Mittwoch, 24. April 2024

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Beck: "Es gibt keinen Tatort Grün"

Es habe in den 70er-Jahren viele verbale Grenzüberschreitungen gegeben, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck im Bezug auf die Kindesmissbrauchsvorwürfe gegen die Partei. "Aber das jetzt in die Nähe der Zustimmung zur Pädophilie zu rücken, finde ich nicht statthaft."

Marieluise Beck im Gespräch mit Friedbert Meurer | 21.05.2013
    Friedbert Meurer: Die späten 60er-Jahre und die 70er-Jahre waren wilde Zeiten. Dem Muff der Adenauerjahre wurde der Kampf angesagt, auch der Lustfeindlichkeit und Prüderie einer reichlich verklemmten Gesellschaft. Die 68er-Bewegung mündete 1980 in die Gründung einer Partei, Die Grünen, und auch Die Grünen machten sich das Ziel der sexuellen Befreiung zueigen. Damals wurden homosexuelle Beziehungen noch mit Gefängnis bedroht und geahndet, auch Sex mit Kindern. Bei Grünenparteitagen tummelten sich damals auch Leute, sie nannten sich zum Beispiel "Stadtindianer", die dafür eintraten, sexuelle Beziehungen mit Kindern von Strafe freizustellen, wenn keine Gewalt angewendet wird, sondern wenn das ganze freiwillig geschieht – heute alles schwer nachvollziehbar. Aber die Grünen müssen sich Fragen gefallen lassen, ob sie hier bei der Verherrlichung von Kindesmissbrauch weggeschaut haben.

    Marieluise Beck gehört zu den Gründerinnen der Grünen-Partei, heute ist sie Bundestagsabgeordnete, engagiert sich unter anderem für Freiheit und Bürgerrechte in Osteuropa. Guten Morgen, Frau Beck.

    Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Nach den Skandalen in der Katholischen Kirche und in der Odenwaldschule, haben die Grünen jetzt eine ähnliche Missbrauchsaffäre?

    Beck: Es gibt Dinge, die aufzuklären sind, und das ist nicht rühmlich, was jetzt noch einmal zum Vorschein kommt, wobei es ja nicht wirklich jetzt erst zum Vorschein kommt, sondern durchaus immer schon einsehbar war. Aber es gibt keinen Tatort Grün in dem Sinne, dass wir wie bei manchen Institutionen aus der Katholischen Kirche oder bei der Odenwaldschule heute uns mit Missbrauchsopfern auseinanderzusetzen hätten. Es gab viele verbale Grenzüberschreitungen.

    Meurer: Der Parteitag von Lüdenscheid 1985, war das kein Tatort Grün?

    Beck: Das war ein übliches grünes Chaos, in dem tatsächlich die Trennschärfe zwischen den Forderungen nach sexueller Freiheit und sexuellen Übergriffen vollständig verloren gegangen war. Mir ist noch nicht, weil ich die Unterlagen bisher nicht habe einsehen können, ganz klar, was sich wirklich dort abgespielt hat. In der kritischen Justiz wird davon gesprochen, dass ein Papier "Sexualität und Herrschaft" als Arbeitspapier angenommen worden ist. Vielleicht ist es sogar in das Programm hineingekommen – für eine Woche, wenn ich es richtig bis jetzt überschaue.

    Meurer: Genau! Und dann hat wohl der Bundesvorstand nach dem allgemeinen Protest das Ganze auf Eis gelegt.

    Beck: Ja.

    Meurer: Aber es war ein Beschluss eines Parteitages!

    Beck: Ja. Das Entscheidende ist: Den Grünen hat zu der Zeit der Kompass gefehlt, ganz klar zu trennen, wo sind wir auf dem Weg, die Prüderie der 50er- und 60er-Jahre, die bleischwere Verbotsszenerie für jegliche Sexualität, für auch Freude, die damit verbunden ist, für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, diese Grenze zu ziehen gegenüber dem Beginn von Missbrauch. Damals haben sich die Stadtindianer bei uns herumgetrieben. Ich erinnere mich noch, wie die unsere Parteitage terrorisiert haben.

    Meurer: Wie war das?

    Beck: Die kamen: Das waren Jugendliche, zum Teil weggelaufen aus Erziehungseinrichtungen, die eben diese Forderung nach Freigabe von Sexualität zwischen Erwachsenen und Jugendlichen aufstellten. Sie stürmten in der Regel die Parteitagspodien und es war eine Zeit, wo wir nicht die Polizei gerufen hätten, sondern wir diskutierten eben mit jedem, der da kam mit möglichen und unmöglichen Forderungen.

    Meurer: Das heißt, Sie wollten denen auch nicht die Tür zeigen. Sie konnten es nicht, Sie wollten es aber auch nicht?

