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Beethoven, Mozart und ein bisschen Jazz

Erinnern Sie sich noch an Nigel Kennedy? Das ist der draufgängerische Musiker, der in jungen Jahren Vivaldis Jahreszeiten heftig gegen den Strich geigte, damit aber keinesfalls aneckte, sondern so erfolgreich war, dass von dieser CD in Großbritannien ein ganzes Jahr lang an jedem Werktag alle 30 Sekunden ein Exemplar über den Ladentisch ging.

Von Ludwig Rink | 11.05.2008
    Inzwischen ist dieses enfant terrible der Klassik auch schon über 50 und hat alles mögliche eingespielt: Violinkonzerte von Bach, Bartok, Beethoven, Berg, Brahms, Bruch, Elgar, Mendelssohn, Sibelius, Tschaikowsky und Walton, aber auch vieles, was im Repertoire anderer Geiger kaum vorkommt: eigene, von Jimi Hendrix inspirierte Kompositionen, ein Konzert, das auf der Musik der Rockband The Doors basiert, eine CD mit Weltmusik oder eine reine Jazz-CD für das legendäre Label Blue Note. Auftritte und CDs von Nigel Kennedy werden mit beträchtlichem Werbeaufwand als großartige Events vorbereitet; ab dem 19. Mai kann man sich auch in deutschen Konzertsälen davon ein Bild machen, dann ist er mit dem Polnischen Kammerorchester auf Tour. Was er da spielen wird, ist vorab bei EMI Classics auf CD erschienen und zunächst einmal im engeren Sinne ganz klassisch: Mozart und Beethoven.

    " Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - 1. Satz (Ausschnitt) aus: Konzert für Violine und Orchester D-dur, op. 61 "

    Schon vor gut 15 Jahren hat Nigel Kennedy bereits das einzige Violinkonzert Beethovens eingespielt, damals mit dem NDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Klaus Tennstedt. Heute spiele er es völlig anders, sagt er. Nicht mehr im alten, romantischen Stil, sondern mehr vom Rhythmus bestimmt.

    Dass Kennedys Interpretation des Beethoven-Konzertes dadurch an Tempo gewönne, kann man allerdings nicht sagen. In den Ecksätzen ist er etwas schneller geworden, aber mit einer Gesamtdauer von 48 Minuten braucht er immer noch 4 Minuten mehr als Oistrach und fast 6 Minuten mehr als Isaak Stern - von Frank Peter Zimmermann ganz zu schweigen. Und der langsame Mittelsatz hat an Dauer auch im Vergleich zur eigenen früheren NDR-Aufnahme noch zugelegt. Er erscheint auch in der gefühlten Zeit extrem langsam, regelrecht zerdehnt, es geht und geht nicht weiter, besorgt schaut man zum CD-Player, ob die Geschwindigkeit richtig eingestellt ist oder das Gerät vielleicht eine gründliche Inspektion nötig hätte.
    " Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - 2. Satz (Ausschnitt) aus: Konzert für Violine und Orchester D-dur, op. 61 "

    Mit solch übertrieben zelebrierender Feierlichkeit dargeboten führt Beethovens übrigens mit Larghetto überschriebener 2. Satz geradewegs in gähnende Langeweile. Wurde nicht just zu Beethovens Zeit das Metronom erfunden, mit dem man das Tempo ziemlich genau herausbekommen könnte, das dem Bonner Meister vorschwebte? Hier hat man eher den Eindruck, als habe jemand den Streichern des Polnischen Kammerorchesters extra lange Bögen in die Hände gedrückt, damit sie diese langen Töne überhaupt halten können...

    Aber auch in den Basics kann Kennedy nicht überzeugen. Fragen der Intonation nimmt er öfter als tolerierbar auf die leichte Schulter, allzu oft werden die Töne mit Glissandi verbunden, die Phrasierung ist eigenwillig, ebenso manche Pausen und Akzentuierungen. Hier kommt man dann zu der Grundfrage: Ist der Interpret Botschafter, ja Diener der Partitur, oder dienen die Noten vor allem der eigenen Selbstverwirklichung, sind sie nur Anregung für die eigene Phantasie?

