlich dann, wenn er davon spricht, wie die Konsumenten die Produktion der Waren ausblenden. In seinen späteren Publikationen kommt der Herstellungsprozess nicht mehr vor.

    Dies hat einen einfachen Grund: Baudrillard ist davon überzeugt, dass sich die Welt der Tauschwerte und Zeichen verselbständigt hat. Und dass diese neu errichtete Welt keines Widerlagers in einer materiellen oder natürlichen Ordnung bedarf. Der Pariser Philosoph schloss daraus: Vergeblich die Forderung nach Revolution, denn die menschliche Geschichte ist bereits an ihr Ende gekommen.

    In seinen letzten Büchern vor seinem Tod im März radikalisierte Baudrillard diese These, sein Pessimismus wurde geradezu beklemmend. In dem posthum veröffentlichten Band "Gesprächsflüchtlinge", einem Dialog mit dem argentinischen Philosophen Enrique Valiente Noailles, beschreibt er die Steigerungsform der Naturentfremdung: Die Welt der Signale und Zeichen abgelöst vom Kosmos des Virtuellen und Digitalen, aus dem kein Weg mehr heraus führt. Das zynische Befreiungsideal unserer Gesellschaft sieht Baudrillard in der totalen Kommunikation - einem Ideal, das in den totalen Schrecken umschlägt:

    " "Die Suche nach einer perfekten Welt, des perfekten Menschen, einer totalen Information, einer totalen Effizienz, die unsere gegenwärtige Welt heimsucht, ist völlig kriminell. (...) Diese ganze Technisierung der Welt ist ein wenig die Extrapolierung des Guten, die Realisierung des absolut Guten durch die Tilgung des Bösen (...), durch Erstickung und Beseitigung des verfemten Teils. (...) Das System ist geimpft, autoimmun, es läuft zu geschmiert und das Böse wird automatisch absorbiert" (Gesprächsflüchtlinge, S. 36, 42, 89).

    Baudrillard glaubt nicht, das Böse könne das geschlossene System nachhaltig bedrohen und die bestehende Gesellschaft umstürzen. Dennoch ist er davon überzeugt, dass die Welt der "kommunikativen Gewalt", in der alles gleich nichtig ist, da sämtliche Bilder austauschbar sind, für einen Moment außer Kraft gesetzt werden kann. Deswegen beschwört Baudrillard seit seinem Buch "Der symbolische Austausch und der Tod" von 1976 das unvorhersehbare, unverständliche und eruptive Ereignis.

    In Frankreich brandmarkte das "Figaro-Magazine" Baudrillard zum "Terroristen von Nanterre", noch bevor er die Attacke auf die New Yorker Twin Towers als terroristisches, einzigartiges Spektakel feierte. Die sinnlose Attacke, bar jeder ideologischen Alternative, begeisterte Baudrillard. Dies macht ihn blind gegenüber aufklärerischem Denken, jeder Forderung nach Gerechtigkeit und Menschenrechten, da er sie sofort wieder zu den Eigenschaften des Systems rechnet.

    Befremdlich ist seine Abrechnung mit den "französischen Intellektuellen", über die er sich lächerlich macht, weil sie "demokratische Petitionen für die Menschenrechte oder gegen den Krieg unterzeichnen" (S. 93). Im Grunde weckt aufklärerisches Denken bei Baudrillard nostalgische Gefühle. Erinnerungen an eine Zeit, die längst passé ist. Denn für kritisches Denken gibt es - davon ist Baudrillard im Dialogband "Gesprächsflüchtlinge" überzeugt - in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr:

    "Man erlebt das ganze moderne Unterfangen einer undifferenzierten Welt, der unseren, die nichts anderes kann, als jede Art von Singularität oder Unterschied auszulöschen. (...) In unserer Welt ist nur eine tote Singularität eine gute Singularität. Oder, aber das ist dasselbe, wiederauferstanden und in unser museales Universum gesperrt. Den ausgelöschten Indianern gibt man heute ein Territorium wieder, eine soziale Existenz, man gibt ihnen den Körper ihrer Vorfahren zurück, man macht sogar Casinodirektoren aus ihnen. Das ist die Operation Disneyland, die künstliche Restitution all dessen, was verschwunden ist. Alle modernen Nationen sind auf der Grundlage einer Vernichtung der lokalen Singularitäten oder ihrer folkloristischen Assimilierung entstanden und machen darin weiter" (S. 82). "

