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Beethoven in der Box

Riccardo Chailly und seine Gewandhausmusiker haben eine beachtenswerte Neuaufnahme aller Beethoven-Sinfonien vorgelegt. Durch Chaillys dynamisches Tempo wirken die bekannten Symphonien leichter und schwereloser.

Von Ludwig Rink |
    Die Sinfonien Ludwig van Beethovens als Konzertreihe zyklisch aufzuführen – diese Idee einer Programmgestaltung ist nicht neu und wird immer mal wieder und fast überall gerne aufgegriffen. Das Leipziger Gewandhausorchester hat damit wohl einst den Anfang gemacht, und zwar in der Spielzeit 1825/26, also sogar noch zu Beethovens Lebzeiten. Und der Name des damaligen Dirigenten dieser Reihe ist uns wohl vertraut: es war Felix Mendelssohn Bartholdy. Jeder der danach amtierenden Gewandhauskapellmeister hat seitdem "seinen" Beethoven-Zyklus im Gewandhaus erarbeitet; Riccardo Chailly, seit September 2005 in diesem Amt, macht da keine Ausnahme. Er wird jetzt im Oktober zuhause in Leipzig und anschließend auf Tournee in Wien, London und Paris seine Version dieses sinfonischen Kernrepertoires mit den Leipzigern vorführen. Und pünktlich zu diesem Konzertzyklus hat es seine Plattenfirma Decca geschafft, die Sinfonien und zusätzlich acht Ouvertüren in einer repräsentativen CD-Box herauszubringen, aus der ich Ihnen heute morgen Ausschnitte vorstellen möchte.

    "Ludwig van Beethoven
    3. Satz aus: Sinfonie Nr. 7 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Ein wesentlicher Impuls zur nachhaltigen Beethoven-Rezeption in Europa ging von Leipzig aus: Schon zu Lebzeiten des Komponisten genoss das Leipziger Gewandhaus bereits den Ruf, eine der ersten Pflegestätten Beethovenscher Musik zu sein. Entscheidenden Anteil daran hatte der damals für den Spielplan verantwortliche Friedrich Rochlitz, Mitglied der Gewandhaus-Direktion und Herausgeber der einflussreichen "Allgemeinen musikalischen Zeitung", die in Leipzig im selben Verlag wie Beethovens Partituren erschien, nämlich bei "Breitkopf und Härtel". Dieser Friedrich Rochlitz förderte die Beethovenschen Kompositionen, in dem er sie - manchmal auch gegen den Publikumsgeschmack - kontinuierlich in den Gewandhaus-Spielplan integrierte und stets ausführliche Rezensionen in seiner "Allgemeinen musikalischen Zeitung" über diese Aufführungen verfasste. Die solcherart publizistisch begleitete Entwicklung Beethovens und die feste Etablierung seiner Werke im Konzertbetrieb fand somit europaweit Verbreitung. Eine solche journalistisch nicht ganz einwandfreie Gemengelage würde sich mancher Komponist unserer Tage als Promotion seiner Werke sicher auch wünschen; aber immerhin schwelgen die Gewandhäusler nicht nur in der Vergangenheit, sondern haben sich entschlossen, den Beethoven-Sinfonien zumindest in den kommenden Konzerten Neue Musik von heute gegenüberzustellen. Hierzu ergingen Kompositionsaufträge an Steffen Schleiermacher in Leipzig, an Bruno Mantovani aus Frankreich, Carlo Boccadoro aus Italien, Friederich Cerha aus Österreich und Colin Matthews aus Großbritannien. Auf CD ist davon aber noch nichts vorhanden, vermutlich, weil solche Auftragswerke gerne erst ganz knapp vor dem Konzerttermin fertig werden, vielleicht aber auch, weil Neue Musik in solcher Massierung dann auch nicht ganz zum Image des Labels passt. Also bleibt für uns die Frage: was ist das Neue im Alten, was unterscheidet Riccardo Chaillys Beethoven von dem seiner Vorgänger?

    " Ludwig van Beethoven
    2. Satz aus: Sinfonie Nr.8 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    In der Biografie des 1953 geborenen Riccardo Chailly spielt die Oper eine bedeutende Rolle. 1978 debütierte er an der Mailänder Scala, arbeitete dann an der Wiener Staatsoper, den großen Opernhäusern von New York, London, München und Zürich. Sieben Jahre war er Musikdirektor des Teatro Comunale Bologna, wo er mit großem Erfolg zahlreiche Opernaufführungen leitete. Vielleicht kommt daher sein auch hier in purer Sinfonik hörbares Faible für alles Gesangliche. Gerade in den langsamen Sätzen ermöglicht er durch deutlich schnellere Tempi ein besseres Fließen der Linien, arbeitet deren Binnendynamik minutiös heraus, bringt die Musik zum Atmen und schafft, wie hier im 2. Satz der 4. Sinfonie, auf kleinem Raum eine Art dramatischer Bühnenszene ohne Worte.

