Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Baum als Vorbild für Hochhäuser

Architektur. - Die Zeit der leichten und transparenten Glas- und Stahlkonstruktionen für Wolkenkratzer scheint sich dem Ende zu nähern. Neue Formen und Bauweisen sollen sich den Bedürfnissen der Menschen und der Natur besser anpassen - und das bei geringerem Energieverbrauch und höherer Stabilität. Ein Vorbild können Bäume sein, wie ein Bochumer Architekt in seinen Entwürfen beweist.

21.08.2002
    Von Bäumen kann man nach Ansicht des Bochumer Architekten Dieter Oligmüller in vielen Bereichen lernen: "In der Statik, in der Verschattung oder auch in der Klimatisierung von Gebäuden." Statik und Stabilität ist mit den Ereignissen des 11. Septembers verstärkt ins Blickfeld der Hochhausarchitekten gerückt. Der Baum hat im Laufe seiner Evolution eine bestechende Lösung gefunden, erklärt Oligmüller: "Die besondere Statik des Baumes ist, dass er nicht nur eine Markröhre hat, sondern auch Markstrahlen, mit denen er die einzelnen Jahresringscheiben verdübelt und so eine sehr schlanke, aber sehr stabile Konstruktion erzeugt." Das Gegenstück zur Markröhre des Baums ist in Oligmüllers Entwürfen ein Lichtschacht in der Mitte des Gebäudes mit zwei Treppen für den Notfall - eine ganz im Inneren für Helfer, die in das Gebäude müssen und eine zweite außen am Lichtschacht für die Menschen, die hinaus wollen. "Jahresringe" im Haus greifen das Baum-Konzept ebenfalls auf: Um den Lichtschacht herum ist eine Schicht mit Platz für Fahrstühle, Treppenhäuser und Versorgungsschächte. Die Außenhaut des Gebäudes bildet den letzten Ring oder die Rinde.

    Das Verdübeln nach dem Vorbild der Markstrahlen im Baum übernehmen Stahlträger, die im fertigen Gebäude in den Zimmerdecken verschwinden. Der gesamte Nutzraum zwischen der Innenröhre mit den Fahrstühlen und der Außenhaut bleibt - abgesehen von den "Jahresringen" - frei von Trennwänden oder Stützwänden. Auch die eingestürzten Twin Towers des World Trade Centers hatten nur wenig Stützwände, weil die Außenfassade 80 Prozent der Last trug. "Das war seinerzeit eine revolutionäre Konstruktion", sagt Oligmüller, "doch dadurch war sie auch sehr anfällig gegen diesen Anschlag. Ich habe hier einen Entwurf gemacht, der die selben Ausmaße hat wie die beiden Türme in New York. Nach diesem Prinzip habe ich sogar mehr Nutzfläche als die Twin Towers." Dank der Querstreben in den Zwischenwänden aber mit besserer Standkraft.

    Auch bei der Beleuchtung nimmt sich Oligmüller den Baum zum Vorbild. Dessen Blätter filtern und lenken das Licht immer gerade so, wie es zur Jahreszeit passt. In Oligmüllers Entwurf übernehmen spezielle Lamellen in der Fassade die Funktion der Blätter. Sie ändern je nach Wetterlage automatisch ihren Anstellwinkel - mit Hilfe der so genannten Thermohydraulik: "Die Thermohydraulik nutzt die Sonneneinstrahlung zum Aufbau des hydraulischen Drucks. Wenn keine Sonne scheint, fällt der Druck auf Null ab. Dann ist die Nullstellung der Blattstrukturen so, dass sie das Licht nach Innen lenken." Die Natur als Vorbild für technische Lösungen - dieser Trend in der Wissenschaft erhält mit Oligmüllers Baum-Hochhaus eine weitere Facette.

    [Quelle: Andrea Vogel]