"Wir laden Sie ein an einen Ort der Forschung und der Begegnung zwischen Kunst und Wissenschaft, der in diesem Jahr der von der Akademie neu gegründeten Zentrum Preußen-Berlin gewidmet ist, das sich hiermit erstmals einer breiten Öffentlichkeit präsentiert."
Bereits am frühen Abend, als Akademie-Präsident Günter Stock den "Salon Sophie Charlotte" eröffnete, war der große Leibniz-Saal bis auf den letzten Platz gefüllt.
"Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ist die einzige wissenschaftliche Einrichtung der Bundesrepublik, die Forschungen zur preußischen Geschichte auf institutioneller Ebene betreibt. Dabei ist es der Akademie, die ihrerseits in der Tradition der preußischen Akademie der Wissenschaften steht und sich deren Vermächtnis auch verpflichtet fühlt, ein besonderes Anliegen. einem statischen, einseitig fokussierten Preußenbild entgegenzuwirken und in ihren diesbezüglichen Forschungsvorhaben vielmehr die Ambivalenz Preußens herauszuarbeiten und diese auch in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu rücken."
Auch fast 60 Jahre nach dem offiziellen Ende des preußischen Staates beschäftigt dieses einzigartige politische Phänomen einer quasi aus dem Nichts heraus entstandenen Großmacht die Wissenschaft ebenso wie die Öffentlichkeit. Doch nachdem jahrzehntelang das Interesse vor allem auf die Militärpräsenz in den preußischen Landen und Provinzen gerichtet war und die Unterdrückungsmechanismen des Staates und die angebliche Untertanenmentalität der Bevölkerung kritisch beleuchtet wurden, ist in den letzten Jahren immer mehr ein anderer Aspekt in den Vordergrund gerückt: der des "Kulturstaates".
"Wir bestreiten nicht, dass Preußen ein Militärstaat war, auch im 19. Jahrhundert. Aber vielleicht hat diese sehr einseitige Sicht dieses Staates, der sich bisher auch sehr einseitig gegeben hat, eben die Entwicklung auf ganz anderen Gebieten, vor allem im 19. und 20 Jahrhundert, verdeckt. Und wir wollen es entdecken."
Für Wolfgang Neugebauer, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Würzburg und einen der profundesten Preußen- Forscher ist die einseitige Sicht auf Preußen ein wenig auch das Produkt des Imponiergehabes, mit dem der kleine Außenseiterstaat die europäischen Nachbarländer beeindrucken wollte.
"Wir alle kennen die Karikaturen des 'Simplicissimus', der schnarrende Leutnant mit dem Monokel, das war die Außensicht. Aber Preußen hat sehr lange diese Außensicht auch gepflegt, und das, was (mit) Preußentum gemeint worden ist, war ja genau diese Komponente, man hat sich vielleicht etwas stärker gemacht, als man tatsächlich war, und man war deshalb sehr viel vielfältiger, als man nach außen es erscheinen ließ."
Dabei hatte, so Wolfgang Neugebauer, Preußen auch immer einen anderen Schwerpunkt, nämlich die Bildung seiner Einwohner und die Pflege einer eigenen Kultur.
"Der Begriff Kulturstaat stammt ja selbst aus der Zeit um 1800 und es war der preußische Philosoph Fichte, der diesen Begriff geprägt hat. Es war eben nicht mehr nur die Hochkultur, es war nicht mehr nur die repräsentative Kultur, sondern es zielte auf die Veredelung jedes einzelnen Menschen, der nun als autonomes Individuum begriffen worden ist. Und wir finden, dass dieser Kulturstaatsbegriff für uns heute ein interessantes analytisches Instrument und ein wissenschaftliches Programm ist."
Das Forschungsvorhaben "Preußen als Kulturstaat", das von Wolfgang Neugebauer geleitet wird, ist ein Teil des im vergangenen Jahr neu gegründeten Zentrums Preußen-Berlin. Hier sind außerdem die Vorhaben "Wilhelm von Humboldt Ausgabe- Schriften zur Sprachwissenschaft", die "Alexander von Humboldt Forschungsstelle", das "Projekt Berliner Klassik", die "Carl Philipp Moritz Gesamtausgabe" und die "Kritische Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Schleiermacher" zusammengeführt. Es gab also einiges zu entdecken für die Besucher von Sophie Charlottes langer Salonnacht.
