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Bedrückung auf der Bühne

Luc Perceval hat "Platonow" für die Berliner Schaubühne inszeniert. Dem Regisseur gehen in dem Stück einige Handlungsstränge verloren. Das Ziel der Inszenierung bleibt merkwürdig verschwommen.

Von Karin Fischer |
    Diese Inszenierung ist in allem das genaue Gegenteil. Mindestens. Wo die Regisseurin Karin Henkel mit filmreifen Effekten eine nimmersatte Gesellschaft voll aufgedrehter Geschwätzigkeit und einen "Platonow" mit deutlicher Bohème-Attitüde präsentierte, der zynisch und umwerfend selbstsicher noch den eigenen Absturz kommentierte, da herrscht bei Perceval wieder gnadenlose Bedrückung vor. Thomas Bading gibt den feinsinnigen, wahrhaft leidenden Intellektuellen, radikal in seiner Ablehnung des Kompromisslerischen auch an sich selbst, todernst in seinem Hass auf die Welt, die Hände meist in den Hosentaschen zusammengekrampft. Seine Geschmacklosigkeiten erwachsen aus härtester Ehrlichkeit. Mit der jungen Marja liefert er sich eine Art Papageien-Duell, er ist sich nicht zu schade, auf die offensichtlichsten Schwächen anderer auch noch einzuschlagen, und auch seine Liebeserklärung an Anna Petrowna klingt wie ein Akt der Verachtung - nicht der Frau, sondern sich selbst und der Liebe gegenüber.

    Das Spiel findet im hohen Betonrund auf einfachen Holzplanken statt, wofür zwei Säle zu einem Riesenraum zusammengelegt wurden. Die Zuschauer sitzen steil und gucken nach unten, die Schauspieler wirken wie eingekesselt. Teile von Bahngleisen liegen herum, hinten ein Stapel Stühle, ein Schachbrett, Klaviere, ein paar Schulbänke bilden die ganze Ausstattung. Die Herren tragen weiße Hemden, Krawatte, schwarze Anzüge wie eine Beerdigungsgesellschaft. Eine Kerze brennt. Sich betrunken über ein Schachbrett zu beugen, hinzufallen und wieder aufzustehen ist Schwerstarbeit und kann dauern. Die Menschen sprechen zu Beginn nur über große Distanzen miteinander - und oft zum Publikum wie in einem Amphitheater. Allein Frau Generalin hält durch ihren schroffen Ton diese kasernierte Gesellschaft im Dämmerzustand zusammen, wie im Gespräch mit dem Arzt Triletzky, der hier, auch das ein Unterschied zu Stuttgart, die Rolle des abgebrühten Zynikers innehat.

    Karin Neuhäuser als Anna Petrowna ist streng, forsch, laut, aber mit viel untergründiger Menschenkenntnis ausgestattet und das eigentliche Zentrum dieser Inszenierung. Thomas Thieme macht aus Ossip, dem Dieb, eine eigentümlich große und großartige Figur, unter all den untergründig aggressiven Menschen ruht der Gewalttäter als einziger in sich. Auch interessant. Nach 40 Minuten jedenfalls ist diese Gesellschaft weit über die Peinlichkeitsgrenze ausfällig geworden und selbst nah an Mord und Totschlag.

    Nach der Pause dann herrscht noch größere Hektik, Aggression entsteht minütlich, alle geraten durch Platonow aus dem Leim und in Verzweiflung. Wie dieser überaus kluge, aber selbstzerstörerisch depressive Mann die Frauenherzen genau erobert hat, bleibt auch in Percevals Handschrift offen. Sind solche Ekelpakete wirklich anziehend? Auch die Generalin versteht nicht mehr, sie ist als Frau zu ihm gekommen, das Wetter ist klasse, wo ist das Problem?!

    Die Inszenierung wirkt im zweiten Teil zerfahren. Hektisches Herumgerenne, La Paloma auf dem Saxophon und ein Feuerwerk, das die Zuschauer mit ihren Feuerzeugen herstellen sollen. In unserer langweiligen Nichtrauchergesellschaft ist das nicht der hellste Regie-Einfall. Ein paar Handlungsstränge gehen ganz verloren. Warum alle Welt mit Waffen in der Hand herumläuft, ohne sie zu benutzen, bleibt bis zuletzt auch ein Geheimnis. Wie schnell das mit den Waffen eskalieren kann, konnte man in der Pause vor der Berliner Schaubühne lernen, als sich ein paar Jugendliche vor der Disco gegenüber in die Haare kriegten und von schwergewichtigen Security-Leuten so gerade noch getrennt werden konnten. Einer von ihnen hatte einen Totschläger in der Hand. Und fast auch benutzt. Demgegenüber gehorcht die Exekution Platonows durch die liebend radikalisierte Sofia am Ende doch nur einer Theater-Logik.

    Wer der im Stück nicht folgen konnte oder wollte, hat noch eine Chance: Erstmals hat die Schaubühne eine DVD zum Stück herausgegeben. "Platonow – Der Film" ist aus Probenmaterial entstanden, das der Regisseur auch für seine Arbeit mit den Schauspielern dreht, und enthält außerdem Interviews, Probengespräche, die Schaubühnen-Podcasts zum Stück und Fotos. Im Programmheft steht ein Text von Hans Fallada über die Trunksucht. Im Stück fällt der bislang schönste Satz zum Thema, natürlich von Anna Petrowna: "Man kann nämlich auch ohne Spaß Alkohol haben." Percevals Inszenierung ist natürlich mehr als ein Stück über die Sucht, dennoch bleibt ihr Ziel merkwürdig verschwommen.