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Beethoven zwischen Boom und Untergang

Die Beethoven-Stadt Bonn soll ein Festspielhaus bekommen und die Elbphilharmonie in Hamburg wird viel teurer als erwartet. Klassische Musik boomt also. Doch ist sie auch lebendig?

Von Holger Noltze | 20.03.2010
    Das ist aber schön: "Klassische Musik gilt als der Gewinner schlechthin des Wirtschaftskrisenjahres 2009", lesen wir gerade in der "Süddeutschen Zeitung". Um zehn Prozent sei der Umsatz mit Tonträgern aus dem E-Musik-Fach im letzten Jahr gestiegen, und insgesamt macht das Segment von Bach bis Boulez nun immerhin 7,8 Prozent aus. So gab es der Bundesverband der Musikindustrie bekannt, und kann mit noch froheren Botschaften aufwarten: Denn nicht nur greise Zahnärzte und reife Chefsekretärinnen mit einem Hang zur höheren Kultur oder wenigstens zu Lang Lang, wenn er Tschaikowskys b-moll-Konzert spielt, griffen ein wenig beherzter zur Klassik-CD - auch die Jungen, die 20- bis 29-Jährigen und sogar noch die darunter. Auch die Zuwachsraten im immer wichtigeren Internetgeschäft per Download-Distribution sind beträchtlich.

    Das ist also alles schön, sofern man die sogenannte Klassische Musik für Kultur, einen wichtigen Teil unserer Tradition, für ein bedeutendes Bildungsgut oder jedenfalls gut fürs Hirn findet. Das muss man aber keineswegs, wie ein paar Tage zuvor in derselben Zeitung zu lesen war. "Wie schlimm ist es, wenn das Klassikpublikum schwindet?", fragte da Thomas Steinfeld, und referierte eine Studie des Kulturwissenschaftlers Tröndle aus Friedrichshafen, in der dieser einmal wissenschaftlich festgestellt hat: Die Freunde der italienischen Oper und des symphonischen Betriebs sterben aus. Es altert nämlich dessen Publikum, sagt der Kulturstatistiker Tröndle, berichtet Steinfeld, ungefähr genau dreimal so schnell wie das Durchschnittsvolk. "Und so scheint sich der Tag zu nähern", mussten wir lesen, "an dem es keine öffentliche Aufführung von klassischer Musik mehr gibt." Ist das schlimm?, war die Frage, und die Antwort ein beherztes: Überhaupt nicht! Dem Verschwinden des Klassikpublikums wurde da aber auch gar keine Träne nachgeweint, auch wenn der Verfasser der schnöden statistischen Weisheit nicht trauen mochte und stattdessen und vielleicht um ganz sicher zu gehen, lieber den Weltgeist bemühte.

    Das bürgerliche Konzertwesen ist eine sub specie aeternitatis so späte Erscheinungsform, dass es - Thomas Steinfeld jedenfalls - "nur angemessen" erscheint, "wenn ein klassisches Repertoire, das spät ins allgemeine Bewusstsein drang, sich daraus auch früh wieder verabschieden muss." Der Satz war wörtlich so schon vor fünf Jahren in der Zeitschrift "Merkur" zu lesen, "Zur Lage der klassischen Musik". Von untergegangenen Künsten wie etwa dem Dixieland-Jazz unterscheide die musikalische Klassik nur ihre Subventionierung durch öffentliche Mittel, die ihrerseits der historisch überständigen Vorstellung geschuldet sei, das Kunstvergnügen einer kleinen Elite müsse "demokratisiert" werden. "Wie furchtbar" ist dem Autor aber schon die Vorstellung, es sollten nun mehr Mittel für innovative Musikförderung ausgegeben werden.

    Und jetzt das: Mehr und jüngere Leute hören nicht auf die Statistik und nicht auf Steinfelds ausdrücklichen Untergangsbefehl, sondern sie hören "E"-Musik. Vielleicht hören sie auch bloß Paul Potts oder David Garretts "Fluch der Karibik"-Soundtrack oder den schnellsten Hummelflug der Welt. Oder aber sie haben sich von Joachim Kaiser, dem Allvater der Musikkritik überreden lassen, der zuletzt und in derselben Zeitung wieder davon schwärmte, was für ein Sonderglück es sei, ja: Beethovens "Fünfte" zu hören. Und was, wenn sich die Ohren gerade in Krisenzeiten dafür öffnen, wie es klingt, wenn das Schicksal an die Tür klopft? Oder, noch verwegener, für große Musik als Lebensmittel? - Zwischen Boom-Trompeten und Aussterbens-Prognosen spielt sie einfach weiter, ja-ta-ta-taa, und wenn sie gut gespielt wird, dann war sie noch nie so wertvoll wie heute.