    Das Interview stammt zwar aus dem Jahr 2004, aber die folgende Äußerung kann auch als bissiger Kommentar zum gegenwärtigen französischen Präsidentschafts-Wahlkampf verstanden werden:

    " "Wenn sich die generelle Gleichwertigkeit einstellt, ist die Konfrontation zwischen der Linken und der Rechten nur mehr ein Nullsummenspiel. Anstatt ihren Aktionen eine politische Form zu geben, machen sie nichts anderes, als sich gegenseitig in einer fiktiven Abwechslung auszutauschen" (S. 88). "

    Kurz vor seinem Tod, in einer DVD-Aufnahme vom Oktober 2005, hat Jean Baudrillard nochmals diese phantasmatische Ordnungsstruktur bestätigt:

    " "Wir sind jetzt nicht mehr in der Welt der Regeln, wir sind in einer Welt der Regulation, der äußersten Regulation, aber nicht mehr des Spiels, der Spielregeln (...). Heute, das alles dereguliert wird. Äußerst dereguliert und reguliert in der Globalisierung. Und heute gibt es einen dritten Term, die Norm, die Normalität, das Normierende. (...) Aber die Norm kann auch in der Unordnung walten. (...) Das große Unternehmen in der heutigen Welt ist, alles zu normalisieren, alles unter Normen zu werfen"

    Wenn es in der Welt der Norm keine Revolutionen mehr gibt, dann aber die kleinen Brüche, die die Funktionsweise des "Systems" lahm legen. Die Diskontinuitäten, die die Welt der totalen Kommunikation plötzlich stören. Baudrillard, der als Kritiker der Konsumgesellschaft begann, nimmt gerne Beispiele aus dem Alltagsleben, um zu zeigen, was er unter Ereignis versteht. So beschreibt er einen Fernsehzuschauer, der buchstäblich in die Röhre blickt, weil plötzlich Bild und Ton unterbrochen sind. Diese technische Störung kommt für Baudrillard einem sozialen Streik gleich, der einst die Produktionsabläufe in der traditionellen Klassengesellschaft unterbrach.

    Jean Baudrillard gibt in "Gesprächsflüchtlinge" ein weiteres Beispiel für das Ereignis. Es ist die Verführung, der Gegenpol zur Sexualität. In dem erwähnten Audiostück "Die Macht der Verführung" kommt er nochmals darauf zurück:

    "Die Verführung wäre für mich nicht so sehr eine Sache des Begehrens als eine Sache des Spiels. Es ist ein großes Spiel. Und ein Spiel mit dem Begehren. (...) Es wird mit der physischen und mentalen Realität gespielt. Es muss aufs Spiel gesetzt werden. Und ‚séduction' ist eine Art und Weise, diese Identität aufs Spiel zu setzen"

    Auf dem Cover der DVD sieht man das Foto einer französischen Traumtänzerin von 1904. Es ist kein Zufall, dass Baudrillard eben kein zeitgenössisches Bild auswählte. Denn das Foto soll offenbar seine fatalistische These bestätigen, dass die Verführung keinen Platz mehr in der heutigen technisierten Gesellschaft findet:

    "In dieser Welt ist Verführung natürlich noch mehr zugrunde. Es gibt keine Möglichkeit mehr, dass Verführung, so ein subtiles Spiel (...) gar nicht mehr in diese elektronische, numerische Regulierung der Dinge kommt (...). Es wird kein Platz mehr für dieses Schweben, also für diese Kunst des Verschwindens, was in der Verführung war. Es ist keine Kunst mehr."

    Jean Baudrillard/Enrique Valiente Noailles: Gesprächsflüchtlinge, aus dem Frz. von Richard Steurer, Passagen Verlag, Wien 2007, 148 S.

    Jean Baudrillard: Die Macht der Verführung (DVD), supposé, Köln 2006.