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Befindet sich Israel an der Schwelle zu einer neuen Realität?

    Remme: Heute ist ein hoher Feiertag für das jüdische Volk weltweit – Jom Kippur, der Versöhnungstag. Doch die politisch höchst brenzlige Lage im Nahen Osten erfordert besondere Maßnahmen. Zum ersten Mal seit dem Krieg 1973 wurden die strengen Fasten- und Ruhevorschriften für den Feiertag teilweise außer Kraft gesetzt. Seit zehn Tagen dauern die Auseinandersetzungen zwischen zumeist palästinensischen Jugendlichen und israelischen Soldaten an. Über 80 Tote sind seitdem zu beklagen, die meisten auf Seiten der Palästinenser. Der UN-Sicherheitsrat hat eine israelkritische Resolution verabschiedet; der israelische Premier Barak wiederum hat Palästinenser-Präsident Arafat ultimativ aufgefordert, den Unruhen bis heute Abend ein Ende zu bereiten. In Washington laufen zur Stunde Vorbereitungen für einen weiteren Krisengipfel noch in dieser Woche. Wir wollen jetzt zwei Stimmen aus beiden Lagern hören. Zunächst habe ich mich mit dem ehemaligen Botschafter Israels in Deutschland Benjamin Navon unterhalten. Das Gespräch haben wir wegen des jüdischen Feiertags aufzeichnen müssen. Trotz großer innenpolitischer Differenzen forderte Regierungschef Barak sein Volk gestern zur Einheit auf; wörtlich sagte er: ‚Wir befinden uns an der Schwelle zu einer neuen Realität im Staate Israel‘. Ich habe Benjamin Navon zunächst nach seiner Interpretation dieses Aufrufs gefragt.

    Navon: Natürlich muss Herr Barak für sich selbst sprechen, aber wie ich es und viele meiner israelischen Freunde verstanden haben, ist es ein Aufruf, der im Schatten einer Bedrohung ist, die zu einem Krieg führen kann. Es ist ein Aufruf zur Einheit, der nicht nur von Herrn Barak kommt, sondern praktisch von fast allen politischen Parteien in Israel.

    Remme: Der UN-Sicherheitsrat hat die exzessive Gewalt gegen die Palästinenser verurteilt, Herr Navon. Er sprach von der Provokation vom 28. September. Trösten Sie sich damit, dass Israel und der Name Ariel Scharon nicht wirklich erwähnt sind?

    Navon: Schauen Sie, das sind natürlich kosmetische Manifestationen. Es ist peinlich, denn hier wurden wir unter die Lupe genommen. Unsere Reaktionen, die vielleicht hier und da zu hart waren, wurden gegeißelt, während die Aktionen der anderen Seite, wie zum Beispiel die Verwüstung des Grabes Josefs in Mablus eigentlich ignoriert wurde.

    Remme: Sie sagen, es ist peinlich. Peinlich für wen?

    Navon: Schauen Sie, es ist peinlich für alle, die von der UNO mehr erhoffen. Während der vergangenen Jahre hatten wir oft Enttäuschungen seitens der UNO. Es ist momentan nun eine Tatsache, dass Israel nicht sehr viele Freunde in der UNO hat und dass die Anzahl der Stimmen auf der arabischen Seite sehr erheblich ist. Und das gibt eine Arithmetik, die nicht uns hilft.

    Remme: Die Todesopfer sind fast ausschließlich Palästinenser. Können Sie den Vorwurf der unverhältnismäßigen Gewalt denn nachvollziehen?



    Navon:
    Schauen Sie, es wird eine Untersuchungskommission ihre Arbeit gleich nach dem Feiertag beginnen, um festzustellen, ob jeder Akt der Gewalt unserer Seite zu rechtfertigen sei. Es mag sein – und dem kann ich möglicherweise beipflichten –, dass es hier und da Exzesse gab. Ich will das nicht ausschließen. Wenn Menschen Riesensteine werfen, wenn Menschen einander lebensgefährlich bedrohen, wenn Menschen in einer Situation sind, in der sie tagaus und tagein schlaflos um ihr Leben kämpfen, kann es zu Exzessen kommen – ja.