    " Musikbeispiel: Ludwig van Beethoven - 3. Satz (Ausschnitt) aus: Konzert für Violine und Orchester D-dur, op. 61 "

    Nigel Kennedy möchte Interpretationen bieten, die in die heutige Zeit passen. Er erzählt von seinen Jazzauftritten im Blue Note Club in Tokyo, wo er den letzten Satz von Bartoks Solosonate gespielt habe.

    Auch die Musik von Bartok, sagt Nigel Kennedy, könne in die heutige Zeit passen, wenn man sie auf die richtige Art bringe und auf die richtige Art spiele. Das gelte auch für Mozart - er kann heute passen. Wenn nicht, so fragt er, warum sollte man diese Leute nicht begraben, und man wäre sie los?

    Nun, begraben sind sie zumeist. Dennoch bleiben da viele Fragen. Was ist die heutige Zeit? Empfindet man sie in China, Algerien oder Peru genauso wie in Großbritannien oder Deutschland? Und was ist die richtige Art? Es gibt so viele Arten, heute Mozart zu spielen: romantisch und groß besetzt, auf alten Instrumenten, auf neuen Instrumenten, aber historisch informiert... Hat Kennedy jetzt die richtige Art gefunden? Ich glaube, es ist eher das Drumherum der klassischen Musik, das Kennedy und seine Marketing-Mitstreiter der heutigen Zeit anpassen können: Weg mit dem Pinguin ähnlichen Frack, weg mit übertriebener Ehrfurcht vor den hehren Titanen, weg mit dem Konzertsaal-Zeremoniell. Und natürlich passt es auch gut in die Zeit, wenn Kennedy bei seinen neuen Mozart-Interpretationen mal die alte Guarneri-Geige von 1735 gegen eine fünfsaitige Elektro-Geige austauscht, die aus ausgesuchtem Ahorn und Ebenholz handgeschnitzt ist und - auch das sichert Interesse ganz bestimmter Gruppen - in einem Metallic-Finish in den Farben seines Lieblings-Fußballclubs schimmert. Mit diesem elektrisch verstärkten Teil nutzt Kennedy weidlich die Freiräume, die die Komponisten früher den Interpreten gelassen haben, nämlich die nicht aufgeschriebenen Kadenzen. Hier kann er spielen, was er für die Musik von heute hält: eine Mischung von Jazz-Elementen, Weltmusik und musikalischer minimal art.

    " Musikbeispiel: Wolfgang Amadeus Mozart - aus: Konzert für Violine und Orchester Nr. 4 D-dur, KV 218 "

    Nigel Kennedy - der Geiger aus den Charts, seit vielen Jahren unterwegs, neue Schichten für die Musik zu begeistern. Das macht ihn sympathisch und solche Leute hat die alternde Klassik bitter nötig. Doch wenn Du, lieber neuer junger Klassik-Freund, durch diesen britischen Musiker den Weg in die heiligen Hallen gefunden hast, wirst Du bald feststellen, dass es in dieser Szene Musiker gibt, die konventioneller auftreten, weit weniger ein poppiges oder Punk-Image pflegen, dafür aber einfach noch ein ganzes Stück besser spielen. Bei denen ist man nicht auf der Suche nach originellen Überraschungen, sondern erfährt höchstes Glück in der vollendeten Darstellung der Partituren, die, ernst genommen, auch immer wieder für viele Überraschungen gut sind. Kennedy zieht derweil weiter durch die Welt und wird uns sicher immer wieder in seinen Bann ziehen, zum Beispiel mit "Creep'in" von Horace Silver ...

    " Musikbeispiel: Horace Silver - aus: "Creep'in" "

    Diskographie

    Titel: "Nigel Kennedy"
    Beethoven: Violinkonzert op. 61 /
    Mozart: Violinkonzert KV 218
    Orchester : Polnisches Kammerorchester
    Leitung: Nigel Kennedy
    Label: EMI Classics
    Labelcode: LC 06646
    Bestellnummer: 0946 3 95373 2 7