Einiges Konzentrationsvermögen wurde den Besuchern bei der Lesung von Konrad Levezows klassizistischen Drama "Iphigenia in Aulis" abverlangt. Da ging es bei dem musikalisch umrahmten Vortrag über den prominenten Komponisten, Chorleiter und Kulturpolitiker, den Goethe- Freund Carl FriedrichZelter heiterer zu:
Während Studenten der Schauspielklasse der Universität der Künste den Paternoster des Gebäudes als Bühne für Improvisationen über Friedrich den II. und seine Hunde nutzten, im Leibniz -aal Briefe an und von Heinrich von Kleist vorgelesen, an wieder anderer Stelle Filme über Preußen gezeigt wurden und man sich im Foyer bei, was sonst,: Kartoffelsuppe und Buletten stärken konnte, wurden im Untergeschoss die Archivtüren aufgesperrt und die dort verborgenen Akademieschätze präsentiert.
Sogar dem wissenschaftlich interessierten Nachwuchs wurde etwas geboten: eine Einweisung in höfische Tanzkunst etwa oder eine Schulstunde in historischen Bänken mit ersten Versuchen an Schiefertafel und Sütterlin-Schrift, oder Geschichten aus der Zeit, als Friedrich der Große noch ein kleiner Junge war:
Ein mit großer Aufmerksamkeit erwarteter Programmpunkt war die Diskussion über preußische kulturelle Blütezeiten, in der der britische Autor Christopher Clark, der mit seiner Preußen-Monografie im letzten Jahr wochenlang die Beststeller-Listen anführte, über die Außenansicht des Staates reflektierte, wie sie sich für Großbritannien darstellte.
"Man sah in Preußen vor allen Dingen einen Staat, der sich als Träger einer bestimmten Kulturpolitik hervortat. Es war vor allem der Aktivismus des Staates, als Sponsor, als Mäzen, der ausschlaggebend war für die britischen Zeitgenossen. Ein Beispiel: der Verkauf an den preußischen Staat im Jahre 1892 für die ungeheure Summe von 750.000 Talern der William Solley Kunstsammlung. Diese fabelhafte Sammlung gehörte dem in Berlin wohnhaften Kunstsammler William Solley, ein Holzhändler, er hatte sie auch der englischen Regierung angeboten, sie hatte das Angebot aber abgelehnt aus finanziellen Gründen, das war damals die sogenannte Age of Economy. In London wurde natürlich dieser Kauf als Skandal empfunden als Beweis für die Kunstfeindlichkeit des englischen Staates, während in Berlin die Kunstschätze Europas systematisch gesammelt und in beispielhaften Gebäuden ausgestellt wurden, fehle es in England an einer Kunst, die in der Lage wäre, die Sitten und Gebräuche der Menschen durch Kunstanschauung zu heben und zu verfeinern."
Die Kulturnähe des preußischen Staates, so Clark, galt damals als exemplarisch und zukunftsweisend. Auch die schon sprichwörtliche religiöse Toleranz wurde genauestens beobachtet:
"Auch die preußische Theologie, das heißt die Theologie der protestantischen Fakultäten, faszinierte die gebildete britische Öffentlichkeit. Sie galt damals als führend in der ganzen protestantischen Welt. Die Universität Bonn, die preußische Universität Bonn, mit ihrem Nebeneinander von katholischer und protestantischer Theologie - schier undenkbar im damaligen Großbritannien - wurde bewundert und in England sogar nachgeahmt."
Preußen war, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumindest, für die Briten anscheinend einfach cool.
"Paris mag gewaltiger, Rom vielleicht geschichtsträchtiger gewesen sein, aber Berlin hatte für gebildete Briten eine zeitgenössische Relevanz, die man bei den anderen gemisst hat."