    Beck: Es war eine Zeit, wo wir uns abverlangt haben, erst mal wird mit jedem geredet, und das ist heute nicht mehr nachvollziehbar, zumal wir einen viel schärferen Blick haben für die ganze Thematik von Kindesmissbrauch. Das ist ja etwas, was in diese Zeit zurückführt. Der Kindesmissbrauch war zwar gesetzlich verboten, aber er fand in der Gesellschaft ja statt und er fand statt unter der Decke des Tabus. Es war eben das Tabu so groß angelegt, dass der, der Missbrauch erlebt, nicht wagte, es hinterher zu formulieren, sondern das Individuum, das missbrauchte Individuum sich schämte, sich schuldig fühlte, und man kann jetzt über diese Turbolenzen und fehlenden Grenzziehungen der Zeit sprechen, aber diese Zeit hat hineingeführt in eine nächste Epoche, in der wir nun offen begonnen haben, über Missbrauch zu sprechen, und ich bin sehr froh, dass heute nicht alle, aber doch in der Regel Missbrauchsopfer Anlaufstellen finden, sich erklären dürfen, über ihr Leid sprechen können. Also man muss die Entwicklung von diesem Chaos und den Grenzüberschreitungen der 70er-Jahre, Ende 60er-, 70er-Jahre bis heute insgesamt sehen.

    Meurer: Am Anfang standen ja die Berichte rund um Daniel Cohn-Bendit, dem Europa-Abgeordneten. Er hat ein Buch geschrieben damals und er sagt, er habe nur Fantasien beschrieben. Wie sehen Sie den Fall Cohn-Bendit? War er für Sie pädophil?

    Beck: Das würde ich nach meiner Erinnerung und wie ich ihn kennenlerne ausschließen. Ich finde die Erklärungen, die er jetzt noch einmal in verschiedenen Interviews gegeben hat, nachvollziehbar, dass er durch und durch von der Provokation gekennzeichnet war, eben gegen diese bleischwere Sexualität, die einen ja unglaublich eingeschnürt hatte. Da gab es ja auch eine Wut und einen Zorn auf die Doppelmoral auch, die ja in den 50er- und 60er-Jahren geherrscht hatte. Also dazu die Provokation. In den Kinderläden der damaligen Zeit gab es sicherlich auch Unschärfen bei dem, was erlaubt war und was nicht. Da bin ich mir sicher.

    Meurer: Was waren das für Unschärfen?

    Beck: Es war eine Frage der Grenzziehung insgesamt, wo einfach auch noch gar keine Klarheit bestand, was ist erlaubt und was ist nicht erlaubt. In meiner Kindheit war es vollkommen klar: Ein Kind, ein junges Mädchen, eine junge Frau durfte keine männliche Nacktheit, nicht mal weibliche Nacktheit sehen. Heute würden wir sagen, das gehört doch zur Normalität eines Kindes dazu, dass man den Körper des anderen Geschlechts auch im Laufe des Aufwachsens so sehen lernt, dass keine Angst vor ihm besteht. Diese Grenzen sind mühselig gezogen worden und da hat es auch Überschreitungen gegeben.

    Meurer: Noch kurz, Frau Beck: Müssen die Grünen sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen? Einerseits treten sie für Befreiung ein, andererseits aber haben sie es toleriert, dass im Zusammenhang mit Kindern das Gegenteil eingetreten ist.

    Beck: Das, glaube ich, beginnt jetzt den Bereich der Parteipolitik zu berühren. Natürlich ist es vernünftig und gut, diese Zeit sich noch einmal anzuschauen, im Lichte der Zeit, sage ich dazu, sicherlich auch einzugestehen, dass gezögert, viel zu lange gezögert worden ist, um klare Grenzen zu ziehen. Aber das jetzt in die Nähe der Zustimmung zur Pädophilie zu rücken, finde ich nicht statthaft. Ich kann schon als grüne Frau sagen, wir sind ja doch dann mit dem Einzug im Bundestag diejenigen gewesen, die die Tür aufgemacht haben, um über gesellschaftlichen Missbrauch, Grenzüberschreitung überhaupt erst zu sprechen. Es war Waltraud Schoppe mit ihrer denkwürdigen Rede, die überhaupt mit Begriffen wie Sexualität und freier Sexualität zum ersten Mal in die Öffentlichkeit gegangen ist. Wir haben die erste Anfrage zu Kindesmissbrauch gemacht. Also jetzt wird doch viel parteipolitisches Getümmel losgetreten.

    Meurer: Die Bundestagsabgeordnete und Mitbegründerin der Grünen, Marieluise Beck, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Frau Beck, danke und auf Wiederhören!

    Beck: Bitte schön!


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