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Befriedigend und befreiend

Mit seinem dezenten Witz hat Montagine im 16. Jahrhundert einen Text für unsere Zeit geschrieben. "Von der Erfahrung" ist ein wunderbares Vademecum, ein kleiner Schatz, der in jede Jackentasche passt.

Von Lewis Gropp | 14.12.2009
    Vordenker moderner Selbstreflektionen: Montaigne widmete sich vor allem der Erforschung seiner selbst.
    Vordenker moderner Selbstreflektionen: Montaigne widmete sich vor allem der Erforschung seiner selbst. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Das Schloss Montaigne liegt malerisch gelegen auf einer Anhöhe, 30 Kilometer östlich von Bordeaux, in der historischen Landschaft des Périgord. Hierhin zog sich Michel de Montaigne bereits im Alter von 38 Jahren zurück; seine Biografie verzeichnet nur wenige Stationen: das Studium der Rechtswissenschaften in Toulouse und Bordeaux, einige Abstecher nach Paris, die, auch schriftlich festgehaltene, Reise nach Deutschland und Italien, dann, im Jahr 1571 Rückzug auf Schloss Montaigne, das war's. Als der Schöpfer der Essayistik 1592 verstarb, hatte er die letzten 21 Jahre seines Lebens in erster Linie mit Lesen, Denken und Schreiben verbracht.

    Zwar unterhielt Montaigne beste Kontakte zu den französischen Königen Heinrich III. und Heinrich IV., und er pflegte Austausch und Freundschaften mit Intellektuellen wie Étienne de La Boétie oder der frühen Frauenrechtlerin und Philosophin Marie de Gournay. Doch in der Abgeschiedenheit seines ländlichen Anwesens beschäftigte er sich vor allem mit der Erforschung seiner selbst. Die zeitgenössische Philosophie, die bisherige Philosophie überhaupt schien ihm nicht in der Lage, die tatsächliche Befindlichkeit menschlicher Existenz widerzuspiegeln. Und so schuf Michel de Montaigne mit seinen Essays und der darin meisterlich entwickelten Kunst der Reflexion eine neue Philosophie und ein neues Bild vom Menschen. In sich ruhend und selbstbewusst, frei vom Furor der Auflehnung, streift er die überkommenen Ideen des späten Mittelalters ab; die Lehrmeinungen des orthodoxen Christentums zählten ihm nichts – er vertraute auf die Erkenntnisfähigkeit seiner Sinne und die Kraft der Erfahrung. Montaignes Schriften markieren den geistigen Aufbruch der Renaissance und des Humanismus.

    In seinem Film "Montaigne on Self-Esteem" beschreibt der englische Philosoph und Fernsehjournalist Alain de Botton Montaigne als einen Philosophen, der dem Leser über seine Schriften als "liebenswert" erscheint, ja, als "Freund". Dieser Eindruck entsteht tatsächlich bei der Lektüre seiner Schriften. Es mag an der Aufrichtigkeit des Tonfalls liegen, an der Klarheit der Gedanken, an der ungekünstelten Schönheit der Sprache, dass uns der Autor so nahe kommt. Oft scheint es, als ob das Geschriebene ein Gedanke ist, den man selbst schon immer gehabt hat, ohne ihn jedoch sprachlich ausformuliert zu haben.

    Montaigne denkt ohne Scheuklappen und folgt dabei stets seinen natürlichen Neigungen, nicht einem starren, vorgefertigten philosophischen System. Seine Essays sind an der Rhetorik und der Philosophie der Klassiker geschult, doch sein Denken bleibt immer einfach, direkt und klar, ja, geradezu 'urwüchsig'. Montaigne geht es stets um das menschliche Maß, um eine heiter gelassene Haltung gegenüber dem Lauf der Natur, gegenüber den Gesetzmäßigkeiten von Leben und Tod. Dabei betont er immer wieder, dass der Mensch den vitalen Kräften der Natur keine Zügel angelegen dürfe. Montaigne kennt den Zweifel, doch sein Weltbild ist robust und intakt.

    Deutsche Leser sind seit 1998 in der Lage, sich mit der kongenialen Übersetzung von Hans Stillet die Welt Montaignes zu erschließen. Es ist die erste moderne vollständige Übersetzung der Essays, damals erschienen in 'Der Anderen Bibliothek' bei Eichborn. Nach "Die Kunst sich im Gespräch zu verständigen" vom vergangenen Jahr hat jetzt der C.H. Beck Verlag Montaignes letzten Essay, "Von der Erfahrung", herausgegeben. Jürgen von Stackelberg, emeritierter Romanistik-Professor und Herausgeber des gut 100-seitigen Bandes, würdigt im Nachwort die Verdienste von Stillets Übersetzung, merkt jedoch an, dass dessen Ton "salopper" sei als der des Originals. Der neue Text, übersetzt von Helmut Knufmann, sei eine "brillante Ergänzung" zu Stillets bahnbrechendem Werk.