Den Historiker und Publizisten Gustav Seibt hingegen faszinierten am Kulturstaat Preußen vor allem die kreativen Möglichkeiten, der der Staat mit seinen kulturellen Institutionen eröffnet.
"In Preußen ist mit dem objektivierten Begriff des Staates auf der Bühne einer erstaunlich durchlässigen städtischen Gesellschaft, Berlins nämlich, etwas Neues entstanden, und das ist erstmal eine Struktur. Die Inhalte für diese Struktur sind ja größtenteils gar nicht preußisch. Die kommen ja teilweise aus Weimar, aus der protestantisch und literarisch geprägten Kulturblüte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, und da war Preußen so eine Art Katalysator."
Mittelpunkt dieser Strukturen war das 1816 gegründete Kultusministerium Unter den Linden 4, dass für heutige Vorstellungen eine ungeheure Bandbreite hatte.
"Ein Kultusministerium dieser Art, wie es sich Preußen 1817 geleistet hat, gab es so noch nicht, es ist eines der frühesten überhaupt. Es versteht sich von selbst, dass die Bildungspolitik im Kultusministerium verankert war, die Kirchenpolitik gehörte dazu, und die Kunstpolitik, die allerdings erst im Anfang begriffen war, und als viertes Standbein, was man nicht unbedingt vermute,: das Medizinalwesen, weil der Anspruch des preußischen Staates war, dass man dieses Ministerium für den Menschen einrichtet und der Mensch mit dritten Dingen glücklich werde, nämlich mit Bildung, dem Geist, also dem geistlichen, religiösen kirchlichen Element und mit der Gesundheit, dem leiblichen Wohl. Und das hat man in diesem Ministerium zusammengefasst","
sagt die Arbeitsstellenleiterin des Akademie-Projektes, Dr. Bärbel Holtz. Mit nur 40 Beamten, davon war die Hälfe auch noch als Türsteher und Schreiber beschäftigt, organisierte das Ministerium das Kulturleben nicht nur in Berlin, sondern bis in die entferntesten Provinzen.
""Zum Beispiel war das Kultusministerium ernsthaft bemüht, die Künstler der Moderne zu fördern, die ja sehr umstritten waren. Es gab ja öffentliche Diskussionen und Debatten, so dass diese Künstler abgesehen von ihrer finanziellen Situation auch zusätzlich öffentliche Anerkennung erfuhren, um eben in ihrem künstlerischen Schaffen weiter bestärkt zu werden."
Die Effizienz des Ministeriums, das im Mittelpunkt der ersten Forschungsphase steht, erklärt Bärbel Holtz damit, dass die Beamten keine Schreibtischtäter waren, sondern allesamt vom Fach, also Professoren, Lehrer, Kunstverständige.
"Es hat zum Beispiel eine exzellente Hochschulpolitik entwickelt unter dem Ministerialdirektor Friedrich Althoff am Ende des 19., Anfang des 20 Jahrhunderts, so dass man auch hier wieder sagen kann, Preußen hat modellhaft, beispielhaft gewirkt, um auch in anderen Bundesstaaten, denn der innerdeutsche Konkurrenzdruck ist hier nicht zu unterschätzen, etwas zu bewirken und in Gang zu bringen."
Kultur und Bildung: Das war in Preußen seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr nur Sache des Hofes. Immer stärker nahm sich auch das selbstbewusster werdende Bürgertum seiner Sache an. Und das nicht nur in Berlin. Wolfgang Neugebauer:
"Währenddessen im 17. und 18. Jahrhundert Kulturpolitik sehr residenz- und dynastiezentriert war, hat man doch schon seit den letzten Jahren des 18. und des ersten Jahren des 19. Jahrhunderts die ganze Bevölkerung, alle Schichten und Stände im Auge gehabt. Das meinen wir, wenn wir von 'Kultureller Daseinsvorsorge' sprechen. Ich gebe ein Beispiel: Preußen war - und das ist unstrittig - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Alphabetisierungsbewegung sogar Westeuropa eine ganze Generation voraus."