    Remme: Herr Navon, auch der israelische Parlamentspräsident Burg hat den Scharon-Besuch auf dem Tempelberg als Provokation bezeichnet. Zu recht?

    Navon: Ich glaube, dass dieser Besuch bestimmt unglücklich war.

    Remme: Ein politischer Fehler?

    Navon: Meiner Meinung nach ja.

    Remme: Hat die Resolution, von der wir eben gesprochen haben, irgendeine Auswirkung auf die israelische Politik?

    Navon: Nein, zweifelsohne nicht.

    Remme: Warum nicht?

    Navon: Schauen Sie, weil dieses Land bereits gewohnt daran ist, von der UNO gegeißelt zu werden. Vor vielen Jahren sagte der damalige Außenminister Israels, Aba Eban: ‚Wenn ein Vorschlag von der arabischen Seite kommen würde, der sagt, dass die Erde nicht rund ist, sondern flach, und dass Israel von dem Ende dieses Plateaus herunterzustoßen sei, wäre auch eine Mehrheit dazu zu finden‘. Und wer solch eine bittere Erfahrung hat, regt sich nicht besonders auf darüber. Natürlich wäre uns das lieber, wenn das nicht geschehen wäre.

    Remme: Was könnte diese Krise mit Blick auf die schwierige innenpolitische Lage von Ministerpräsident Barak bewirken? Rückt Israel in so einem Moment zusammen?

    Navon: Ich schließe es nicht aus, ich halte es für möglich – ja, vielleicht für wahrscheinlich, dass es zu einer großen Koalition kommen wird, die möglicherweise die rechten Parteien beinhalten wird.

    Remme: Und was würde das für den Friedensprozess bedeuten?

    Navon: Das würde bestimmt nicht hilfreich sein. Aber in diesem Moment, wenn es um die Existenz des Landes geht, dann verteidigt man sich. Und um diese Verteidigung effektiver zu machen, dann geht es erst einmal um die Einheit.

    Remme: Die Friedens- und Sicherheitspolitik, die war ja ein zentrales Thema im Wahlkampf zwischen Netanyahu und Barak. Hat Barak ihrer Meinung nach auf diesem Feld nach seinem Amtsantritt bisher Fehler gemacht?

    Navon: Auf der strategischen Ebene, den Friedensprozess als höchstes Ziel zu setzen, das war völlig richtig. Wahrscheinlich gab es einige praktische Fehler, zum Beispiel die Reise nach Paris, in der sich der Ministerpräsident und Präsident Chirac gegeneinander – um es linde auszudrücken – geflegelt haben. Ich glaube nicht, dass dies dienlich war. Präsident Chirac hatte einen Ernüchterungsprozess, als er die Bilder sah von dem Grab des Josef, das verwüstet wurde von der palästinensischen Seite – und hat das auch geächtet. Aber die Fahrt nach Paris hat dem Friedensprozess nicht geholfen, hat Israel nicht geholfen – und ich weiß nicht, ob es überhaupt jemandem geholfen hat.

    Remme: Ist jemand anders in Israel besser geeignet, als Regierungschef Frieden mit den Palästinensern zu machen?

    Navon: Ich kann es mir kaum vorstellen. Barak hat die Unterstützung der zentralen Wähler in Israel, natürlich auch des linken Flügels. Es hängt heute nicht an Israel, es hängt heute an der palästinensischen Seite. Man kommt langsam zur Erkenntnis, dass Arafat höchstwahrscheinlich kein Partner im Friedensprozess sein kann. Und ich weiß nicht, wer es sein wird.