    "Ludwig van Beethoven
    2. Satz aus: Sinfonie Nr. 4 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Auch der 2. Satz der 1. Sinfonie gerät unter dem hier vermutlich alla breve schlagenden Gewandhauskapellmeister Chailly deutlich schneller und schwereloser als zum Beispiel in der Einspielung seines Vor-Vorgängers Kurt Masur. Auch hier kommt dies dem Fluss des Melodischen zugute.

    " Ludwig van Beethoven
    2. Satz aus: Sinfonie Nr.1 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Mögen Chaillys schnellere Tempi in langsamen Sätzen gut realisierbar sein, in schnellen Sätzen führt er seine Musiker bisweilen an die Grenze des Machbaren. Dies gilt beispielsweise für den letzten Satz der 2. Sinfonie. Hier spielen alle sozusagen am Limit, doch es gelingt ihnen das Kunststück, dabei nicht gehetzt oder atemlos zu klingen. So etwas kann man allerdings nur mit einem Klangkörper wie dem Leipziger Gewandhausorchester wagen mit seinen Spitzenmusikern in allen Instrumentengruppen. Schwächere Ensembles würden bei dem Tempo vermutlich hoffnungslos einbrechen und vor lauter Starren auf die verlangte Schnelligkeit alle anderen Partiturvorgaben außer Acht lassen. Hier jedoch bleibt alles trotz größter Konzentration noch leicht und locker, gelingt bei aller nötigen Virtuosität immer noch eine überzeugende musikalische Gestaltung.

    "Ludwig van Beethoven
    4. Satz aus: Sinfonie Nr. 2 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Vergleicht man die Laufzeiten dieser Beethoven-Sinfonien mit früheren Einspielungen desselben Orchesters unter Kurt Masur, so schafft es Riccardo Chailly in jedem Fall 10-20 Prozent schneller. Er beruft sich auf die Metronom-Angaben und ist ganz eindeutig bestrebt, diesen Hochämtern der Klassischen Musik das Weihevolle zu nehmen. So legt er deutlichen Wert darauf, dass der Trauermarsch der 3. Sinfonie nicht nur Trauer, sondern eben auch Marsch ist, das heißt, dass er aus lauter Trauer nicht derart langsam gedehnt gespielt wird, dass das Laufen dazu nicht mehr möglich ist.

    "Ludwig van Beethoven
    2. Satz aus: Sinfonie Nr. 3 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Und in der berühmten 5. Sinfonie erliegt Chailly – anders als viele seiner Dirigenten-Kollegen – nicht der Versuchung, das Schicksalhafte dieser Musik durch zusätzliche, in der Partitur nicht vorgesehene Riterdandi, also Tempoverlangsamungen, noch bedeutungsvoller daher kommen zu lassen. Er betont die Unaufhaltsamkeit des Schicksals ganz im Gegenteil durch fast schon stoisches Beharren auf dem Grundpuls. So gelingt auch problemlos der Übergang vom 3. in den gleich anschließenden letzten Satz der Sinfonie.

    " Ludwig van Beethoven
    3. Satz aus: Sinfonie Nr. 5 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Alles in allem haben Riccardo Chailly und seine Gewandhausmusiker hier eine höchst beachtenswerte Neuaufnahme aller Beethoven-Sinfonien vorgelegt: Als Basis die grundsolide Klangkultur dieses Leipziger Orchesters mit seinem wunderbaren Streicherklang und den immer äußerst feinfühlig und musikalisch agierenden Bläsern, allesamt zu erstaunlichstem Pianissimo ebenso fähig wie zu einem niemals im Klang hässlichen, aber dennoch kräftigen Fortissimo, dazu die mehr auf der Partitur als auf übernommener Tradition basierenden, sensibel realisierten klanglichen Vorstellungen des Chefdirigenten Riccardo Chailly, in den Tempi deutlich beeinflusst durch die Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis, schließlich eine makellose Aufnahmetechnik, die alles dies quasi natürlich und unaufdringlich abbildet. Es könnte gut sein, dass Chailly seinen vielen bereits erhaltenen Schallplattenpreisen für Oper- und Sinfonik-Einspielungen mit diesem neuen Beethovenzyklus einen weiteren hinzufügen wird.

    " Ludwig van Beethoven
    1. Satz aus: Sinfonie Nr. 6 (Ausschnitt)
    Gewandhausorchester, Leitung: Riccardo Chailly
    Decca (LC 00171 ) 478 2721"

    Die Neue Platte – heute mit der Neueinspielung aller Beethoven-Sinfonien durch das Leipziger Gewandhausorchester und seinen Chefdirigenten Riccardo Chailly, erschienen bei der Schallplattenfirma Decca.