Die Wissenschaftler um Wolfgang Neugebauer und Bärbel Holtz gehen der Vermutung nach, dass diese Kultur- und Bildungsarbeit jedoch nicht nur von staatlichen Stellen aus gelenkt wurde.
Holtz: "Uns interessieren gleichermaßen Initiativen aus Vereinen, aus Berufsverbänden, aus Kommunen, aus anderen Kreisen, aus Parteien natürlich und den Parlamenten, die sich um eine Weiterentwicklung in der Kulturpolitik bemüht haben. Und hier ist für uns einfach wichtig festzustellen, wie haben Staat und Gesellschaft miteinander und vielleicht auch manchmal gegeneinander gewirkt, welcher Reforminitiative, welcher Reformversuch konnte sich warum durchsetzen, wo kam das Geld her, - wir wissen alle Kultur ist teuer, Kultur braucht Geld -, so dass wir dann letztendlich doch ein vollständiges Bild bekommen, wer an diesem Kulturstaat Preußen mitgewirkt hat, dass er dann so zustande gekommen ist wie wir ihn kennen, denn das war bei weitem nicht nur eine staatliche Leistung."
Neugebauer: "Wie wurde eigentlich die Entwicklung dieses Kulturstaats von den Menschen selbst wahrgenommen? Wurde sie angenommen, gab es dagegen vielleicht auch Widerstand und Resistenzen? Es gibt ja im preußischen Staat viele Landschaften, und es gab sehr viele Kulturen, die nicht vom Staat vorgeschrieben worden sind. Seit wann es eine einheitliche Staatskultur und ein staatseinheitliches Bewusstsein der Untertanen gegeben hat, das ist eine spannende Frage, und auch da stellen wir fest: viel später, als man gemeinhin meint."
Dass die staatlichen Stellen nicht immer nur segensreich für die Kultur gewirkt haben, soll ebenfalls genauer untersucht werden. Denn seit der Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress und der zunehmenden Restauration und Repression war das Kultusministerium auch für die Zensur zuständig.
"Man kann sagen, dass das Kultusministerium da in eine zwiespältige Position geraten ist. Es musste zum einen natürlich die Politik des Staates ausführen, dass heißt, es musste auch gegenüber den Universitäten, gegenüber den Professoren , den Gelehrten, den Lehrern eine polizeiliche Aufsichtspflicht ausüben, die in Gesinnungsschnüffelei und Verfolgung ausarten konnte. Aber wir haben auch in unseren Forschungen genauso viel Hinweise und Andeutungen gefunden, dass das Kultusministerium auch versucht hat, hier auszugleichen beziehungsweise manche Restriktion zurückzunehmen, immer soweit es ihnen als Staatsbehörde überhaupt möglich war."
Und auch das gehört zum differenzierten Blick auf Preußen dazu: Das preußische Staatengefüge war bei Weitem nicht so nationalistisch ausgerichtet, wie man vermuten könnte. So meinte Wolfgang Neugebauer auch in seinem Vortrag beim Salon "Sophie Charlotte":
"Ostpreußen war eine Landschaft, die aus zwölf verschiedenen ethnischen Gruppen bestand und zusammengehalten wurde. Über lange Zeit war Preußen ein drastischer Fall gerade für nicht nationale Staatsbildung von Effizienz und Kohärenz. Gerade das macht dieses Thema heute so aktuell und allgemein wissenschaftlich wichtig nicht nur für historische Forschung."
Über Preußen zu forschen, das bedeutet vor allem, sich durch die knapp 30 Kilometer Schriftsätze zu lesen, die im Geheimen Preußischen Staatsarchiv lagern und größtenteils erst nach der Wende wieder einsehbar sind. Jahrelang ist das versäumt worden. Das Urteil über Preußen schien gesprochen. Man darf gespannt sein, was dem Bild hinzuzufügen ist."
"Wir glauben aber auch im Ganzen, das Bild von Preußen zu verändern, Preußen wird vielfältiger, Preußen wird nicht demokratischer, aber es wird gesellschaftlicher, und wir sehen, die Entwicklung des preußischen Kulturstaates ist nicht nur ein administratives Problem, es ist ein gesellschaftliches Phänomen, oder besser gesagt: Man kann formulieren: Die Zivilgesellschaft, fand auch in Preußen statt."