    Remme: So weit Benjamin Navon. Mitgehört hat Professorin Sumaya Farhat-Naser, palästinensische Friedensaktivistin, Leiterin des Jerusalem-Center und soeben aus Deutschland zurückgekehrt, wo sie den Augsburger Friedenspreis bekommen hat. Guten Morgen.

    Farhat-Naser: Guten Morgen.

    Remme: Da war bei Herrn Navon zuletzt große Skepsis gegenüber Jassir Arafat zu hören. Fehlt den Israelis der richtige Partner zum Frieden?

    Farhat-Naser: Arafat und das gesamte Team hat gezeigt: Wir hatten wirklich den Willen zum Frieden. Aber wenn Verträge nicht verwirklicht werden, wenn Besatzungspolitik weitergeht, wenn so schlimm mit Gewalt gegen Zivilisten vorgegangen wird, dann kann Arafat nichts anderes machen, als mit zu protestieren und dafür zu sorgen, dass die internationale Gemeinschaft sich einbezieht, damit Schutz für die Bevölkerung kommt. Arafat ist der richtige Mann für den Friedensprozess, er hat es bewiesen. Er lässt so viel Demütigung auf sich zukommen. Er versucht alles, er ist ständig hinterher – und auf dem Boden geschieht nur Besatzung, Demütigung, Entrechtung.

    Remme: Bis heute Abend sollen die Unruhen auf Seiten der Palästinenser aufhören, so fordern die Israelis. Kann das gelingen?

    Farhat-Naser: Wir sorgen, dass es Ruhe wird – zugleich tun die Israelis alles, damit Unruhe geschieht - heute nacht in allen Gebieten – in Jerusalem, in Betanina, in Ansam, in Ramalla – da waren Siedler auf die Straßen gekommen, haben Menschen angegriffen, und auf die Häuser sind sie losgegangen. Auch in Nazareth ein Toter und 26 Verletzte. Das hat dazu geführt, dass jetzt nachts über zum ersten mal Demonstrationen gibt und der Aufstand – ich glaube, es wird eskalieren. Es ist eine Sache von Provokationen und Gegenreaktion und noch mal Gewalt – und da kann man das nicht behandeln, indem man Drohungen bringt.

    Remme: Frau Farhat-Naser, wie viel Kontrolle hat denn Arafat über die meist jugendlichen Gewalttäter, die da Steine werfen?

    Farhat-Naser: Es sind nicht nur Steinewerfer. Arafat hat Kontrolle – teilweise. Aber wenn seine Partei unzufrieden ist, genau so wie die anderen – es herrscht eine Wut, weil Israel immer noch als Besatzungsmacht da ist und kaum entgegenkommt in den Verträgen. Und deshalb hat Arafat zunehmend Probleme, das Ganze in Kontrolle zu halten. Und es ist unsinnig, dass man ihm sagt, die Unruhe aufzuhalten. Ein Aufstand kommt nicht, weil jemand es befiehlt. Arafat ist nicht zufrieden und ist nicht glücklich über das, was geschieht. Über 80 Tote sind es jetzt und über 2.000 Verletzte. Arafat ist auch interessiert, dass keine Exzesse mehr passieren.

    Remme: Noch ganz kurz, Frau Farhat-Naser: Welche Chancen geben Sie einem Gipfel, wenn er zustande kommt?

    Farhat-Naser: Es wird noch mehr eskalieren. Leider ist es so, weil die Welt schweigt. Nur jetzt, weil drei Soldaten gekidnappt sind, beginnt eine rege diplomatische Kampagne. Israel selbst muss auch dafür sorgen, dass die Eskalation nicht weitergeht bei uns. Man kann nicht sagen ‚halte ein, hört auf‘ – und das andere geht weiter. Ab sofort brauchen wir einen Schutz für die Zivilisten.

    Remme: Das war Sumaya Farhat-Naser, die palästinensische Friedensaktivistin.

    Link: Interview als RealAudio