    Die Bemühung um mehr Akkuratesse merkt man der Übersetzung nicht an: der Text fließt in natürlichem Duktus sprachlicher Vollendung, der Essay wirkt in jeder Zeile frisch und kraftvoll. Die scheinbar mühelos eingestreuten Sinnsprüche sind in sich ruhende Aphorismen von simpler, schnörkelloser Schönheit.

    "Die Rede gehört zur Hälfte dem, der spricht, zur anderen Hälfte dem, der sie hört."

    "Wer sich vor dem Leiden fürchtet, der leidet bereits an seinen Befürchtungen."

    Die intellektuelle Strenge, der sinnenfeindliche Hochmut und die geistige Zerrüttung, die für viele abendländische philosophische Schriften so typisch ist, gibt es bei Montaigne nicht. Selbst die einfachen, alltäglichen Freuden sind für ihn profunder Ausdruck eines reifen, ausgeglichenen Seelenlebens. So schreibt er über den Begründer der abendländischen Philosophie voller Bewunderung:

    "An Sokrates ist nichts so bemerkenswert wie die Tatsache, dass er als alter Mann noch Unterricht im Tanzen und Musizieren nahm und die darauf verwendete Zeit für wohlgenutzt ansah."

    In seinem Essay "Von der Erfahrung" kreist Montaigne um das Jahrtausende alte Diktum des "Erkenne dich selbst". Eloquent ruft er den Leser dazu auf, seine Bestimmung zu erkennen und sich ihr hinzugeben."

    "Die Größe einer Seele besteht nicht so sehr darin, dass sie hoch hinaus und vorwärts drängt, wie darin, dass sie ihren Platz zu bestimmen und sich mit ihren Grenzen abzufinden weiß. Sie erachtet für groß genug, was immer ihr gemäß ist, und dass sie die mittleren Verhältnisse den herausragenden vorzieht, beweist ihren hohen Rang. Nichts ist so erfreulich und berechtigt wie eine wahrhaft menschliche und zugleich allen Pflichten genügenden Existenz und nichts so schwer zu erlernen, wie die Kunst, sein Leben ordentlich und naturgemäß zu leben, gibt es doch keine Krankheit, die schlimmer wäre als die Missachtung des eigenen Wesens."

    Montaignes Philosophie ist ein "Anti-Machiavelli", ein "Anti-Hobbes". Sein Universum wird nicht von einem Kampf aller gegen alle bestimmt. In seinen Schriften ist die Welt vielmehr ein harmoniefähiger Ort – sofern der Mensch bereit ist, seinen Platz zu finden und ihn auszufüllen.

    "Dass einer fähig ist, sich recht und billig seines Wesens zu freuen, zeugt von höchster und gleichsam göttlicher Reife. Wir trachten nach anderen Lebensumständen, nur weil wir die unseren nicht zu nützen verstehen, und streben aus uns heraus, weil wir nicht wissen, wozu wir berufen sind. Jedoch umsonst steigen wir auf Stelzen, denn auch auf Stelzen gehen wir noch mit unseren Beinen. Und auf dem erhabensten Thron der Welt sitzen wir immer nur auf unserem Hintern."

    Natürlich lässt sich trefflich darüber spekulieren, was es heißt, "ordnungsgemäß", "nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur" oder "seiner Bestimmung entsprechend" zu leben. Aber auch, wenn sich diese Fragen niemals abschließend klären lassen werden, so hat Montaignes Botschaft auch und gerade im 21. Jahrhundert Bestand. In einer Zeit, in der die neuen Medien es den Menschen ermöglichen, in virtuellen Realitäten immer neue Persönlichkeitsbilder zu entwerfen, in denen zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Vielzahl von Lebensmöglichkeiten bieten und in denen auch die persönlichen Beziehungen einem immer schneller getakteten Wechsel unterliegen, ist der Mensch mit einem Panoptikum an Selbstbildern konfrontiert. Möglichkeiten und Entscheidungsfreiheiten erscheinen bisweilen als eine Last. Wo ist mein Platz in dieser Welt, diese Frage treibt die Menschen in der globalisierten Welt um.

    Montaigne erklärt uns, dass alles, was wir zum Leben brauchen, bereits in uns angelegt ist – und dass es nur noch an uns liegt, das zu erkennen. Darum ist es so befriedigend und befreiend, "Von der Erfahrung" zu lesen. Michel de Montaigne war darüber hinaus auch das Alltägliche und Gewöhnliche nicht zu gemein, deswegen ist er auch nie langweilig, wenn er über das Gewöhnliche schreibt. Und so lehrt er uns, auch im Alltag, im Gewöhnlichen das Besondere zu entdecken und wert zu schätzen.

    Mit seinem dezenten Witz, der aus der für ihn typischen Geisteshaltung entsteht und der dem Text in nahezu jeder Zeile Tonus und Spannung verleiht, hat Montagine im 16. Jahrhundert einen Text für unsere Zeit geschrieben. "Von der Erfahrung" ist ein wunderbares Vademecum, ein kleiner Schatz, der in jede Jackentasche passt.

    Michel de Montaigne: Von der Erfahrung,
    C.H. Beck, 125 Seiten, 8,95 Euro