Bereits am frühen Abend, als Akademie-Präsident Günter Stock den "Salon Sophie Charlotte" eröffnete, war der große Leibniz-Saal bis auf den letzten Platz gefüllt.
"Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ist die einzige wissenschaftliche Einrichtung der Bundesrepublik, die Forschungen zur preußischen Geschichte auf institutioneller Ebene betreibt. Dabei ist es der Akademie, die ihrerseits in der Tradition der preußischen Akademie der Wissenschaften steht und sich deren Vermächtnis auch verpflichtet fühlt, ein besonderes Anliegen. einem statischen, einseitig fokussierten Preußenbild entgegenzuwirken und in ihren diesbezüglichen Forschungsvorhaben vielmehr die Ambivalenz Preußens herauszuarbeiten und diese auch in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit zu rücken."
Auch fast 60 Jahre nach dem offiziellen Ende des preußischen Staates beschäftigt dieses einzigartige politische Phänomen einer quasi aus dem Nichts heraus entstandenen Großmacht die Wissenschaft ebenso wie die Öffentlichkeit. Doch nachdem jahrzehntelang das Interesse vor allem auf die Militärpräsenz in den preußischen Landen und Provinzen gerichtet war und die Unterdrückungsmechanismen des Staates und die angebliche Untertanenmentalität der Bevölkerung kritisch beleuchtet wurden, ist in den letzten Jahren immer mehr ein anderer Aspekt in den Vordergrund gerückt: der des "Kulturstaates".
"Wir bestreiten nicht, dass Preußen ein Militärstaat war, auch im 19. Jahrhundert. Aber vielleicht hat diese sehr einseitige Sicht dieses Staates, der sich bisher auch sehr einseitig gegeben hat, eben die Entwicklung auf ganz anderen Gebieten, vor allem im 19. und 20 Jahrhundert, verdeckt. Und wir wollen es entdecken."
Für Wolfgang Neugebauer, Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Würzburg und einen der profundesten Preußen- Forscher ist die einseitige Sicht auf Preußen ein wenig auch das Produkt des Imponiergehabes, mit dem der kleine Außenseiterstaat die europäischen Nachbarländer beeindrucken wollte.
"Wir alle kennen die Karikaturen des 'Simplicissimus', der schnarrende Leutnant mit dem Monokel, das war die Außensicht. Aber Preußen hat sehr lange diese Außensicht auch gepflegt, und das, was (mit) Preußentum gemeint worden ist, war ja genau diese Komponente, man hat sich vielleicht etwas stärker gemacht, als man tatsächlich war, und man war deshalb sehr viel vielfältiger, als man nach außen es erscheinen ließ."
Dabei hatte, so Wolfgang Neugebauer, Preußen auch immer einen anderen Schwerpunkt, nämlich die Bildung seiner Einwohner und die Pflege einer eigenen Kultur.
"Der Begriff Kulturstaat stammt ja selbst aus der Zeit um 1800 und es war der preußische Philosoph Fichte, der diesen Begriff geprägt hat. Es war eben nicht mehr nur die Hochkultur, es war nicht mehr nur die repräsentative Kultur, sondern es zielte auf die Veredelung jedes einzelnen Menschen, der nun als autonomes Individuum begriffen worden ist. Und wir finden, dass dieser Kulturstaatsbegriff für uns heute ein interessantes analytisches Instrument und ein wissenschaftliches Programm ist."
Das Forschungsvorhaben "Preußen als Kulturstaat", das von Wolfgang Neugebauer geleitet wird, ist ein Teil des im vergangenen Jahr neu gegründeten Zentrums Preußen-Berlin. Hier sind außerdem die Vorhaben "Wilhelm von Humboldt Ausgabe- Schriften zur Sprachwissenschaft", die "Alexander von Humboldt Forschungsstelle", das "Projekt Berliner Klassik", die "Carl Philipp Moritz Gesamtausgabe" und die "Kritische Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Schleiermacher" zusammengeführt. Es gab also einiges zu entdecken für die Besucher von Sophie Charlottes langer Salonnacht.
