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Beginn eines neuen Bündnisses

Sowohl das britische als auch das russische Reich waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Grenzen ihrer imperialistischen Politik gestoßen. Infolgedessen kam es zur Verständigung über die jeweiligen Gebietsansprüche in Asien, die im Petersburger Vertrag schriftlich fixiert wurden.

Von Reiner Tosstorff | 31.08.2007
    "Nette Aussichten! Man kann also in Zukunft mit der französisch-russischen Allianz, der Entente Cordiale Englands und Frankreichs und der englisch-russischen Entente rechnen",

    schrieb Kaiser Wilhelm unter einen Bericht des deutschen Geschäftsträgers beim Zaren über den soeben abgeschlossenen Vertrag. Beide Länder waren darin übereingekommen,

    "beseelt von dem aufrichtigen Wunsch zu einer Verständigung über verschiedene Fragen zu gelangen, die die Interessen ihrer Länder auf dem asiatischen Kontinent berühren, Bedingungen zu vereinbaren, um jedweden Möglichkeiten von Missverständnissen zwischen Rußland und England vorzubeugen."

    Mit einem solchen Ausgleich hatte kein internationaler Beobachter rechnen können. Im Gegenteil. Bis dahin erwartete die Welt gerade in diesem Teil der Erde irgendwann einen blutigen Zusammenstoß. Wie der deutsche Historiker Ludwig Dehio im Jahre 1948 schrieb, war

    "der englisch-russische Gegensatz in der Welt fast ein Jahrhundert lang das überragende Hauptmotiv aller diplomatischen Beziehungen gewesen."

    Russland hatte sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts Zentralasien mit einer unverhohlenen Zielrichtung einverleibt: Der russische Bär wolle in den warmen Wassern des Indischen Ozeans baden, wie es damals in einer viel gebrauchten Metapher hieß. Waren also im nächsten Schritt Persien und Afghanistan an der Reihe? Damit aber wäre Indien bedroht, das "Juwel in der britischen Krone", die Basis des Empires und der britischen Vorherrschaft in der Welt.

    Doch nun legte man mit diesem Vertrag Einflusssphären und Interessenabgrenzungen für Persien, Afghanistan und Tibet fest. Russland verzichtete so darauf, unmittelbar an Britisch-Indien heranzurücken. Dabei waren übrigens die betroffenen Länder, wie es den Gepflogenheiten in der Hochzeit des Imperialismus entsprach, gar nicht erst gefragt worden. Entsprechend waren die Reaktionen dort. Der britische Gesandte in Teheran z. B. berichtete über seine Bemühungen, den Vertrag anzupreisen.

    "Es erscheint unmöglich, die Volksmeinung zu überzeugen."

    Die Auffassung herrsche vor,

    "dass da ein ganz fauler Handel abgeschlossen wurde."

    Die reine Friedenssehnsucht war es nicht gewesen, von der der Anstoß zu diesem Abkommen kam. Beide Reiche hatten zuvor blutig feststellen müssen, dass es für ihre imperialen Träume auch Grenzen gab: die Russen bei ihrer Niederlage gegen Japan im Jahre 1905, die zudem eine Revolution im Lande ausgelöst hatte, und die Briten angesichts des hartnäckigen Widerstands der Buren in Südafrika. Deshalb liefen in beiden Ländern imperialistische Vorwärtsstrategen gegen diesen Vertrag Sturm, sahen darin eine Kapitulation vor dem jeweiligen Konkurrenten. Doch blieben sie erfolglos. Und so konnte Dehio die Geschichte des englisch-russischen Gegensatzes bilanzieren:

    "Aber zu einem Weltkrieg im vollen Sinne hat er dennoch nicht geführt."

    Doch das wirklich Folgenreiche dieses Vertrags war die Verlagerung der internationalen Gegensätze. Der deutsche Geschäftsträger in der russischen Hauptstadt hatte auch gemeldet:

    "So kommt man leicht zu der Schlussfolgerung, dass die Bedeutung des englisch-russischen Abkommens nicht so sehr in Asien, sondern vielmehr in Europa liegt, wo sich seine Folge auf längere Zeit bemerkbar machen dürfte."

    Was Kaiser Wilhelm mit einem "richtig" unterstrich.

    In Deutschland vermutete man schnell hinter dem offiziellen Vertrag geheime Absichten.

    "England wurde zum Vertrage veranlasst nicht etwa durch die eingebildeten Gefahren in Asien, sondern durch das Wachsen einer drohenden Macht in Europa",

    hieß es in der konservativen Presse. Die Einkreisungsangst der führenden Schichten verstärkte sich, die man mit dem Aufbau einer gigantischen Flotte in den Jahren zuvor selbst in Gang gesetzt hatte. Deswegen hatte das britische Reich schon im Jahre 1904 die Verständigung mit Frankreich, die Entente cordiale, gesucht. Und Frankreich war bereits ein Jahrzehnt zuvor ein Bündnis mit Russland eingegangen. Nun entstand ein Dreierbund, die "Triple entente".

    Damit hatte Russland die Hände frei, um sich wieder verstärkt um den Balkan zu kümmern, wo es mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zusammenstieß. Jene Konstellation baute sich auf, die im Sommer 1914 zur Explosion führte. Zentralasien allerdings spielte dabei als Kriegsschauplatz keine Rolle. Dazu sollte es erst viele Jahre später wieder kommen.