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Befindlichkeit einer Nation

Japanische Fotokünstler der 50er und 60er Jahre haben Realismus mit Aspekten des Surrealismus und der klassischen japanischen Kunst vereint. Unter dem Titel "Haut einer Nation" zeigt das Fotomuseum in Winterthur Bilder von Shomei Tomatsu, die ein bewegendes und dennoch lückenhaftes Bild von der Befindlichkeit Japans zeichnen.

Von Christian Gampert | 09.09.2006
    Das Fotomuseum Winterthur hat sich schon öfter um die japanische Fotografie verdient gemacht: Seit 1995 zeigte man unter anderem Nobuyoshi Araki und Daido Moriyama, also die wildesten, die Extrempositionen der japanischen Nachkriegs- und Gegenwartsfotografie. Von Araki, dem Popstar, dem Pornografen, dem Maniac, der 220 Bücher veröffentlichte und immer wieder vom weiblichen Körper zum Stadtkörper Tokios pendelt, hat man sogar 120 Bilder in der eigenen Sammlung.

    Araki und der nicht minder provokative, das Bild aufreißende Moriyama aber haben einen Lehrmeister, einen Ziehvater, den in Europa kaum jemand kennt: Shomei Tomatsu. An ihm beeindruckt vor allem die Vielfalt seiner Bildsprachen, und zum ersten Mal hat man nun außerhalb Japans die Gelegenheit, diese Fotos in einem großangelegten Rückblick zu sehen.

    Tomatsu begann in den 50er Jahren zu fotografieren, und in seinen Bildern spiegeln sich Umsturz, Verlust, Neuanfang der japanischen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg. Aber eben nicht mit den hergebrachten Mitteln der Reportagefotografie, sondern in Details, Nebensächlichkeiten, Porträts, Stadtansichten. Die Folgen des Atombombenabwurfs von Nagasaki dokumentiert Tomatsu mit zerstörten, verstrahlten, verschrumpelten Gesichtern und geschmolzenen, verformten Flaschen, die die Hitze nicht aushielten; am lakonischsten vielleicht das Bild eines Soldatenhelms, in dessen Innenseite noch Teile der Schädelknochen eingebrannt sind.

    Fast gleichzeitig aber zu dieser vorsichtigen Untersuchung bedient Tomatsu ein ganz anderes Idiom: Er verfolgt, nun weitaus dynamischer in der Perspektive, die Folgen der Amerikanisierung des Landes und setzt das wiederum in Kontrast mit dem alten, dem traditionellen Japan, das er in stillen Bildern festhält. Der Kulturkampf machte Tomatsus Generation heimatlos: Natürlich waren die amerikanischen Besatzer mit ihren Flugzeugen Gegner, die auch mal höhnisch den Stiefel gegen den Einheimischen, den Fotografen hoben. Andererseits brachte die Kapitalisierung einen Wirtschaftsboom, der das Land der Moderne öffnete. Für die einen war das Befreiung, sexuell und intellektuell, während die anderen das Zerbrechen von Sicherheit und Tradition beklagten.

    In diesem Widerspruch bewegt sich die virtuose Serie "Chewing Gum and Chocolate", die das Verhältnis zu den Amerikanern untersucht, immer in Schwarz-Weiß, aber mit stets wechselnden Kompositionstechniken, je nachdem, ob die faszinierende Schubkraft der US-Flugzeuge oder die verbrauchten Gesichter japanischer Prostituierter ins Bild gebracht werden sollen, die Narbenmuster auf dem Rücken eines Veteranen oder die Schwingen eines Straßenkreuzers.

    1964 fanden in Tokio die Olympischen Sommerspiele statt, 1970 gab es in Osaka eine Weltausstellung. Japan war innerhalb von 20 Jahren völlig umgekrempelt worden - neben Deutschland die Nation, die mit amerikanischer Nachhilfe über Nacht zur Wirtschaftsmacht wurde. Die Verunsicherung und der Zwiespalt, in den die nachwachsende Generation gegenüber den Vätern (und gegenüber den in Vietnam kriegführenden USA) geriet, äußerten sich auch in Japan in Studentenprotesten und jugendlicher Bohème. Tomatsu lebte und fotografierte Ende der 60er Jahre in Shinjuku, dem Tokioter Rotlicht- und Künstlerviertel, und seine halluzinierenden Bilder von Sex und auch innerem Aufruhr verhalten sich zu den Kirschblüten-Studien aus dem alten Japan wie die Undergroundlyrik der Beat Generation zu einem Haiku. Tomatsu fotografiert mikroskopiertes Plankton ebenso wie Tokio aus großer Höhe, er erforscht die Lichtspiegelungen über dem Meer, die Steine auf dem Flussgrund, die Ruhe der Natur in Südjapan. In den 90er Jahren wechselt er - allerdings weniger glückhaft - zur Farbfotografie, um die seltsame Zwiesprache von alten Kimonos und rostigen Industriecontainern vor hollywoodblauem Himmel auszureizen.

    "Haut einer Nation" heißt die Ausstellung. Auf Tomatsus Fotos sieht man zumeist die Haut von Gesichtern, verbrannte, delirierende, manchmal auch maskenhaft erstarrte, selten fröhliche Gesichter: Tomatsu ist der dunkle Kalligraph des japanischen Nachkriegsschocks. Dass nebenan, in der Fotostiftung Schweiz, gleichzeitig der famose konkrete Fotograf René Mächler zu sehen ist, ein Lichtspieler und -experimentator, wird kein Zufall sein. Auch das ehrt den strengen Formalisten Shomei Tomatsu.