Einiges Konzentrationsvermögen wurde den Besuchern bei der Lesung von Konrad Levezows klassizistischen Drama "Iphigenia in Aulis" abverlangt. Da ging es bei dem musikalisch umrahmten Vortrag über den prominenten Komponisten, Chorleiter und Kulturpolitiker, den Goethe- Freund Carl FriedrichZelter heiterer zu:
Während Studenten der Schauspielklasse der Universität der Künste den Paternoster des Gebäudes als Bühne für Improvisationen über Friedrich den II. und seine Hunde nutzten, im Leibniz -aal Briefe an und von Heinrich von Kleist vorgelesen, an wieder anderer Stelle Filme über Preußen gezeigt wurden und man sich im Foyer bei, was sonst,: Kartoffelsuppe und Buletten stärken konnte, wurden im Untergeschoss die Archivtüren aufgesperrt und die dort verborgenen Akademieschätze präsentiert.
Sogar dem wissenschaftlich interessierten Nachwuchs wurde etwas geboten: eine Einweisung in höfische Tanzkunst etwa oder eine Schulstunde in historischen Bänken mit ersten Versuchen an Schiefertafel und Sütterlin-Schrift, oder Geschichten aus der Zeit, als Friedrich der Große noch ein kleiner Junge war:
Ein mit großer Aufmerksamkeit erwarteter Programmpunkt war die Diskussion über preußische kulturelle Blütezeiten, in der der britische Autor Christopher Clark, der mit seiner Preußen-Monografie im letzten Jahr wochenlang die Beststeller-Listen anführte, über die Außenansicht des Staates reflektierte, wie sie sich für Großbritannien darstellte.
"Man sah in Preußen vor allen Dingen einen Staat, der sich als Träger einer bestimmten Kulturpolitik hervortat. Es war vor allem der Aktivismus des Staates, als Sponsor, als Mäzen, der ausschlaggebend war für die britischen Zeitgenossen. Ein Beispiel: der Verkauf an den preußischen Staat im Jahre 1892 für die ungeheure Summe von 750.000 Talern der William Solley Kunstsammlung. Diese fabelhafte Sammlung gehörte dem in Berlin wohnhaften Kunstsammler William Solley, ein Holzhändler, er hatte sie auch der englischen Regierung angeboten, sie hatte das Angebot aber abgelehnt aus finanziellen Gründen, das war damals die sogenannte Age of Economy. In London wurde natürlich dieser Kauf als Skandal empfunden als Beweis für die Kunstfeindlichkeit des englischen Staates, während in Berlin die Kunstschätze Europas systematisch gesammelt und in beispielhaften Gebäuden ausgestellt wurden, fehle es in England an einer Kunst, die in der Lage wäre, die Sitten und Gebräuche der Menschen durch Kunstanschauung zu heben und zu verfeinern."
Die Kulturnähe des preußischen Staates, so Clark, galt damals als exemplarisch und zukunftsweisend. Auch die schon sprichwörtliche religiöse Toleranz wurde genauestens beobachtet:
"Auch die preußische Theologie, das heißt die Theologie der protestantischen Fakultäten, faszinierte die gebildete britische Öffentlichkeit. Sie galt damals als führend in der ganzen protestantischen Welt. Die Universität Bonn, die preußische Universität Bonn, mit ihrem Nebeneinander von katholischer und protestantischer Theologie - schier undenkbar im damaligen Großbritannien - wurde bewundert und in England sogar nachgeahmt."
Preußen war, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumindest, für die Briten anscheinend einfach cool.
"Paris mag gewaltiger, Rom vielleicht geschichtsträchtiger gewesen sein, aber Berlin hatte für gebildete Briten eine zeitgenössische Relevanz, die man bei den anderen gemisst hat."
Den Historiker und Publizisten Gustav Seibt hingegen faszinierten am Kulturstaat Preußen vor allem die kreativen Möglichkeiten, der der Staat mit seinen kulturellen Institutionen eröffnet.
"In Preußen ist mit dem objektivierten Begriff des Staates auf der Bühne einer erstaunlich durchlässigen städtischen Gesellschaft, Berlins nämlich, etwas Neues entstanden, und das ist erstmal eine Struktur. Die Inhalte für diese Struktur sind ja größtenteils gar nicht preußisch. Die kommen ja teilweise aus Weimar, aus der protestantisch und literarisch geprägten Kulturblüte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, und da war Preußen so eine Art Katalysator."
Mittelpunkt dieser Strukturen war das 1816 gegründete Kultusministerium Unter den Linden 4, dass für heutige Vorstellungen eine ungeheure Bandbreite hatte.
"Ein Kultusministerium dieser Art, wie es sich Preußen 1817 geleistet hat, gab es so noch nicht, es ist eines der frühesten überhaupt. Es versteht sich von selbst, dass die Bildungspolitik im Kultusministerium verankert war, die Kirchenpolitik gehörte dazu, und die Kunstpolitik, die allerdings erst im Anfang begriffen war, und als viertes Standbein, was man nicht unbedingt vermute,: das Medizinalwesen, weil der Anspruch des preußischen Staates war, dass man dieses Ministerium für den Menschen einrichtet und der Mensch mit dritten Dingen glücklich werde, nämlich mit Bildung, dem Geist, also dem geistlichen, religiösen kirchlichen Element und mit der Gesundheit, dem leiblichen Wohl. Und das hat man in diesem Ministerium zusammengefasst","
sagt die Arbeitsstellenleiterin des Akademie-Projektes, Dr. Bärbel Holtz. Mit nur 40 Beamten, davon war die Hälfe auch noch als Türsteher und Schreiber beschäftigt, organisierte das Ministerium das Kulturleben nicht nur in Berlin, sondern bis in die entferntesten Provinzen.
""Zum Beispiel war das Kultusministerium ernsthaft bemüht, die Künstler der Moderne zu fördern, die ja sehr umstritten waren. Es gab ja öffentliche Diskussionen und Debatten, so dass diese Künstler abgesehen von ihrer finanziellen Situation auch zusätzlich öffentliche Anerkennung erfuhren, um eben in ihrem künstlerischen Schaffen weiter bestärkt zu werden."
Die Effizienz des Ministeriums, das im Mittelpunkt der ersten Forschungsphase steht, erklärt Bärbel Holtz damit, dass die Beamten keine Schreibtischtäter waren, sondern allesamt vom Fach, also Professoren, Lehrer, Kunstverständige.
"Es hat zum Beispiel eine exzellente Hochschulpolitik entwickelt unter dem Ministerialdirektor Friedrich Althoff am Ende des 19., Anfang des 20 Jahrhunderts, so dass man auch hier wieder sagen kann, Preußen hat modellhaft, beispielhaft gewirkt, um auch in anderen Bundesstaaten, denn der innerdeutsche Konkurrenzdruck ist hier nicht zu unterschätzen, etwas zu bewirken und in Gang zu bringen."
Kultur und Bildung: Das war in Preußen seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr nur Sache des Hofes. Immer stärker nahm sich auch das selbstbewusster werdende Bürgertum seiner Sache an. Und das nicht nur in Berlin. Wolfgang Neugebauer:
"Währenddessen im 17. und 18. Jahrhundert Kulturpolitik sehr residenz- und dynastiezentriert war, hat man doch schon seit den letzten Jahren des 18. und des ersten Jahren des 19. Jahrhunderts die ganze Bevölkerung, alle Schichten und Stände im Auge gehabt. Das meinen wir, wenn wir von 'Kultureller Daseinsvorsorge' sprechen. Ich gebe ein Beispiel: Preußen war - und das ist unstrittig - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Alphabetisierungsbewegung sogar Westeuropa eine ganze Generation voraus."
Die Wissenschaftler um Wolfgang Neugebauer und Bärbel Holtz gehen der Vermutung nach, dass diese Kultur- und Bildungsarbeit jedoch nicht nur von staatlichen Stellen aus gelenkt wurde.
Holtz: "Uns interessieren gleichermaßen Initiativen aus Vereinen, aus Berufsverbänden, aus Kommunen, aus anderen Kreisen, aus Parteien natürlich und den Parlamenten, die sich um eine Weiterentwicklung in der Kulturpolitik bemüht haben. Und hier ist für uns einfach wichtig festzustellen, wie haben Staat und Gesellschaft miteinander und vielleicht auch manchmal gegeneinander gewirkt, welcher Reforminitiative, welcher Reformversuch konnte sich warum durchsetzen, wo kam das Geld her, - wir wissen alle Kultur ist teuer, Kultur braucht Geld -, so dass wir dann letztendlich doch ein vollständiges Bild bekommen, wer an diesem Kulturstaat Preußen mitgewirkt hat, dass er dann so zustande gekommen ist wie wir ihn kennen, denn das war bei weitem nicht nur eine staatliche Leistung."
Neugebauer: "Wie wurde eigentlich die Entwicklung dieses Kulturstaats von den Menschen selbst wahrgenommen? Wurde sie angenommen, gab es dagegen vielleicht auch Widerstand und Resistenzen? Es gibt ja im preußischen Staat viele Landschaften, und es gab sehr viele Kulturen, die nicht vom Staat vorgeschrieben worden sind. Seit wann es eine einheitliche Staatskultur und ein staatseinheitliches Bewusstsein der Untertanen gegeben hat, das ist eine spannende Frage, und auch da stellen wir fest: viel später, als man gemeinhin meint."
Dass die staatlichen Stellen nicht immer nur segensreich für die Kultur gewirkt haben, soll ebenfalls genauer untersucht werden. Denn seit der Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress und der zunehmenden Restauration und Repression war das Kultusministerium auch für die Zensur zuständig.
"Man kann sagen, dass das Kultusministerium da in eine zwiespältige Position geraten ist. Es musste zum einen natürlich die Politik des Staates ausführen, dass heißt, es musste auch gegenüber den Universitäten, gegenüber den Professoren , den Gelehrten, den Lehrern eine polizeiliche Aufsichtspflicht ausüben, die in Gesinnungsschnüffelei und Verfolgung ausarten konnte. Aber wir haben auch in unseren Forschungen genauso viel Hinweise und Andeutungen gefunden, dass das Kultusministerium auch versucht hat, hier auszugleichen beziehungsweise manche Restriktion zurückzunehmen, immer soweit es ihnen als Staatsbehörde überhaupt möglich war."
Und auch das gehört zum differenzierten Blick auf Preußen dazu: Das preußische Staatengefüge war bei Weitem nicht so nationalistisch ausgerichtet, wie man vermuten könnte. So meinte Wolfgang Neugebauer auch in seinem Vortrag beim Salon "Sophie Charlotte":
"Ostpreußen war eine Landschaft, die aus zwölf verschiedenen ethnischen Gruppen bestand und zusammengehalten wurde. Über lange Zeit war Preußen ein drastischer Fall gerade für nicht nationale Staatsbildung von Effizienz und Kohärenz. Gerade das macht dieses Thema heute so aktuell und allgemein wissenschaftlich wichtig nicht nur für historische Forschung."
Über Preußen zu forschen, das bedeutet vor allem, sich durch die knapp 30 Kilometer Schriftsätze zu lesen, die im Geheimen Preußischen Staatsarchiv lagern und größtenteils erst nach der Wende wieder einsehbar sind. Jahrelang ist das versäumt worden. Das Urteil über Preußen schien gesprochen. Man darf gespannt sein, was dem Bild hinzuzufügen ist."
"Wir glauben aber auch im Ganzen, das Bild von Preußen zu verändern, Preußen wird vielfältiger, Preußen wird nicht demokratischer, aber es wird gesellschaftlicher, und wir sehen, die Entwicklung des preußischen Kulturstaates ist nicht nur ein administratives Problem, es ist ein gesellschaftliches Phänomen, oder besser gesagt: Man kann formulieren: Die Zivilgesellschaft, fand auch in Preußen statt."